corporAID: Aktuell krempeln Sie Ihre Organisation kräftig um. Wie sieht die UNIDO der Zukunft aus?

Müller: Nach innen und außen effizienter und wirksamer. Zugleich reagieren wir mit einer neuen Ausrichtung unserer inhaltli­chen Schwerpunkte – erneuerbare Energien, moderne Landwirtschaft, faire Lieferketten – auf die globalen Herausforderungen der heutigen Zeit. Unser Ziel ist es, die UNIDO als zentrale Plattform für den globalen Wissens- und Innovationstransfer im Bereich nachhaltige industrielle Entwicklung zu etablieren und noch stärker eine Brückenfunktion zwischen Industrie- und Entwicklungsländern einzunehmen. Dafür brauchen wir zukünftig vermehrt private Investoren. Und die frei­willige Unterstützung der Staaten: Bald eröffnen wir einige neue Büros, unter anderem in Argentinien.

Ist Österreich für die UNIDO vor allem eine Art Gastgeber – oder könnte das Land in der Zusammenarbeit auch eine aktivere Rolle spielen?

Müller: Die österreichische Regierung und Wirt­schaft sind wichtige Partner, aber sie könnten viel stärker mit uns zusammenar­beiten. Gerade die österreichischen Unternehmen gehören in puncto Qualität, Innovationskraft und Know-how zur Weltspitze, vor allem im Bereich der industriellen Produktion. Ich sehe viel Potenzial, mehr Win-win-Situationen zwischen österreichischen Unternehmen und Schwellen- und Entwicklungsländern zu schaffen. Die Türen der UNIDO stehen den österreichischen Firmen offen. Wir sind ein weltweites Netzwerk mit 48 Auslandsbüros und mehr als 1.000 Experten.

Wirtschaft und Entwicklung in Zeiten geopolitischer Umwälzungen: eine Bestandsaufnahme

Wirtschaft und Entwicklung: Neuordnung

Die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine sowie Chinas weltweit spürbarer Einflusszuwachs zwingen westliche Industrienationen zum Umdenken: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungsländern gewinnt an Bedeutung, auch multilaterale Akteure wie die Weltbank sollen gestärkt werden.
Ihr regionaler Schwerpunkt liegt auf Afrika. Was muss geschehen, damit wir in Europa unseren Nachbarkontinent verstärkt als Partner – und spannenden Markt – wahrnehmen?

Müller: Die letzten Jahrzehnte galt Asien als der Wachstumstreiber. Im Augenblick ändert sich diese Einschätzung und Bewertung jedoch. Es stehen bereits viele Unternehmen in afrikanischen Ländern Schlange – leider aber kaum europäische. Firmen aus China, Russland oder Saudi Arabien erkennen die Chancen. Klar ist: Afrika liegt vor der Haustüre Europas, hat die jüngste Bevölkerung der Welt, mit enormer Dynamik, mit Wachstumshunger, mit hochinnovativen Tech-Start-ups. In den nächsten 30 Jahren wird in Afrika so viel an Infrastruktur – Schulen, Krankenhäusern, Straßen, Brücken – entstehen wie in ganz Europa in den vergangenen 200 Jahren. Zugleich haben in Afrika 600 Millionen Menschen keinen Zugang zu Elektrizität. Und der Kontinent wächst um eine weitere Milliarde Menschen bis 2050. Das zeigt, was notwendig ist: Zugang zu Elektrizität und Energie für alle. Und zwar Energie, die bezahlbar ist und aus erneuerbaren Quellen stammt. Energie ist nicht nur die Grundlage für jegliche Entwicklung, sondern zugleich der Schlüssel zu globalem Klimaschutz. Dazu bedarf es eines neuen, eines globalen Green Deal – denn der EU-Green Deal blendet das aus, ist nur nach innen gerichtet. 

Die Energiewende wird nicht in unseren Heizungskellern entschieden, sondern in Afrika oder Indien. 

Müller: Das ist genau der Punkt. Das Klima ist nicht national. Wir erreichen das 1,5 oder 2 Grad-Ziel nur, indem wir Technologien und Investitionen in den Aufbau nachhaltiger Energiestrukturen in die Wachstumsregionen der Welt – Afrika, Indien, Lateinamerika und auch China – bringen. Zurzeit werden weltweit 450 Kohlekraftwerke geplant und gebaut, um den Energiehunger zu stillen, allein in Afrika 250. Wir müssen also verstehen, dass wir in Afrikas Entwicklung, insbesondere im Energiesektor, investieren müssen. Afrika ist der Kontinent der Sonne, des Wassers, Afrika kann der Kontinent der grünen Energie werden, nicht der schwarzen Kohle. Die Technologien sind schließlich vorhanden, zum Ausbau der erneuerbaren Energien, zur Stärkung der Energieeffizienz, zum Aufbau einer grünen Wasserstoffproduktion.

