Welches Futter vertragen zwei Wochen alte Küken am besten?“, fragt sich Dorcas aus Maralal. „Soll ich auf meinem Feld abwechselnd Sukuma-Kohl und Tomaten pflanzen?“, überlegt Darrell aus Tharaka-Nithi. Und Maulyne aus Murang‘a will wissen, ob sie ihren „Milchkühen verschimmeltes Maismehl verfüttern darf?“
Noch vor wenigen Jahren hätten die drei kenianischen Kleinbauern vielleicht ihren Nachbarn um Rat gefragt, den Besuch eines landwirtschaftlichen Beraters abgewartet oder auf gut Glück experimentiert. Heute müssen sie nicht lange grübeln. Innerhalb weniger Minuten erhält Dorcas einen Futterplan für seine Küken, Darrell wird der Fruchtwechsel im Gemüsegarten sehr empfohlen und Maulyne erfährt, dass sich das alte Maismehl aufgrund von Aflatoxinen – das sind von Schimmelpilzen gebildete Giftstoffe – als Tierfutter keinesfalls eignet.
An diese Ratschläge kamen sie bequem via Handy. Denn die drei Bauern haben ihre Fragen per SMS an die Wissensplattform Wefarm gesendet. Wefarm ist laut CEO Kenny Ewan mit rund 1,9 Millionen Nutzern in Kenia, Uganda und Tansania das „weltweit größte bäuerliche Digitalnetzwerk“. Es basiert auf der Idee, so Ewan, dass „es für jedes landwirtschaftliche Problem irgendwo einen Bauern gibt, der bereits eine Lösung kennt“.
Wefarm analysiert die Kurznachrichten mit Hilfe maschinellen Lernens nach Inhalt, Ort und Sprache. Anschließend ermitteln Algorithmen, wer im Netzwerk am ehesten Antworten liefern kann – und die erreichen den Fragesteller im Schnitt nach nur 13 Minuten.
Dieses Service sei alles andere als ein Nischenangebot, so Ewan. „Bei kleinbäuerlicher Landwirtschaft handelt es sich um die wahrscheinlich größte Branche der Welt: Rund 70 Prozent des globalen Nahrungsmittelangebots kommt von Kleinbauern.“
Agtech für Afrika
Wefarm ist bei weitem nicht der einzige Anbieter, der Software speziell für die große Gruppe der kleinen Bauern entwickelt. Allein am afrikanischen Markt gibt es hunderte Anwendungen für den Agrarsektor, stellte das Zentrum für landwirtschaftliche und ländliche Zusammenarbeit CTA, das gemeinsam von der EU und Entwicklungsländern betrieben wird, in einer 2019 veröffentlichten Studie fest. Das Schlagwort heißt „Digitalisation for Agriculture“ oder kurz D4AG. Darunter sind all jene digitalen Technologien, Innovationen und Daten zu verstehen, mit deren Hilfe landwirtschaftliche Wertschöpfungsketten zum Positiven verändert werden sollen, indem sie für höhere Produktivität, besseres Erntemanagement, Marktzugang oder Finanzierung sorgen.
„Die Digitalisierung kann die Modernisierung und den Wandel der afrikanischen Landwirtschaft herbeiführen,“ glaubt CTA-Direktor Michael Hailu, und mit dieser Meinung steht er nicht allein da. Ob EU, Afrikanische Entwicklungsbank, Weltbank, die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ oder Konzerne wie Alibaba, IBM oder Mastercard: Immer mehr Player eruieren Möglichkeiten, wie durch smarte Anwendungen die Produktivität von Kleinbauern in Entwicklungsländern gesteigert werden kann.
Notwendig ist dies schon allein aufgrund der wachsenden Weltbevölkerung: Laut den Vereinten Nationen müssen 2050 bereits die Teller von 9,7 Milliarden Menschen befüllt werden, das wären knapp zwei Milliarden Menschen mehr als heute. Der Druck auf den landwirtschaftlichen Sektor steigt vor allem in Afrika, wo ein Großteil des Bevölkerungswachstums stattfinden soll. Laut CTA müsste sich die landwirtschaftliche Produktivität zumindest verdoppeln, um die kontinentale Nachfrage zu befriedigen. Doch die Erträge der 250 Millionen afrikanischen Bauern sind heute noch niedrig. Viele bearbeiten nur kleine Parzellen von unter zwei Hektar, und das oft ohne Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln wie hochwertigem Saatgut, Maschinen und Bewässerungsanlagen. Dazu gerät der Sektor aufgrund von Klimawandelauswirkungen wie veränderte Niederschläge, Dürreperioden oder Schädlingsbefall zunehmend unter Druck.
