Bei der ersten Drohne ist die österreichische Reisegruppe noch aufgeregt – 90 Minuten und etwa 20 Drohnen später nimmt man es schon souverän hin, wenn das Fluggerät am hügeligen Horizont auftaucht, über die Köpfe hinwegfliegt und dank seines Fanghakens in der Auffangvorrichtung landet. Diese Drohnen der Firma Zipline können rund 150 Kilometer weit fliegen und dabei Geschwindigkeiten von mehr als 120 Stundenkilometern erreichen. Dass sie nur mit knapp zwei Kilogramm beladen werden können, macht sie vielleicht für Bücherlieferungen ungeeignet, aber ihre Fracht hier in Ruanda wiegt ohnehin nicht viel, dafür aber schwer: Sie liefern vorrangig Blut und Medikamente, die am jeweiligen Zielort per Papier-Fallschirm abgeworfen werden.

Ruanda als Pilotland

Zipline hat den Firmensitz in Kalifornien und operiert mittlerweile in sieben Ländern. Begonnen hat für das weltweit größte Unternehmen für autonome Drohnenlieferungen aber alles im Jahr 2016 in Ruanda, einem Land, dessen Bedingungen – sehr hügelig, mit Straßen, die in der Regenzeit häufig überflutet sind – für Drohnentransporte geradezu ideal sind. Ruanda hat es den Zipline-Gründern darüber hinaus vor allem wegen seines geradlinigen Zugangs zu ausländischen Investoren angetan. Denn während sie an den komplizierten Regulativen in anderen Ländern verzweifelten, wurde in Ruanda vom ersten Tag an gemeinsam an Lösungen gefeilt, um den Drohnenverkehr mit dem regulären Luftverkehr zu koordinieren.

Lebensretter: Zipline-Drohnen in Ruanda

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Die österreichischen Besucher sind von dieser „Macher-Mentalität“ begeistert: „In Ruanda herrscht eine inspirierende Stimmung: Es ist ein schnelles Land, die Menschen wollen etwas weiterbringen. Und Ruanda eignet sich offensichtlich als Pilotland, um Dinge auszuprobieren und umzusetzen“, sagt Roland Tscheinig, Eigentümer und Geschäftsführer des Wiener Softwareunternehmens Objentis – und einer der 20 Teilnehmer der von den Unternehmensberatern Hans Stoisser und Karin Krobath organisierten Learning Journey Digital Rwanda.

Die österreichische Gruppe, die sich vorrangig aus IT-Unternehmern, Unternehmensberatern, Kommunikations- und Finanzprofis zusammensetzt, möchte einen Einblick in das digitale Ruanda gewinnen, das sich in den vergangenen Jahren laut den Veranstaltern zu einem „Proof of Concept Country“, also eine Art Labor für innovative Ideen und Lösungen, entwickelt hat und immer mehr IT-Fachkräfte hervorbringt, die auch für europäische Unternehmen arbeiten könnten. 

Auferstanden aus Ruinen

Dabei lag das Land, das nur etwa ein Drittel der Fläche Österreichs hat, vor nicht einmal drei Jahrzehnten am Boden: Der Genozid an der Tutsi-Minderheit zwischen April und Juli 1994 forderte fast eine Million Menschenleben, die Infrastruktur war zerstört, Häuser geplündert, die Staatskasse leer, drei von vier Menschen lebten in absoluter Armut.

Stadt im Grünen mit dunkler Geschichte: Blick vom Parlament in Ruandas Hauptstadt Kigali. Links verbliebene Einschüsslöcher in Erinnerung an den Genozid und Bürgerkrieg 1994.

Heute präsentiert sich Ruanda seinen Besuchern als modernes, sicheres, sauberes Land – mit guter Infrastruktur für Firmenansiedlungen. Vor allem auch dank einer erfolgreichen Korruptionsbekämpfung konnte sich Ruanda über die Jahre als stabiles Investmentziel  etablieren. Seit dem Jahr 2000 wächst die Wirtschaft jährlich – von kleineren Ausreißern abgesehen – stabil im Bereich von rund sieben Prozent. Für 2023 wird ein Wirtschaftswachstum von 6,6 Prozent, für 2024 gar 7,1 Prozent erwartet. Bis 2035 will Ruanda den Status eines Landes mit hohem mittleren Einkommen  erreichen. Dafür soll der Landwirtschaftssektor grundlegend modernisiert sowie Ruanda als global wettbewerbsfähige, wissensbasierte Wirtschaft und als regionales Zentrum für Finanzdienstleistungen etabliert werden. Einige Grundbedingungen wurden dafür bereits geschaffen: Die Verwaltung ist effizient, Eigentumsrechte sind klar geregelt, Strom und Internet funktionieren. Im jüngsten Ease of Doing Business Ranking der Weltbank liegt Ruanda auf Rang 38 von 190 Staaten, umgeben von der Schweiz, Slowenien, Portugal und Polen.