Grüner Wasserstoff „Made in Africa“ könnte ein Game Changer sein. Noch gibt es keinen richtigen Markt. Wäre hier nicht ein Akteur wie die UNIDO gefragt, um globale Ordnungspolitik zu betreiben?

Müller: Das ist genau unsere Rolle. Bei der Klimakonferenz in Sharm-el-Sheikh im Vorjahr haben wir die Sekretariatsfunktion eines globalen Wasserstoffforums übernommen. Diese Rolle werden wir bei der COP 28 in Dubai Ende 2023 weiterentwickeln. Ziel ist, einen weltweiten Rahmen für die Produktion und den Handel von und mit grünem Wasserstoff zu setzen. Zudem helfen wir beim Aufbau von Wasserstoff-Clustern, also Industriegebieten, in denen mehrere Teile der Wertschöpfungskette abgedeckt werden. Die afrikanischen Länder haben ein gewaltiges Potenzial für erneuerbare Energien und die Produktion von grünem Wasserstoff. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass es in erster Linie um Energieversorgung für Afrika geht. Und erst in zweiter Linie wird sich die Frage stellen: Wie können die afrikanischen Staaten Energie in europäische Länder exportieren? 

Energie ist der Schlüssel zu globalem Klimaschutz. Dazu bedarf es eines neuen, eines globalen Green Deal.

Ihr wichtigstes Vorhaben als deutscher Entwicklungsminister war das Lieferkettengesetz. Nun planen Sie dieses auf die globale Ebene zu übertragen. Wie gehen Sie das an?

Müller: Der globale Handel ist das Band zwischen Arm und Reich, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Es läuft kein Band bei Audi oder Daimler ohne die Rohstoffe aus Entwicklungsländern. Das bedeutet, dass wir auch Verantwortung tragen – denn am Anfang jeder Lieferkette steht ein Mensch. Um zu fairen globalen Lieferketten zu kommen, hat das deutsche Lieferkettengesetz den wichtigen Aufschlag gegeben. Dem folgt jetzt die EU: Wir sind in der Endphase mit einem europäischen Rahmengesetz. Und ich bin in sehr fruchtbaren Gesprächen mit der Chefin der Welthandelsorganisation, einen weltweiten Rahmen zu setzen, um ökologische und soziale Mindeststandards wie das Verbot von Kinder- oder Zwangsarbeit einzuhalten.

Wer hilft den kleinen Unternehmen in Entwicklungsländern, die entsprechenden Anforderungen zu erfüllen und Zertifikate einzuholen?

Müller: Eine Kernaufgabe der UNIDO ist, Partnerländer bei der Zertifizierung und Umsetzung von Standards zu unterstützen. Das machen wir in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation und anderen. Auch die EU sollte begleitende Unterstützungsangebote entwickeln, um nachhaltige Produktion in Entwicklungsländern zu fördern. Es ist zudem notwendig, dass internationale Konzerne vorangehen – und wir gemeinsam, vom Erzeuger bis zum Verbraucher, diese Ketten fair entwickeln. Wer heute sagt, das sei nicht möglich, der sagt „Ja“ zu Ausbeutung und Kinderarbeit. 

In Ihrem Buch „Umdenken“ fordern Sie einen optimistischen Zugang zu globaler Entwicklung. Liegt der Fokus der Entwicklungszusammenarbeit zu sehr auf Krisen und zu wenig auf Chancen, die engere Partnerschaften für beide Seiten bedeuten?

Müller: Genau so sehe ich das. Vor 20 Jahren sollten wir wegen des Ozonlochs nicht mehr in die Sonne gehen. Was war die Antwort? Wir haben nicht die Kühlschränke verboten, sondern einen Ersatz für FCKW gefunden. Und mit dem Montreal-Protokoll einen internationalen Mechanismus für Solidarfinanzierung, um auch den ärmeren Ländern diesen Technologieumstieg zu finanzieren. Ich bin fest überzeugt, dass wir nicht jeden Tag über Hungerkatastrophen und den Klimawandel reden müssen. Wir haben das Wissen und die Technologien, eine Welt ohne Hunger zu schaffen und wir können den Klimawandel bekämpfen. Wir müssen nur entschieden handeln, jetzt, im globalen Miteinander. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Gerd-Müller-Interview
Gerd Müller im corporAID Interview

Gerd Müller ist seit 2021 Generaldirektor der UNIDO. Als deutscher Entwicklungsminister von 2013 bis 2021 setzte sich der CSU-Politiker für faire Lieferketten und eine verstärkte Kooperation mit Afrika ein. So initiierte er den „Marshallplan mit Afrika“ zur Investitionsförderung und zum Abbau von Handelshemmnissen.

 

Fotos: Sebastian Klaus