Jung und dynamisch
Die angebotenen Tech-Lösungen sind so vielfältig wie die Probleme der Bauern selbst: Apps bieten Informationen über Märkte und Preise, über Wetterbedingungen oder Anbaumethoden. Mit mobilen Applikationen können kranke Pflanzen diagnostiziert und gefälschtes Saatgut erkannt werden, man kann Landmaschinen ausleihen und Käufer für Ernten finden. Rund 400 D4AG-Lösungen waren 2018 in Afrika erhältlich, mehr als die Hälfte davon war maximal drei Jahre am Markt. Rund 33 Millionen Kleinbauern haben sich für die speziell für sie entwickelten Lösungen registriert.
Trotz hoher zweistelliger Wachstumsraten sollte man sich von diesen Zahlen nicht blenden lassen: Der CTA-Report schätzt, dass nur 42 Prozent der registrierten Nutzer die Lösungen tatsächlich verwenden, und das mitunter nur mit Unterstützung, etwa durch Buchungsagenten. Und nur 15 bis 30 Prozent aller registrierten Nutzer gelten als so „aktiv“, dass sie von der regelmäßigen Nutzung profitieren würden. Wie wirkungsvoll die Apps tatsächlich sind, „ist kaum untersucht, dazu ist der Sektor noch zu jung und die Daten nicht transparent zugänglich“, erklärt Heike Baumüller vom Zentrum für Entwicklungsforschung ZEF an der Universität Bonn. Laut CTA gibt es aber „Hinweise, dass D4AG-Lösungen positive direkte und indirekte Auswirkungen auf die Erträge und Einkommen der Kleinbauern haben“.
Interview mit Heike Baumüller, Zentrum für Entwicklungsforschung ZEF
Baustein mit Potenzial
Jedenfalls eröffnen Apps neue Möglichkeiten. Vielen Bauern fehlt beispielsweise das Geld für die Anschaffung von Landmaschinen. Allein in Nigeria fehlen laut des in Abuja ansässigen Start-ups Hello Tractor 750.000 Zugmaschinen. „Aufgrund der kleinen Flächen und der geringen Auslastung wäre ein eigener Traktor für viele Kleinbauern allerdings wirtschaftlich ohnehin nicht sinnvoll“, erklärt Priscilla Asonibare von Hello Tractor.
Das Start-up bringt daher die Idee des „Nutzens statt Besitzens“ – das in Österreich durch Maschinenringe in der Landwirtschaft bereits eine lange Tradition hat – in moderner Form nach Afrika: Bauern können über eine Smartphone-App Traktoren mieten, bezahlen und bewerten. Die Maschinen selbst liefern Echtzeitdaten zur Auslastung und zum Standort, womit Missbrauch und Diebstahl erschwert und die Besitzer motiviert werden, ihre Traktoren zur Verfügung zu stellen.
Solche Shared Economy-Ansätze könnten die dringend benötigte Mechanisierung der Landwirtschaft voranbringen. Die Skalierung des Modells lässt sich wiederum mit dem öffentlichen und privaten Sektor leichter umsetzen als allein – so zumindest die aktuelle Strategie von Hello Tractor. Im Rahmen einer Partnerschaft mit dem US-amerikanischen Traktorenhersteller John Deere, der in Afrika einen neuen Wachstumsmarkt erschließen will, möchte das Start-up schon bald tausende neue Traktoren auf afrikanische Felder bringen.
Interview mit Priscilla Asonibare, Hello Tractor
Uber für Landwirte
Schwierige Kunden
Bislang gelingt es nur wenigen Anbietern, mehr als eine Million Registrierungen und damit eine relevante Größe zu erreichen. Etablierte Unternehmen wie der Mobilfunkbetreiber Safaricom in Kenia tun sich naturgemäß leichter als ein kleines Start-up. Schließlich kann es herausfordernd sein, die Zielgruppe der Bauern überhaupt zu erreichen: Man muss sie in oft entlegenen Gebieten aufsuchen, überzeugen und schulen, damit sie die Anwendungen richtig nutzen. Die App-Entwickler müssen dabei das oftmals geringe Bildungslevel berücksichtigen: Manche Anwendungen „sprechen“ zu den Nutzern, denn viele Kleinbauern können nicht lesen. Wefarms Software akzeptiert regionale Sprachen und erkennt Variationen in der Rechtschreibung, Tippfehler und falsche Zeichensetzung.
