Zehntausende Beamte in Kairo und Jakarta werden in naher Zukunft Akten, Computer und Kugelschreiber in Umzugskartons schlichten und ihre Büros verlassen – vorausgesetzt, sie möchten ihre Jobs behalten. Denn Ägypten und Indonesien planen ihre Regierungssitze und Verwaltungsbehörden in neue Großstädte umzusiedeln, die in der Wüste beziehungsweise im Dschungel errichtet werden.
Kairo, seit mehr als tausend Jahren ägyptische Hauptstadt, wird wohl zuerst als Regierungssitz abdanken. Erst vor vier Jahren wurde die Vision einer neuen Administrativhauptstadt der Öffentlichkeit vorgestellt. Noch gibt es für diese keinen richtigen Namen, sie wird schlicht als „The Capital Egypt“ oder „New Administrative Capital“ NAC geführt. Doch bereits in der zweiten Jahreshälfte 2020 soll das Prestigeprojekt des Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi zum Leben erweckt werden: Ab dann sollen 34 Ministerien, Parlament und Kabinett in die knapp 45 Kilometer östlich von Kairo gelegene Retortenstadt verlegt werden. Ausländische Botschaften sind aufgefordert, gleich mitzuziehen. Werbevideos versprechen eine futuristische, grüne und sichere Stadt, in der es sich staufrei und angenehm leben lässt. Noch sieht die neue City aber vor allem nach Großbaustelle in einer Mondlandschaft aus. „Medial wird der Termin Juni 2020 wohl halten. Wie viele Ministerien und Regierungsmitarbeiter zu diesem Zeitpunkt tatsächlich übersiedeln, wird sich weisen“, meint Martin Woller, WKÖ-Wirtschaftsdelegierter in Kairo.
Das Megaprojekt wird gemeinsam vom ägyptischen Militär und dem Wohnungsministerium umgesetzt, die nicht nur mit der herannahenden Deadline kämpfen, sondern aufgrund zurückhaltender Investoren auch mit der Finanzierung. Für das neue Regierungsviertel werden laut Pressesprecher Khaled El Husseiny (siehe Interview) Kosten von drei Mrd. Dollar veranschlagt, insgesamt werde mit 45 Mrd. Dollar kalkuliert. Der Masterplan sieht die langfristige Bebauung von insgesamt 700 Quadratkilometern vor. Am Ende soll die neue Stadt zwanzig Wohnbezirke für 6,5 Millionen Einwohner, ein Finanzviertel mit 21 Wolkenkratzern (darunter der höchste Turm Afrikas), ein Kunst- und Kulturviertel mit Opernhaus und Museen sowie einen riesigen Vergnügungspark bieten. Immerhin: Der Capital International Airport, eine große Moschee, eine riesige Kirche, Regierungsgebäude und einige Wohnsiedlungen ragen bereits in die Höhe, auch hunderte Kilometer Straße sind fertig. Und schon diesen November lädt al-Sisi zu einem großen Investorenforum ins neue Konferenzzentrum.
Interview mit El Husseiny, Sprecher von ACUD
Smarter walten ab 2020
Bye-bye Jakarta
Auch andere Länder erwägen den kapitalen Umzug. Heuer im September teilte Thailands Premierminister Prayut Chan-o-cha seine Idee mit, den Regierungssitz vom hektischen Bangkok abzuziehen und in eine neue Stadt oder zumindest in einen Vorort zu verlegen. Gut möglich, dass Chan-o-cha dabei auch von Indonesien inspiriert wurde: Erst im August gab Präsident Joko Widodo bekannt, dass der Inselstaat künftig nicht mehr von Jakarta auf der Insel Java, sondern vom indonesischen Teil Borneos – der drittgrößten Insel der Welt – aus regiert werden soll.
Der neue Regierungssitz Indonesiens wird demnach in der Provinz Ostkalimantan, im Nirgendwo zwischen den Städten Balikpapan und Samarinda erbaut. Trotz Dschungellage sei passende Infrastruktur in der Nähe, auch ausreichend Land im Staatsbesitz stehe zur Verfügung, heißt es. Kostspielig wird es mit veranschlagten 33 Mrd. Dollar dennoch, dazu gilt es, diese Summe – in Kooperation mit privaten Investoren – rasch aufzustellen. Schließlich soll die ebenfalls noch namenlose 1,5 Millionen-Einwohner-Stadt bereits 2024, also noch vor Ende von Widodos soeben begonnener zweiten Amtsperiode, in Betrieb gehen.
