Gerd Müller krempelt gerne die Ärmel hoch – das kennt man von vielen Fotos seiner ausgiebigen Afrikareisen aus seiner Zeit als deutscher Entwicklungsminister (2013-2021). Als solcher leitete der Bayer den nach der EU größten europäischen Geber im Entwicklungsbereich. Und Müller krempelt offensichtlich auch gerne um. So hört es sich zumindest an, wenn er von der angestrebten Reorganisation der in Wien ansässigen Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO) spricht, der er seit Ende des vorigen Jahres als Generaldirektor vorsteht. In dieser Funktion folgt er als erster Vertreter eines Industrielandes überhaupt dem Chinesen Li Yong nach.

Mit dem Ziel, die UNIDO effizienter zu machen, will er ihren Kritikern entgegentreten. „Wir sind effizient, wirksam und eine moderne UN-Organisation“, betonte er kürzlich.

UNIDO in Zahlen

Fans und Zweifler

Unter den Geldgebern für die UNIDO-Projekte stechen vor allem Japan und die Schweiz heraus. Andere große Namen, allen voran die USA, sind hingegen aus der Organisation ausgetreten.

Unido Grafik

UNIDO-Schwerpunkte im Wandel

Mit teilweise grundlegender Kritik hat die UNIDO seit den 1990er Jahren zu kämpfen. Dabei war man sich Mitte der 1960er Jahre, als sie gegründet wurde, noch sehr einig, dass eine internationale Organisation vonnöten ist, die die unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialstaaten bei der Schaffung von Industrien und Arbeitsplätzen unterstützt. Heute, 56 Jahre später, begreift die Organisation ihren obersten Auftrag als Förderung von nachhaltiger industrieller Entwicklung in Schwellen- und Entwicklungsländern.

Die Methodik sowie die Sektoren, die adressiert werden, haben sich im Laufe der Jahrzehnte deutlich gewandelt. Während es in den 1960er und 1970er Jahren im Sinne der damals dominanten Modernisierungstheorie vor allem darum ging, Schwerindustrien nach westlichem Vorbild zu schaffen, setzt die Organisation heute eher auf die Optimierung der lokalen Wertschöpfung der Entwicklungsländer. Schwerpunkte liegen nun etwa bei Projekten im Ernährungs- und Lebensmittelbereich oder in arbeitsintensiven Industrien wie dem Textilsektor. Die Unterstützung der industriellen Transformation hin zu nachhaltiger Produktion, vor allem im Energiebereich, steht ebenfalls ganz oben auf der Agenda. Daneben zielt die Organisation heute viel stärker darauf, technische Kapazitäten vor Ort aufzubauen und nicht mehr nur mit Regierungen, sondern auch mit dem Privatsektor zusammenzuarbeiten und Handelsstandards zu verbessern.

„Wäre die UNIDO damals nicht gegründet worden, müsste man es heute machen“, sagte Gerd Müller kürzlich, nannte die Ernährungssicherheit, den Klimaschutz und die Schaffung von Jobs als die drei Hauptherausforderungen für seine Organisation und definierte diese als „Plattform für Technologie, Wissenstransfer und Investitionspartnerschaften zwischen Industrieländern und Schwellen- und Entwicklungsländern“.

Laut Werner Raza, Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung ÖFSE und langjähriger Beobachter der UNIDO, versucht der neue Generaldirektor „die Linien der globalen Ökonomie nachzuzeichnen und strategisch Anschlusspunkte für die UNIDO herzustellen“. Der Kern der Organisation werde aber weiter im Bereich der technischen Beratung und Sektorentwicklung liegen, unter Berücksichtigung der neuen Umwelt- und Klimaagenden.

Daheim in Wien: Amtssitz der UNIDO in der UNO-City

UNIDO-Mittel sind begrenzt

Nicht unbedingt leicht tut sich die UNIDO aber, wenn es um die Finanzierung der eigenen Pläne geht. Während sich das reguläre Budget, das fast ausschließlich die Selbstkosten deckt, aus Beiträgen der Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft speist, müssen die Projektmittel zusätzlich eingeworben werden. Dabei lag das Verhältnis zwischen den beiden Töpfen im Vorjahr bei 85 Mio. gegenüber 170 Mio. Euro.