Wenn man sich in Ruanda umhört, woran man diesen rasanten Aufstieg festmachen kann, dann geht es – vom Taxifahrer bis zum Medienmogul – fast immer um die Führungsstärke von Präsident Paul Kagame, dessen rigoroser Kurs gegenüber Kritikern in Europa bisweilen mehr Aufmerksamkeit erhält als sein wirtschaftspolitisches Entwicklungsprogramm. Dieses verfolgt er, seit er als General der Rebellen den Bürgerkrieg im Jahr 1994 gewann, damit den Gräueln des Völkermords ein Ende setzte und daraufhin zuerst als Vizepräsident und seit 2000 als Regierungschef die Geschicke Ruandas lenkte.

Prägende Figur: Ruandas Langzeitpräsident Paul Kagame

Unter seiner Ägide entwickelte sich Ruanda schneller als jedes andere Land Afrikas: Heute gehen alle Kinder zur Schule, die Kindersterblichkeit sank von 23 auf vier Prozent, fast die gesamte Bevölkerung ist krankenversichert. Die Millionen an Entwicklungszusammenarbeitsgeldern, die seit den 1990er Jahren kontinuierlich ins Land fließen, versickern nicht wie in vielen anderen afrikanischen Ländern in den Taschen der Obrigkeit, sondern wurden beispielsweise in die Verlegung von rund 7.000 Kilometern Glasfaserkabel investiert. Heute sind 95 Prozent des Landes mit schnellem Internet versorgt.

Und in Sachen E-Government nimmt Ruanda in Afrika – ähnlich wie Estland in Europa – eine absolute Vorreiterrolle ein. Ablesbar ist dies an Irembo, einer 130 Mitarbeiter starken privatwirtschaftlichen Agentur, die 2014 ins Leben gerufen wurde, um alle Behördendienste zu digitalisieren und somit den Bürgern den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu erleichtern und den Verwaltungsapparat effizienter zu gestalten. Hundert Verwaltungsservices werden heute angeboten, die meisten innerhalb von Stunden digital erledigt, auf einen neuen Pass muss man maximal vier Tage warten. Für die Teile der ruandischen Bevölkerung, die keinen Zugang zum Internet haben, übernehmen 5.000 quer über das Land verteilte Agents die digitalen Aufgaben.

Daten und Fakten

Klein, aber oho

Ruanda, Afrikas am dichtesten besiedeltes Land, ist nicht einmal halb so groß wie der nahe Viktoriasee.

Ruanda_Grafik

Ruandas Boombranchen

Durch die ausgeprägte Tech-Affinität hat sich Ruanda zu einem attraktiven Standort für IT-Dienstleistungen entwickelt. Doch auch der Bausektor zeigt eine positive Entwicklung und dürfte sich vor allem angesichts des Infrastrukturausbaus zu einem der Wachstumstreiber des Landes entwickeln. Es bieten sich auch für europäische Unternehmen Geschäftsmöglichkeiten in der Lieferung von Baumaschinen, Werkzeugen, Baumaterialien und Armaturen. Zusätzlich besteht eine dringende Notwendigkeit für Investitionen im Agrarsektor, um den zunehmenden Bedarf an Lebensmitteln decken zu können. Noch bis 2025 läuft das so genannte Manufacturing and Build to Recover Program der ruandischen Regierung, das Steuerbefreiungen für internationale Unternehmen in den Sektoren Produktion, Bau, Immobilienentwicklung und Landwirtschaft vorsieht.

Unabhängig von diesen Chancen und Anreizen bleibt der internationale Warenhandel jedoch weiterhin auf einem bescheidenen Niveau, bedingt durch verschiedene Faktoren: Dazu zählen die begrenzte Marktgröße mit rund 13 Millionen Einwohnern, eine nach wie vor geringe Kaufkraft der Bevölkerung, das knappe Angebot an eigenen Rohstoffen sowie die Binnenlage des Landes. So werden die Waren in der Regel per Schiff ins tansanische Daressalam geliefert. Von dort geht es fast 1.500 Kilometer per Lkw weiter nach Kigali. Dabei sind die Preise für Seefracht und Landtransport zuletzt signifikant angestiegen – eine Eisenbahn als Alternative gibt es nicht.

