Kamele
Mehr als Lastenträger: Menschen nutzen auch Fleisch, Milch und Fell der Kamele.

Europäer haben eher selten die Gelegenheit, Kamelen zu begegnen, und wenn doch, dann müssen sie dazu meist in den Flieger steigen. Ob vor den Pyramiden Ägyptens, in den Dünenlandschaften der Kanarischen Inseln oder den Wüsten Marokkos: Erlebnishungrige Urlauber erklimmen jedenfalls recht gern die skurril anmutenden Tiere, um ein paar Meter zu reiten und dabei Fotos zu schießen. Doch auch in Österreich sind Begegnungen zwischen Mensch und Kamel möglich, beispielsweise im steirischen Ratschendorf, wo 20 Kamele und Dromedare ein Zuhause gefunden haben, oder im niederösterreichischen Kernhof, wo acht Kamele sogar auf der Bühne ihres eigenen Theaters stehen.

Im kommenden Jahr dürfen die faszinierenden Tiere mit mehr Rampenlicht rechnen, da die Vereinten Nationen 2024 zum „Internationalen Jahr der Kameliden“ erklärt haben. Im Weltmuseum in Wien wird beispielsweise ab Februar 2024 die Ausstellung „Auf dem Rücken der Kamele“ aufzeigen, dass diese weit mehr sind als nur Wüstenschiffe und Touristengondeln: Millionen Menschen in 90 Ländern leben mit und von diesen „Helden der Wüsten und Hochgebirge“. 

 

Who‘s Who

Doch was sind Kameliden überhaupt? Kurz gesagt handelt es sich um pflanzenfressende Säugetiere, die zur Ordnung der Paarzeher und der Unterordnung der Schwielensohler zählen. Kameliden lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Großkamele und Kleinkamele. Erstere umfassen die groß gewachsenen Altweltkamele, zu denen das einhöckrige Dromedar und das doppelbucklige Trampeltier gehören. Die zweite Gruppe bilden die Neuweltkameliden. Diese sind graziler und höckerlos, zu ihnen zählen Lamas, Alpakas, Vikunjas und Guanakos.

Die Geschichte von Mensch und Kamelid ist eng miteinander verknüpft, wie tausende Jahre alte Felsenzeichnungen in Saudi-Arabien belegen. Das einhöckrige Dromedar, wohl das Urbild des klassischen Kamels, ist legendär für seine Fähigkeit, selbst bei großer Hitze wochenlang ohne Wasserzufuhr zu überleben. Beduinen nutzen Kamele daher seit Jahrhunderten als Lasttiere und Transportmittel für Reisen durch die Wüste.

Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO zufolge gibt es heute rund 38 Millionen Exemplare, damit bilden sie die meist verbreitete Kamelidenart. Dromedare sind vor allem rund um das Horn von Afrika verbreitet, in Somalia, im Sudan, in Kenia und Äthiopien. „Kamelland Nummer eins ist heute der Tschad mit schätzungsweise neun Millionen Dromedaren“, meint der renommierte französische Kamelexperte Bernard Faye, der die Tiere seit mehr als 40 Jahren erforscht.

 

Interview mit Bernard Faye, international tätiger Kamelexperte

Bernard Faye

Kamele werden wichtiger

Kamelexperte Bernard Faye erwartet, dass die Haltung von Kamelen angesichts des Klimawandels zunehmen wird. Europäer werden aber vorerst kaum Kamelmilch trinken.

Dromedare sind auch von Westanatolien bis Nordindien zu finden – und ganz am anderen Ende der Welt: Im 19. Jahrhundert wurden sie sogar nach Australien verschifft, um bei der Erschließung des Hinterlands und beim Eisenbahnbau zu helfen. Später wurden etliche Tiere im Outback ausgesetzt, wo sie sich unbehelligt auf bis heute mehrere hunderttausend Exemplare vermehren konnten und als Plage gelten.