„Über Zu- oder Absagen zur Projektförderung beeinflussen die Mitgliedstaaten die Programmatik entscheidend mit. Entsprechend sind die strategischen Spielräume für die UNIDO begrenzt“, sagt Raza. Um das Werkl am Laufen zu halten, müssten ständig neue Programme und Projekte akquiriert werden. Daher habe die UNIDO auch weniger als 700 Dauerbeschäftigte, arbeite aber über Werkverträge mit mehreren tausend Konsulenten zusammen, erklärt Raza. 

Laut eigenen Angaben implementierte die UNIDO im Vorjahr Projekte in 121 Ländern. Der regionale Schwerpunkt liegt auf Afrika, was die Höhe der Projektmittel sowie die Anzahl an lokalen Büros angeht. Die Liste der Geldgeber für die Projekte führen der Umweltfonds Global Environment Facility (45,9 Mio. US-Dollar im Jahr 2021) und die Europäische Union (39,3 Mio. Dollar) an. Auf der Länderebene trägt mit großem Abstand Japan am meisten bei, gefolgt von der Schweiz und Italien. Das hohe japanische Commitment ist laut Raza industriegeschichtlich zu erklären. „Japan hat selbst über eine sehr rasche nachholende industrielle Entwicklung den Aufstieg in den Status eines fortgeschrittenen industriellen Staates geschafft. Daher gibt es in Japan auch in der politischen Elite – und damit sowohl im Bereich der Wirtschafts- als auch Entwicklungs- und Außenpolitik – ein starkes Commitment zu Industriepolitik“, so Raza. Österreich, immerhin Sitzstaat der UNIDO, setzt hier keine speziellen Schwerpunkte. Knapp eine Million Euro betrug der heimische Programmbeitrag zuletzt. 

Großprojekt: Planungen für einen Industriepark in Äthiopien

Vielerlei Ansätze

Florian Iwinjak ist seit mehr als einem Jahrzehnt für die UNIDO tätig und arbeitet aktuell dem neuen Generaldirektor zu. Nach den Stärken der UNIDO gefragt, betont er den Ausbau agro-industrieller Wertschöpfungsketten, die Steigerung von Ressourceneffizienz und Qualitätssicherung in der Produktion sowie die Länderprogramme (PCP), mit denen in elf Ländern – von Kambodscha über Sambia bis Kirgisistan – Sektoren mit hohen Wachstumspotenzialen gefördert werden. „Die ersten PCP haben wir 2013 in Äthiopien und im Senegal ins Leben gerufen. So haben wir etwa in Äthiopien Wachstumskorridore in der Lederindustrie mitaufgebaut, deren Zentrum Öko-Agro-Industrieparks waren. Diese haben hohes Potenzial zur Schaffung von Wertschöpfung, Jobs und Einkommen – und das auf umweltschonende Weise aufgrund der eigenen Kläranlagen und neuer Technologien. Wir bauen dort zweifellos an der Zukunft“, so Iwinjak.

Weitere aktuelle UNIDO-Projekte drehen sich beispielsweise um die Ausbildung von Kraftfahrern in Marokko, die technische Unterstützung von Kleinbauern in Ägypten oder um die Verbesserung der Infrastruktur für Fischer im Südsudan. Von Deutschland und Österreich unterstützt, hat die UNIDO zudem kürzlich ein global ausgerichtetes Programm für den industriellen Einsatz von grünem Wasserstoff gestartet – ein Thema, das Gerd Müller besonders wichtig ist.

Werner Raza zufolge war die UNIDO trotz des Finanzdrucks in den vergangenen Jahren erfolgreich darin, relevante technische Expertise aufzubauen. „Wenn ich etwas über die äthiopische Leder- oder die ägyptische Textilindustrie wissen möchte, rufe ich bei der UNIDO in Addis Abeba oder Kairo an“, sagt er.