Und auch in einem anderen asiatischen Inselstaat, nämlich auf den Philippinen, entsteht ein neuer administrativer Sitz: New Clark City. Die Stadt soll Manila zwar nicht ersetzen, aber als Back-up fungieren, erklärt Vivencio Dizon, CEO der Regierungsbehörde Bases Conversion and Development Authority BCDA. „In Phase eins des Projekts errichten wir das National Government Administrative Center mit Ersatz-Regierungsbüros. Sollte Manila von einer Katastrophe heimgesucht werden, können dennoch alle Regierungsgeschäfte weitergeführt werden.“
Seit Jänner 2018 wird dazu eine 95 Quadratkilometer große ehemalige Militärbasis in eine Smart City transformiert. „Phase 1A“ nimmt schon Gestalt an. Sie besteht – neben Wohngebäuden für Beamte und einem Krisenkoordinationscenter – hauptsächlich aus einem modernen Sportzentrum, das diesen November bereits Gastgeber der 30. Southeast Asian Games ist. Fertig ist das 14 Mrd. Dollar-Flaggschiffprojekt von Staatschef Rodrigo Duterte damit zwar nicht, aber immerhin kann er schon jetzt, lange vor dem offiziellen Ende seiner Präsidentenkarriere 2022, die eine oder andere rote Kordel durchschneiden. Bis in New Clark City die gewünschten 1,2 Millionen Menschen leben, dürften aber noch Jahre vergehen.
Reset am Reißbrett
Planstädte sind nicht nur Liebhaberprojekte aktuell amtierender Staatschefs. Schon seit tausenden Jahren werden Siedlungen neu erbaut, „dafür gibt es Beispiele aus der Antike, dem alten China, den hinduistischen Königreichen oder dem Römischen Reich“, sagt Sarah Moser, Professorin für urbane Geographie an der McGill University in Montreal, die derzeit einen „Atlas für Neue Städte“ verfasst. Ein Land habe den modernen Städtebau global geprägt, erzählt sie: Großbritannien. Als Kolonialmacht habe es zahlreiche urbane Zentren an der amerikanischen Ostküste, in Kanada, Afrika, Asien und Australien entwickelt.
Während Hauptstädte wie Athen, Rom, Delhi und Peking, aber auch Damaskus oder Jerewan auf mehrere tausend Jahre Geschichte zurückblicken können, existieren viele heute bekannte Kapitalen noch keine hundert Jahre: Canberra ersetzte 1927 Melbourne als politisches Zentrum Australiens. Die Planstadt wurde als Kompromisslösung zwischen den rivalisierenden Städten Melbourne und Sydney erbaut. 1960 wurde Brasília als Symbol für ein modernes Brasilien eingeweiht – womit Rio de Janeiro abdanken musste. Der Neubau wurde in der Mitte des Landes hochgezogen, mit dem Ziel, auch abseits der Küste wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Pakistans Erlangung der Unabhängigkeit war wiederum Impulsgeber für den Bau von Islamabad als zentral gelegene Alternative zur Küstenstadt Karachi (ab 1966). Und auch die heutigen Regierungssitze von Nigeria, Kasachstan, Malaysia und Myanmar wurden erst in den vergangenen drei Jahrzehnten eingeweiht.
Nichts geht mehr
Dass Kairo und Jakarta abdanken müssen und für Manila ein Back-up gebaut wird, hat vor allem einen Grund: Überforderung. Die drei Megacities – so werden Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern genannt – kämpfen mit Wohnungsnot, Grünraummangel, Verschmutzung, Staus und sonstiger überlasteter Infrastruktur. In den Ranglisten der lebenswertesten Städte der Welt werden die Metropolregion Manila mit circa zwölf Millionen Einwohnern und der Ballungsraum Kairo mit 20 Millionen Einwohnern daher wohl nie topplatziert. Zur Situation Jakartas mit rund 25 Millionen Einwohnern meinte Widodo: „Wir können nicht zulassen, dass die Belastungen für Jakarta und Java in Bezug auf Bevölkerungsdichte, die ohnehin schon schwere Verkehrsüberlastung und die Luft- und Wasserverschmutzung weiter zunehmen.“ Noch dazu droht Jakarta der Untergang. Weil seit Jahren zu viel Grundwasser abgepumpt wird, sackt der Boden der Stadt stellenweise bis zu 20 Zentimeter im Jahr ab. In Kombination mit steigendem Meeresspiegel und Starkregen droht das Dauerhochwasser. Bereits 2050, so befürchten Umweltexperten, könnte es für ein Drittel der Stadt heißen: Land unter.
Auf der Kriterienliste für das Ausweichquartier stand daher Sicherheit ganz oben. „Das Risiko von Überflutungen, Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüchen ist auf Borneo minimal“, erklärte Widodo. Auch New Clark City auf den Philippinen wird als katastrophensicher vermarktet, dafür sollen der günstige Standort rund hundert Kilometer nördlich von Manila sowie besondere bauliche Maßnahmen sorgen.