Doppelbuckel und Zottelfell

Vom stämmigen und zotteligen Trampeltier (auch „baktrisches Kamel“ genannt) gibt es laut Faye heute vielleicht eine Million, die vorwiegend in den Wüsten und Steppen Zentralasiens, Westchinas und der Mongolei leben. Dank ihrer außergewöhnlichen Kraft und Ausdauer können Trampeltiere über Wochen hinweg Lasten von bis zu 300 Kilogramm schleppen. Über Jahrhunderte dienten sie als Transportmittel für kostbare Waren entlang der Seidenstraße, die sich von China bis nach Europa erstreckte. Kaum bekannt ist das zweihöckrige Wildkamel, von dem vermutlich nur noch wenige hundert Tiere in der Wüste Gobi zuhause sind. Kleinkamele sind hingegen vor allem in Südamerika zu finden, insbesondere in den Andenstaaten Bolivien und Peru. Weltweit soll es etwa neun Millionen Lamas, Alpakas, Guanakos und Vikunjas geben.

Alpaka
Das Alpaka ist eine aus den südamerikanischen Anden stammende, domestizierte Kamelform, die vorwiegend ihrer Wolle wegen gezüchtet wird.

Kamele im Kommen

Kamele scheinen ein Relikt vergangener Zeiten zu sein. Doch mit Ausnahme von Indien, wo sich die Kamelpopulation merklich verringert, nimmt die Zahl der Großkamele seit Jahrzehnten zu. Allein in den Sahelländern hat sich ihre Anzahl seit den 1960er Jahren verfünffacht, laut Faye steht dies vor allem im Zusammenhang mit Dürren: Angesichts des fortschreitenden Klimawandels könnten Kamele eine zunehmend wichtige Rolle für eine „klimasmarte Landwirtschaft“ spielen. Denn sie sind bestens an trockene und aride Umgebungen angepasst, und können, anders als beispielsweise Rinder, längere Zeit ohne Wasser auskommen und dennoch Milch geben. Sie brauchen kein Weideland, weil sie eine Vielzahl von Pflanzen fressen. Und sie sind kommerziell vielfältig nutzbar, sind quasi die „eierlegende Wollmilchsau der Wüste“.

Großkamele
Die Zahl der Großkamele hat sich seit den 1960ern – schätzungsweise – verdreifacht.

Traditionell verwenden Nomaden ihren getrockneten Dung als Brennmaterial, ihren Urin zur Wundreinigung und für andere medizinische Zwecke und das Fett aus ihren Höckern zum Kochen. In Kasachstan etwa diente das Schulterblatt eines Kamels in früheren Zeiten als Schreibtafel oder gereinigter Kamelbauch als eine Art Fensterscheibe. Abgesehen von diesen eher kuriosen und anekdotischen Einsatzmöglichkeiten bietet das Kamel Rohstoffe mit hoher Wertschöpfung: Die Wolle der Trampeltiere bewährt sich für hochwertige Hauben, Mäntel oder Bettwaren, da sie hautfreundlich, temperaturregulierend und strapazierfähig ist. „Vor allem in der Mongolei, in China und in Kasachstan setzt man vermehrt auf Trampeltiere, da sich ihre Wolle gut valorisieren lässt. Diese Länder verarbeiten sie in eigenen Fabriken und beliefern speziell den Luxussektor“, so Faye. Auch in den Andenstaaten werden Kleinkamele, vor allem das Alpaka, vorwiegend wegen ihrer Wolle gehalten.

Zudem werden Kamelhäute zu Gürteln, Taschen, Sandalen oder auch zu Sitzbezügen verarbeitet. „Das Hauptproblem bei der Ledergewinnung ist der Höcker, der das Schneiden des Leders erschwert. Doch dank technischer Fortschritte ist es heute möglich, auch vom Rücken qualitativ hochwertiges Leder zu gewinnen“, erklärt Faye.

Wachstumsmarkt Kamelmilch

Vor etwa zwanzig Jahren gelangte Kamelmilch, der zahlreiche gesundheitsfördernde Effekte nachgesagt werden, in den Handel. Vor dieser Zeit existierte kein formeller Markt, da die Milch meist nur von den Kamelbesitzern händisch gemolken und roh konsumiert wurde.

