In der Adria und der Karibik gelten sie als lästige Plage, auf Sushi-Platten und in Misosuppen als begehrte Zutat: Algen. Für die meisten Menschen beschränken sich die Assoziationen mit den Wasserpflanzen wahrscheinlich auf diese Bilder. Vincent Doumeizel, Meeresexperte beim UN Global Compact, zählt zu den Ausnahmen. Der Algenaktivist, wie er sich selbst bezeichnet, widmet sich unablässig der Aufklärung über die wundersame Algenwelt. Seine Bemühungen reichen von Auftritten auf Klimakonferenzen und TED-Talks über Schulauftritte bis hin zu Artikeln, Manifesten und seinem kürzlich erschienenen Buch „The Seaweed Revolution“ (2023). Zudem hat der Franzose vor zwei Jahren die Global Seaweed Coalition ins Leben gerufen, eine vom Unternehmensnetzwerk UN Global Compact koinitiierte Dachorganisation mit tausend Mitgliedern aus der Algenforschung und -branche.

Vincent Doumeizel
"Algenaktivist" Vincent Doumeizel macht auf den Wasserrohstoff unermüdlich aufmerksam.

Algen als Antwort

Doumeizel möchte, dass Algen ihr negatives Image abschütteln und als wertvolle Ressource erkannt werden. „Insbesondere Meeresalgen bieten Antworten auf viele aktuelle Herausforderungen. Sie sollten einen bedeutenden Anteil unserer Wirtschaft ausmachen“, argumentiert er. Mit seiner Begeisterung ist er nicht allein.

Institutionen wie die Weltbank, die Europäische Union, der Weltklimarat und die Vereinten Nationen äußern sich ebenfalls positiv über Algen – wobei pauschale Aussagen über die Wasserpflanzen irreführend sind, da es im Meer etwa 12.000 bekannte Arten gibt, die grob in Braun-, Rot- und Grünalgen gruppiert werden können. Laut Doumeizel könnten die Unterschiede zwischen diesen Gruppen kaum größer sein: „Ein Pilz und ein Bär haben genetisch mehr gemeinsam als Rot- und Grünalgen.“

Interview mit Vincent Doumeizel, UN Global Compact & Global Seaweed Coalition

Vincent Doumeizel

Revolution im Ozean

Vincent Doumeizel, Autor von „The Seaweed Revolution“ und Meeresexperte beim UN-Unternehmensnetzwerk Global Compact über den Zukunftsrohstoff aus dem Meer.

Algen auf dem Speiseplan

Arten wie Nori, Wakame und Kombu sind durch ihren Einsatz in asiatischen Küchen bekannt geworden. Auch in Schottland, Alaska, Chile und Hawaii bereichern Algen traditionelle Gerichte mit ihrem charakteristischen Geschmack, der oft als „Umami“, also „herzhaft“ oder „würzig“ beschrieben wird. Das kalorienarme Gemüse aus dem Meer gilt zudem als Nährstoffwunder, da es, je nach Art, reich an Mineralstoffen, Ballaststoffen, Proteinen, Vitaminen A, B12, C, K und Omega-3-Fettsäuren sein kann.

Auch wenn Algen vielleicht nicht regelmäßig auf unseren Tellern landen, nehmen wir sie indirekt oft zu uns. Extrakte von Rot- und Braunalgen wie Carrageen, Agar-Agar und Alginat dienen als Gelier-, Verdickungs- und Stabilisierungsmittel in Nahrungsmitteln, Kosmetika und Arzneien. Sie sind im Fruchtjoghurt, im Eis, im Puddingpulver, in der Margarine, in veganer Wurst, im Ketchup oder im Sojadrink enthalten. Die Algenextrakte, die hauptsächlich aus Indonesien und den Philippinen stammen, sind somit allgegenwärtig. 

Das Potenzial für unsere Ernährung ist groß – auch dann, wenn wir sie nicht direkt essen: Als sogenannte Biostimulanzien sollen Algen nämlich Wachstum und Gesundheit von Nutzpflanzen fördern, da sie physiologische Prozesse stimulieren und die Stressresistenz der Pflanzen erhöhen. „Da Algen die Vorläufer aller Landpflanzen sind, ist es nicht überraschend, dass ihre bioaktiven Verbindungen auf Landpflanzen wirken“, erklärt Doumeizel. Algen sollen zudem als Futtermittelzusatz dazu beitragen, den Antibiotikabedarf von Tieren zu reduzieren, indem sie das Immunsystem stärken. Außerdem zeigten Experimente mit einer Rotalgenart, die Tierfutter beigemischt wird, eine deutliche Reduktion der Methanemissionen von Rindern.