Der Wunsch nach Sicherheit beschränkt sich womöglich nicht nur auf Naturkatastrophen. Für Ägyptens Präsident al-Sisi, gegen dessen autoritäres Regime sich neuerdings heftige Proteste formieren, könnte sich die New Administrative Capital als attraktiver Rückzugsort erweisen: Sie ist weit genug entfernt von den Menschenmassen in Kairo – und es wird, so Sprecher Khaled El Husseiny, „eine Kommandozentrale geben, welche die gesamte Stadt kontrolliert, mit Kameras und Sensoren überall“.
Moderne Visitenkarte
Für den Bau urbaner Megaprojekte werden meist auch ökonomische Gründe genannt: Planstädte werden als Entwicklungsmodell präsentiert, um die Wirtschaft anzukurbeln und neue Jobs zu schaffen. Indonesiens Präsident Widodo schwebt beispielsweise vor, dass die City auf Borneo „die Entwicklung von Technologie-Start-ups und einem digitalisierten Fertigungssektor fördert“ sowie wirtschaftliche Aktivitäten außerhalb der Insel Java anregen wird. Für New Clark City seien laut Vivencio Dizon Industrien vorgesehen „die auf modernste Technologien setzen, nachhaltig und umweltfreundlich sind“, auch sei die Stadt in eine gleichnamige Sonderwirtschaftszone eingebettet.
Nicht zuletzt gelten neue Städte als Turbo fürs Selbstbewusstsein. Länder wollen der Welt zeigen, dass sie moderne, lebenswerte, funktionierende Städte erbauen können. Auffällig bei den neuen Projekten ist die Betonung auf Umweltfreundlichkeit und sattes Grün. In New Clark City sollen nur 40 Prozent der Fläche bebaut, der Rest für freie und grüne Flächen freigehalten werden. Die Kairo-Alternative wirbt mit Solarzellen auf den Dächern und sauberen Verkehrsmitteln, vertikalen Wäldern auf Häusern und einem 35-Kilometer-Fluss mit grünen Uferpromenaden – woher das viele Wasser dafür kommen soll, fragen sich allerdings manche Beobachter sorgenvoll.
Globale Baustelle
Die drei neuen Städte sind ein prominenter Ausschnitt eines größeren Trends. Gegenwärtig werden laut Stadtexpertin Moser mehr als hundert neue Städte in rund 40 Ländern geplant oder gebaut. Sie tragen Namen wie Korgas (an der kasachisch-chinesischen Grenze), Mohammed VI Tanger Tech City (Marokko), Forest City (Malaysia), Nanhui New City (China), Duqm (Oman), Neom (Saudi-Arabien) oder Oyala (Äquatorialguinea). Manche Länder erweitern ihre Landkarten um gleich mehrere Einträge: Ägypten plane, bis 2030 zwanzig Städte für 30 Millionen Einwohner zu errichten, berichtet der Wirtschaftsdelegierte Martin Woller. Saudi-Arabien, China, Indien, Indonesien, Marokko und Malaysia gehören ebenfalls zu den besonders aktiven Planern. Der Bedarf ist durchaus da: Laut Prognosen der Vereinten Nationen sollen bis 2050 nahezu 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Das bedeutet ein Plus von 2,5 Milliarden Städtern, wobei fast 90 Prozent des Anstiegs in Asien und Afrika stattfinden wird.
Viele der neuen Stadtprojekte werden als Wirtschaftszentren geplant. Die marokkanische Mohammed VI Tanger Tech City ist beispielsweise als Hub für die Automobil-, Luft- und Raumfahrtindustrie gedacht und soll 300.000 Einwohner anlocken. Die Grenzstadt Korgas soll zum zentralen Drehkreuz für das chinesische Prestigeprojekt „Neue Seidenstraße“ werden und einen der größten Güterbahnhöfe der Welt beherbergen. Im Oman wiederum wird – ebenfalls mit chinesischer Unterstützung – das einstige Fischerdorf Duqm in ein neues Eldorado für Business und Tourismus verwandelt. In Duqm sollen bald 100.000 Menschen wohnen.
Bei der Finanzierung der Großprojekte stellt Moser fest: Während in den 1960er Jahren Städte wie Brasília und Chandigarh (Indien) öffentlich finanzierte, staatliche Großvorhaben waren, handelt es sich heute vor allem um privat-öffentliche und mitunter gänzlich privat realisierte Megaprojekte.