Weltweit hat sich die offizielle Produktion von Kamelmilch von 0,63 Mio. Tonnen in den 1960ern auf 3,15 Mio. Tonnen im Jahr 2020 verfünffacht, wie eine im Fachjournal Animal Frontiers veröffentlichte Studie aufzeigt. Die tatsächlichen Mengen dürften mindestens doppelt so hoch sein. Das Kamel gilt jedenfalls als fünftwichtigstes Milchtier, auch wenn es weniger als ein Prozent zum globalen Milchkonsum beisteuert.

Seit einem Jahrzehnt ist der europäische Markt für das „weiße Gold aus der Wüste“ geöffnet, jedoch nur, wenn es aus den Vereinigten Arabischen Emiraten stammt. Dort hat sich eine moderne Milchindustrie, ausgestattet mit Melkmaschinen und Pasteurisierungsanlagen, entwickelt.

Kamelmilch
Das Beduinengetränk gibt's auch im Supermarkt.

Auch in Saudi-Arabien und Kasachstan ist die industrielle Kamelmilchverarbeitung fortgeschritten. „Das Potenzial der Milchproduktion könnte noch weit mehr ausgeschöpft werden, würde man zunehmend die gleichen Praktiken anwenden, die dazu geführt haben, dass Milchkühe hochproduktiv wurden, wie genetische Selektion, künstliche Besamung, maschinelles Melken, spezielle Fütterung, Leistungskontrolle und so weiter“, so Faye. Heute liegt die Milchmenge vieler Kamele vielleicht bei fünf Liter pro Tag, dabei wäre durch spezielle Dromedarzüchtungen oder Kreuzungen zwischen Dromedar und Trampeltier ein Vielfaches möglich. Zudem kämpft der Sektor in vielen Ländern mit zu großen Distanzen zwischen Kamelherden, Molkereien und Konsumenten. Oft fehlt es an effizienten Transportwegen und funktionierenden Kühlketten für die verderbliche Ware. In Kenia geht man davon aus, dass nach dem Melken Verluste von mindestens 50 Prozent auftreten. „Die Lösung besteht wohl darin, Kamele nicht mehr umherziehen zu lassen, sondern in modernen Farmen stadtnah zu halten, wie es in den Golfstaaten, in Zentralasien und zunehmend auch in Marokko üblich ist“, so Faye.

Kleinere Kamelmilchfarmen, wie es sie übrigens inzwischen auch in den Niederlanden, Frankreich, Spanien und den USA gibt, bieten oft nicht nur Milch, sondern eine Vielzahl eher hochpreisiger Produkte, von Schokoladen über Käse bis Hautcremen und Haarseife. 

Kamelfleisch
Kamelfleisch auf einem marokkanischen Markt

Fleischlieferant Kamel

Auch das magere, cholesterinarme Fleisch der Kamele ist eine traditionell geschätzte Nahrungsquelle. Kamele könnten bei der Versorgung mit Fleisch in Zukunft eine größere Rolle spielen. Offiziell liefern sie rund 630.000 Tonnen Fleisch pro Jahr. Während die Tiere üblicherweise geschlachtet werden, wenn ihre Milchproduktion nachlässt oder rituelle Feste bevorstehen, breitet sich besonders in arabischen Ländern die gezielte Zucht von Kamelen für Fleischzwecke aus. Dies geht mit modernen Methoden wie künstlicher Besamung, Futteranalysen und strengen Hygienestandards bei der Schlachtung einher. In afrikanischen und arabischen Ländern erwartet Faye jedenfalls eine steigende Nachfrage. 

Dass auch Europäer schon bald in großer Zahl Kamelsteak braten oder ihren Kakao mit Kamelmilch anrühren werden, glaubt der Kamelexperte nicht. Aber wer weiß – das Internationale Jahr der Kameliden soll auch zu neuen Investitionen in die Forschung und die Entwicklung neuer Produkte führen, so dass das Kamel vielleicht tatsächlich zum Nutztier der Zukunft wird. 

 

Fotos: Jessica Knowlden-Unsplash, Bernard Faye, Jonatas Tinoco-Unsplash, James Merabi-Flickr, Dennis Sylvester Hurd-Flickr