Auch der Zugang zur Technologie erschwert die Verbreitung. Die Pflanzen-diagnose-App Plantix beispielsweise hat weltweit, vor allem in Indien, bereits eine Million aktive Nutzer, in Afrika stehe man aber erst am Beginn, erklärt Managerin Bianca Kummer: „Die Datenpreise für das Internet sind in Afrika im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen noch sehr teuer. Auch die Internetabdeckung im ländlichen Raum und die Smartphone-Penetration unter Kleinbauern ist noch nicht ausreichend.“ Weit verbreitete Plattformen wie Wefarm oder Digi-farm bieten ihre Services daher immer noch per SMS an.
Game Changer
D4AG-Lösungen werden die Agrarwirtschaft wohl verändern. In den kommenden Jahren könnten hunderte Millionen Kleinbauern digitale Services nutzen, schätzen die Autoren der CTA-Studie, die einen Milliarden-Euro-Markt im Entstehen sehen. Doch auch die smartesten Apps können nicht alle Probleme lösen. Wenn es an Straßen, Strom oder Bewässerung fehlt, werden sich auch bestens vernetzte Kleinbauern schwertun, ihre Böden auf den Kopf zu stellen.
Apps für Kleinbauern
Diagnose per Digitalbild
Die Blätter der Kokospalme verfärben sich schwarz und niemand, den man nach der Ursache fragen könnte? Heutzutage lassen sich Bilder kränkelnder Pflanze via Smartphone versenden. Das Diagnosetool Plantix (vom deutschen Start-up PEAT) analysiert mithilfe von künstlicher Intelligenz Smartphone-Bilder sekundenschnell. Die populäre App erhält zehntausende Bilder am Tag und eignet sich daher auch zum Aufzeigen von Schädlingsausbreitungen. Neu am Markt ist die App Agrix Tech (Kamerun), die ebenfalls Pflanzenkrankheiten erkennt und Behandlungstipps vorschlägt – auch als Sprachnachricht in mehreren afrikanischen Sprachen.
Traktor für einen Tag
Ob pflügen, aussäen, ernten – Kleinbauern müssen dies meist manuell oder mit Zugtieren erledigen. Das 2014 gegründete nigerianische Start-up Hello Tractor will die Mechanisierung vorantreiben, indem es Bauern das bedarfsweise Mieten von Traktoren ermöglicht. Die Bestellung können sie über eine App oder einen Vermittler vornehmen. Die Leihtraktoren sind mit einem GPS-Überwachungsgerät ausgestattet, das dem Besitzer Echtzeitdaten zum Standort, zum Füllstand im Tank, zu den Betriebsstunden und Wartungsbedarf liefert. Kunden können wiederum den Traktor auf der Plattform bewerten. Hello Tractor ist in zwölf Ländern, von Nigeria, Kenia, Ghana, bis Bangladesch und Indien aktiv. Auch Trotro Tractor (Ghana) oder Trringo (Indien) bieten Kleinbauern den Zugang zu Leihtraktoren.
One-Stop-Bauernhof
Viele Agrar-Apps bieten ihren Nutzern Geldtransaktionen via Handy. Als Pionier für mobile Geldtransfers gilt M-Pesa, das 2007 vom kenianischen Mobilfunkbetreiber Safaricom auf den Markt gebracht wurde und inzwischen mehr als 30 Millionen Nutzer zählt. 2017 hat Safaricom mit DigiFarm eine Handy-Plattform speziell für Kleinbauern lanciert. Sie bietet Zugang zu verschiedenen Dienstleistungen: Von Krediten für den Kauf von Saatgut und Dünger über landwirtschaftliche Tutorials, Ernteversicherungen und Bodenanalysen bis zur direkten Kommunikation mit Verarbeitungsbetrieben. Laut Safaricom gibt es in Kenia bereits
1,2 Millionen registrierte DigiFarmer.
Direktdraht zum Käufer
Für Kleinbauern kann es schwierig sein, Abnehmer für ihre Ernten zu finden. Digitale Marktplätze erleichtern den Handel landwirtschaftlicher Produkte. Das 2016 in Ghana gegründete Startup AgroCenta bringt über eine App Kleinbauern und große Abnehmer wie Brauereien und Futtermittelhersteller zusammen. Gehandelt werden Rohstoffe wie Reis, Mais, Hirse und Soja. Die Bezahlung erfolgt via Handy, übliche Zwischenhändler werden umgangen. Das Start-up übernimmt den Transport der Ernten zum Kunden, berät Kleinbauern und unterstützt sie beim Zugang zu Finanzservices wie Ernteversicherungen und Pensionen. Laut AgroCenta steigt das Einkommen der rund 48.000 teilnehmenden Bauern um bis zu 25 Prozent.