Laut Edith Predorf, die als WKÖ-Wirtschaftsdelegierte von Nairobi aus für das Land zuständig ist, resultieren gerade aus diesen Defiziten aber auch die ruandischen Stärken. Sie vergleicht Ruanda in diesem Zusammenhang mit Österreich: „Geringe Einwohnerzahl, umgeben von größeren Nachbarn, Binnenland, aber zugleich: eine hohe Innovationskraft.“ Predorf zeigt sich besonders davon angetan, dass „Transparenz in Ruanda großgeschrieben“ werde: „Die Regierung stellt die notwendigen Rahmenbedingungen für internationale Investoren zur Verfügung und hat es geschafft, durch Prozess-Streamlining und eine Zero-Tolerance Policy im Kampf gegen die Korruption ein Umfeld zu schaffen, das Investoren aus der ganzen Welt anzieht“, so Predorf. Entsprechend empfiehlt sie österreichischen Unternehmen, in Ruanda „mit staatlichen Stellen ins Geschäft zu kommen, sei es im Bereich Wasserkraft, Ausbildung oder im Gesundheitswesen“.

Ruanda_Predorf
Edith Predorf, WKÖ-Wirtschaftsdelegierte

Österreich in Ruanda

Bisher sind nur wenige österreichische Firmen im Land der tausend Hügel vertreten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Oesterreichische Kontrollbank OeKB Ruanda nur in die Länderkategorie 6 von 7 einstuft. Eine OeKB-Deckung von Geschäften ist zwar mit Einschränkungen möglich, das Land wird aber – Seite an Seite etwa mit Uganda, Benin oder Gabun – als riskantes Exportziel eingeschätzt. Wie lässt sich das trotz der Investorenfreundlichkeit erklären? „Diese Ratings werden im Rahmen der OECD erstellt, es fließen etwa die Verschuldungssituation, Wachstumsprognosen, die Verfügbarkeit von Rohstoffen, die Handelsbilanz und auch die politische Lage in das Modell ein. Es ist durchaus möglich, dass Ruanda in den kommenden Jahren hochgestuft wird“, erklärt Ines Baumann, Länderexpertin der OeKB. Aktuell sei die OeKB jedoch bei Ruanda eher zurückhaltend, es gebe ein Limit bezüglich der Größe und Laufzeit der von der OeKB gedeckten Geschäfte, so Baumann.

Ruanda steht jedoch auf der aktuellen Liste der österreichischen Soft-Loan-Zielländer – dadurch haben öffentliche Stellen in Ruanda die Möglichkeit, bei der OeKB günstige Kredite für Projekte zu beantragen, die zur nachhaltigen Entwicklung vor Ort beitragen. Das erste österreichische Unternehmen, das davon profitiert, ist GHS Global Housing Solution, das im Vorjahr einen Vertrag über den Bau und die Ausstattung einer Berufsschule in Ruanda unterschrieb (Projektvolumen: 7,5 Mio. Euro).

Auch der steirische Technologiekonzern Andritz ist in Ruanda, wie fast überall auf dem afrikanischen Kontinent, anzutreffen. Andritz hat in den vergangenen Jahren das von der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank finanzierte 80-Megawatt-Wasserkraftwerk Rusumo Falls im Grenzgebiet zwischen Ruanda und Tansania elektromechanisch ausgerüstet. „Ruanda deckt derzeit etwa 40 Prozent des Strombedarfs mit Wasserkraft. Nun ist ein weiteres großes Kraftwerk in Planung. Ruanda und ganz Ostafrika sind ein wesentlicher Fokus unserer Afrikastrategie für neue größere Kraftwerke und den gesamten Kleinkraftwerkssektor“, sagt Unternehmenssprecherin Susan Trast. Dabei zeichnet sich Ruanda im regionalen Vergleich bereits heute durch die hohe Zuverlässigkeit der Stromversorgung aus: In Ruanda fällt im Durchschnitt knapp 30 Stunden pro Jahr der Strom aus, in Kenia sind es rund 80, in Tansania knapp 1.000 und in Uganda gar rund 3.000 Stunden.

Gehaltssprünge

Die Teilnehmer der Learning Journey sprachen auch bei einem in Ruanda ansässigen österreichischen Unternehmer vor: Der Wiener Tobias Reiter hat vor sechs Jahren in Kigali das Sozialunternehmen Viebeg gegründet. Dabei handelt es sich um eine datengesteuerte Logistikplattform für den Gesundheitssektor, die es Gesundheitseinrichtungen ermöglicht, die Beschaffung von Produkten – von Krankenhausbetten bis zu Röntgengeräten – besser zu verwalten.  „Mit unseren Daten können wir medizinische Geräte um 40 Prozent billiger machen – und wir können Kliniken mit begrenzten Ressourcen, die zuvor vom Markt ausgeschlossen waren, bedarfsgerecht beliefern“, sagt Reiter. Viebeg arbeitet bereits mit mehr als 800 Krankenhäusern in Ruanda, Kenia und im Kongo zusammen. Zeitnah will Reiter auch nach Uganda und Tansania expandieren.