Unido Textilindustrie in Ägypten
Viel Expertise: UNIDO unterstützt die Textilindustrie in Ägypten

UNIDO will prominente Aussteiger zurück ins Boot holen

Nichtsdestotrotz ist die UNIDO die Organisation der Weltgemeinschaft mit den prominentesten Nichtmitgliedern. Die USA sind bereits 1996, Großbritannien 2012 ausgetreten. Auch Frankreich (2014), Australien (1997), Kanada (1993), Portugal (2014), Belgien (2015) oder Dänemark (2016) haben der UNIDO, die aktuell 170 Mitgliedstaaten hat, den Rücken gekehrt. Neben mangelnder Effizienz – Stichwort Value for Money – gab zumeist die geringe Überschneidung der UNIDO-Agenda mit den eigenen Entwicklungsstrategien den Ausschlag für den Austritt. Industrieentwicklung durch interventionistische Wirtschaftspolitik wird vor allem von den anglophonen Abtrünnigen abgelehnt. Und tatsächlich vermittelte die Organisation in den vergangenen 30 Jahren mitunter den Eindruck, ihre Rolle und Aufgabe in einer neuen Weltordnung zu suchen.

Insbesondere der Austritt der USA war ein schwerer Rückschlag für die Organisation, die daraufhin Jahre lang ums Überleben kämpfte – das geschrumpfte Budget führte unter anderem dazu, dass etwa die Hälfte der Belegschaft abgebaut werden musste. Der neue Generaldirektor hat bereits angekündigt, die ausgetretenen Staaten für die UNIDO zurückgewinnen zu wollen. Werner Raza hält das jedoch für eher unrealistisch: „Die Amerikaner werden nicht zurückkehren, denn die Organisation entspricht grundsätzlich nicht mehr ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik in der Entwicklungszusammenarbeit“, sagt Raza. Müllers Kandidatur wurde von der Europäischen Union dezidiert unterstützt, nun hoffen manche in der UNIDO, dass es ihm gelingen könnte, zumindest Frankreich wieder von der Mitgliedschaft zu überzeugen.

Chefsache: Gerd Müller mit seinem Vorgänger Li Yong

UNIDO-Chef als Impulsgeber und Vermittler

Dass Müller mit viel Emphase die Relevanz der Organisation preisen kann, ist unbestritten. Das dürfte dem UNIDO-Generaldirektor in seiner Rolle als Repräsentant und Vermittler zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten zugute kommen. „Müller kann versuchen, Initiativen zu setzen und die Mitgliedstaaten auf neue Schwerpunkte hinzuweisen. Seine Möglichkeiten, große Veränderungen in den strategischen Ausrichtungen vorzunehmen, sind jedoch begrenzt. Er muss immer Kompromisse suchen und unterschiedliche Interessen austarieren“, sagt Raza.

Laut Iwinjak sind die ersten Ergebnisse der großen Umstrukturierung aber vielversprechend. Der neue Generaldirektor und sein Stab hätten viele Gespräche mit den Mitgliedstaaten geführt und die Ergebnisse in die Reorganisation einbezogen. Und die ersten Dienstreisen mit dem neuen Chef hätten gezeigt, dass es ihm gelinge, „die Menschen vom Wert der UNIDO zu überzeugen“.

Allen Unkenrufen zum Trotz ist auch Werner Raza von der Bedeutung der Organisation überzeugt: „Ich bin nach wie vor der Meinung, dass industrielle Entwicklung ein wichtiger Bestandteil jeder Wirtschafts- und Entwicklungsstrategie sein muss“, sagt er. Seit etwa zehn Jahren gebe es eine „industriepolitische Renaissance, was die Zielsetzungen und Strategien vieler Entwicklungsländer angeht. Und dafür brauchen sie Unterstützung. Eine UN-Agentur, die beratend und mit technischer Expertise diese Unterstützung anbietet und gleichzeitig innovativ auf die Herausforderungen der Zeit eingeht, wird es brauchen“, so Raza.

Fotos: UNIDO, IMF, Kate Prokofieff,  WTV/Popp&Hackner