Schwache Magnete
Ob in den modernen Wohnbezirken der neuen ägyptischen Hauptstadt tatsächlich einmal mehr als sechs Millionen Menschen leben werden, gilt als fraglich. Denn die Wohnungen und Häuser werden sich voraussichtlich nur wohlhabendere Eliten, nicht aber durchschnittliche Beamtenfamilien leisten können. Möglich also, dass nur die Straßen und Schienen zwischen Kairo und der neuen Hauptstadt durch pendelnde Beamte intensiv belebt werden. Auch ein Großprojekt in Malaysia orientiert sich nicht am kleinen Börserl: Auf vier künstlichen Inseln nahe Singapur entsteht gerade Forest City, ein „Modell für die Zukunft“ wie es heißt, mit Wohntürmen und Villen für 700.000 Menschen. Die mit chinesischen Geldern errichteten Stadtinseln werden als umwelt- und businessfreundlich vermarktet – und als Anlagemöglichkeit in Toplage. Die Projektbetreiber bieten auf ihren Webseiten „internationalen Käufern Luxusheime“ an. Für malaysische Familien dürfte es eher schwer werden, in der grünen Enklave ihren Wohnsitz anzumelden.
Wie sich gepflegte, aber menschenleere Urbanität anfühlt, lässt sich anderswo erleben: Putrajaya, Sitz des malaysischen Premiers und vor den Toren Kuala Lumpurs gelegen, bietet imposante Verwaltungsgebäude, eindrucksvolle Moscheen und Brücken – und keinerlei Trubel auf den Straßen. Auch zwanzig Jahre nach Eröffnung leben hier lediglich 90.000 Einwohner. Und Naypyidaw, seit 14 Jahren Hauptstadt Myanmars, trägt überhaupt den Beinamen „Geisterstadt“. Zwar verfügt die auf 7.000 Quadratkilometern angelegte Stadt über weitläufige Wohnviertel, Grünanlagen und – anders als das ärmliche Umland – über eine stabile Versorgung mit Strom, Wasser und Internet. Trotzdem gilt die offizielle Zahl von einer Million Einwohner als zu hoch gegriffen, selbst Touristen verirren sich kaum dorthin.
Vielleicht braucht es aber einfach nur Geduld, beschwichtigt Michael Woodbridge von der NewCities Foundation in Kanada: „Der Welt mangelt es heute nicht an Städten, die für Kultur, Architektur, Handel, Nachtleben oder Ästhetik bewundert werden. Aber diese Städte haben erst im Laufe der Zeit vielschichtige Identitäten entwickelt. Eine solche Lebendigkeit kann nicht über Nacht erreicht werden.“
Junge Städte
Abuja, Nigeria
Abuja ist seit 1991 die Hauptstadt Nigerias. Der Umzug von der Küstenmetropole Lagos in die Landesmitte erfolgte, um angesichts unterschiedlicher religiöser und politischer Strömungen von einem neutralen Ort aus zu regieren. Heute prägen Große Moschee, Nationalkirche und Präsidentensitz die Skyline der Planstadt. Abuja hat rund 2,7 Millionen Einwohner.
Nur-Sultan, Kasachstan
Die kasachische Hauptstadt heißt seit März 2019 nicht länger Astana, sondern Nur-Sultan – zu Ehren des Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Kasachstans Regierungssitz wurde 1997 vom südlich gelegenen Almaty 1.200 Kilometer in den Norden verlegt. Massive Bauwerke prägen das neu errichtete Regierungsviertel. Nur-Sultan hat eine Million Einwohner.
Putrajaya, Malaysia
Malaysias Hauptstadt ist zwar Kuala Lumpur, doch das Regierungs- und Verwaltungszentrum befindet sich seit 1999 im 25 Kilometer entfernten Putrajaya. Die Stadt bietet neben markanten Regierungsgebäuden eine riesige Moschee, ein Messezenrum, Seen und Parks. Putrajaya hat 90.000 Einwohner. Mit Cyberjaya befindet sich eine zweite Planstadt ganz in der Nähe.
Naypyidaw, Myanmar
2005 wurde die Hauptstadt Myanmars von Rangun in das 320 Kilometer entfernte, zentrale Naypyidaw („Stadt der Könige“) verlegt. Die am Reißbrett entworfene Stadt ist mit 7.000 Quadratkilometern 17 Mal größer als Wien, hat aber nur maximal eine Million Einwohner. Naypyidaw ist streng in Zonen aufgeteilt und verfügt über eine 22-spurige Hauptstraße.
Oyala, Äquatorialguinea
Im Dschungel von Äquatorialguinea wird derzeit Oyala (auch Ciudad de la Paz genannt) errichtet. 2017 ließ Präsident Teodoro Obiang den Regierungssitz des afrikanischen Kleinstaats von Malabo (auf der Insel Bioko) in die unfertige Stadt am Festland verlegen. Laut Plan soll Oyala schon 2020 offizielle Hauptstadt werden und 200.000 Einwohner bekommen. Dies gilt aber als unrealistisch.