Ruanda_Viebeg
Pioniere: Team des Healthtech-Start-ups Viebeg um Tobias Reiter

Bei der Suche nach Investoren navigiert er souverän zwischen staatlichen Stellen der ruandischen Regierung, internationalen Finanzinstitutionen wie der African Development Bank, Risikokapitalfonds und Geldgebern aus der Entwicklungszusammenarbeit, von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit bis zur Gates Foundation. Dabei machen die in Ruanda emsig aktiven internationalen Organisationen, allen voran jene der Vereinten Nationen, ihm zugleich ein Stück weit das Leben schwer. Diese treiben nämlich dadurch, dass sie selbst viele lokale Softwareentwickler einstellen und für ruandische Lohnverhältnisse extrem gut bezahlen, die Gehälter so hoch, dass sich sein Unternehmen die Lohnkosten für erfahrene Entwickler bisweilen nicht mehr leisten kann. „Senior Developer fordern plötzlich 6.000 US Dollar monatlich“, sagt Reiter – und das in einem Land mit einem Durchschnittsverdienst von rund 100 Dollar. Für ihn heiße das: „Wir müssen selbst ausbilden.“ Kandidaten gibt es jedenfalls ausreichend: Mehr als 2.000 der pro Jahr rund 50.000 ruandischen Hochschulabsolventen machen ihren Abschluss im Bereich der Informatik und Kommunikationstechnologien – vier Universitäten in Kigali sind auf die MINT-Fächer spezialisiert.

Ruanda inspiriert seine Besucher

Objentis-CEO Roland Tscheinig verfolgt diese Entwicklungen aufmerksam: Bereits seit rund einem Jahr hat er in seinem Entwicklerteam Verstärkung aus Ruanda. Mithilfe der in Kigali und Hamburg ansässigen Vermittlungsagentur für afrikanische Softwareentwickler Code of Africa hat er bereits vor rund einem Jahr einen jungen, remote arbeitenden ruandischen Entwickler in sein Team geholt – und ist mit dessen Arbeit mehr als zufrieden: „Die Einarbeitungszeit gestaltete sich für uns unkompliziert, denn wir entdecken eine vergleichbare Mentalität. Dies stellt einen signifikanten Unterschied zu anderen Offshoring-Erfahrungen dar, die wir bisher gemacht haben“, sagt Tscheinig. Im Rahmen der Learning Journey fand nun auch ein erstes physisches Treffen zwischen Tscheinig und seinem Mitarbeiter statt – und für den Wiener Unternehmer ist es durchaus denkbar, weitere ruandische Entwickler anzustellen. Zudem habe die Reise ihn dazu inspiriert, darüber nachzudenken, seine Geschäftstätigkeiten nach Ruanda auszuweiten und nach Kunden vor Ort zu schauen. 

Ähnlich geht es weiteren Teilnehmern der Learning Journey: „Ruandas Ruf als digital voranschreitendes Land hat mein Interesse geweckt. Ich wollte den Kontrast zu unserer, durch die Flüchtlingsdiskussion dominierten Wahrnehmung von Afrika selbst erleben und natürlich auch potenzielle Geschäftschancen erkunden. In Ruanda entdeckte ich bemerkenswerte Innovationen und ambitionierte Menschen, obwohl zwischen Wunsch und Wirklichkeit noch Lücken bestehen. Doch es zeigt sich klar, dass Ruanda auf die richtigen Themen setzt“, sagt etwa IT-Manager und Unternehmensberater Martin Thurner. 

Begeisterte Besucher: Teilnehmer der Learning Journey Digital Rwanda zu Gast bei der Agentur Irembo

Und auch Saskia Wallner, CEO der PR-Agentur Ketchum Publico, hat für sich und ihre Arbeit etwas mitgenommen: „Die Reise hat gezeigt, dass es in Ruanda sehr stark um eine can-do attitude geht, also dass man an Dinge glaubt und etwas weiterbringen will. Genau davon können wir uns in Österreich eine Scheibe abschneiden.“

 

Fotos: Radisson Blu Kigali, Zipline (4), Paul Kagame/Flickr, WKÖ, Hareter, NextAfrica

Kommentar von corporAID-Autor Frederik Schäfer

Frederik Schäfer, corporAID

Ruanda im Wandel

Besuch in Ruanda, einem vorwärtsstrebenden Land mit gut ausgebildeten jungen Menschen, die auch für europäische Unternehmen interessant sein könnten.