Algen
Von den 12.000 bekannten Algenarten werden nur ein Dutzend kommerziell genutzt.

Algen als Planetenretter

Auch die Rolle von Algen bei der Reinigung verschmutzter Küstengewässer, der Wiederherstellung der marinen Artenvielfalt und der Kohlenstoffbindung wird von Klima- und Umweltexperten intensiv diskutiert. Mitunter werden Algen begeistert als „Amazonaswald des Ozeans“ bezeichnet, und sie könnten, so die Hoffnung, zu den wichtigsten Rettern des Weltklimas werden, wenn nur ihr Schutz, ihr Anbau und ihre Nutzung stärker gefördert würden. Algenfans argumentieren, dass die Wasserpflanzen mehr Kohlenstoff binden können als Bäume – oft wird pauschal von „bis zu 20 bis 30 Mal mehr als ein Wald“ gesprochen. Jedoch mangelt es noch an wissenschaftlicher Fundierung, um die klimaschützende Funktion von Algenwäldern – auch langfristig – präzise quantifizieren zu können. „Die Mechanismen, durch die Algen Kohlenstoff speichern, sind außerordentlich komplex und repräsentieren ein neues Forschungsfeld. Daher steckt auch unser Verständnis, in welchem Ausmaß sie Kohlenstoff speichern, noch in den Kinderschuhen“, erklärt Colette Feehan, Autorin einer neuen Algenzucht-Metastudie, die im Juni vom UN-Umweltprogramm herausgegeben wurde.

Spitzenreiter Asien

In puncto Algen-Know-how und -produktion steht – wenig überraschend – eine Weltregion an der Spitze: Asien. Dort begann der kommerzielle Anbau von Meeresalgen vor mehr als 50 Jahren. Nach Angaben des Aquakulturberatungsunternehmens Hatch dominieren insbesondere China, Indonesien, die Philippinen, Nord- und Südkorea, Japan und Malaysia mit einem gemeinsamen Marktanteil von rund 98 Prozent die globale Algenproduktion, die derzeit auf rund 35 Mio. Tonnen im Jahr geschätzt wird. 

Allein in Indonesien, dem größten Produzenten von Carrageen, leben rund 270.000 Kleinbauernfamilien von Einnahmen aus dem Algenanbau. Weltweit sollen im Algensektor sechs Millionen Menschen in der Produktion und Weiterverarbeitung beschäftigt sein. Nach Asien tauchen die tansanische Inselgruppe Sansibar sowie Chile in der Algenstatistik auf, allerdings mit bescheidenen 0,3 Prozent beziehungsweise 0,1 Prozent des globalen Angebots. 

Kelp Blue
Riesentang in Namibia

Tangwälder für Namibia

Das niederländische Unternehmen Kelp Blue hat sich zum Ziel gesetzt, einen neuen Namen in die Topproduzentenliste zu hieven, und zwar Namibia. Das Land im Süden Afrikas heißt an seinen Küsten Algenfarmen willkommen und hat klare Richtlinien für die Zucht etabliert. Im Jahr 2021 vergab Namibia eine Lizenz an Kelp Blue für die Zucht von Riesentang (Macrocystis pyrifera) vor der Küste der Stadt Lüderitz. Diese Braunalgenart soll unter optimalen Bedingungen bis zu 60 Zentimeter pro Tag wachsen und eine Länge von bis zu 45 Metern erreichen. Caroline Slootweg, Mitgründerin von Kelp Blue, betont, dass Namibia aufgrund seiner günstigen Wassertemperaturen, Strömungen und Sonnentage ideale Bedingungen bietet.

 

Interview mit Caroline Slootweg, Kelp Blue

Caroline Slootweg

Riesentang mit Riesenpotenzial

Caroline Slootweg ist Mitgründerin des niederländischen Start-up Kelp Blue, das in Namibia, Neuseeland und Alaska Pionierarbeit in der großflächigen Kultivierung von Riesentang leistet.

Im Gegensatz zu Asien, wo der Algenmarkt häufig durch eine Vielzahl eher kleiner Anbieter, manuelle Arbeit und Saisonalität gekennzeichnet ist, setzt Kelp Blue im südlichen Afrika auf großflächigen Anbau im Ganzjahresbetrieb. Das Unternehmen möchte so große Abnehmer zuverlässig und kosteneffizient mit Produkten aus dem Meeresrohstoff versorgen. „Algenprodukte sind vielseitig einsetzbar. Aber nur mit einem stabilen Angebot kann sich ein bedeutender Markt entwickeln“, erklärt Slootweg. Kelp Blue baut Riesentang nicht nur an, sondern verarbeitet ihn auch selbst. Derzeit ist das Jungunternehmen dabei, den Markt für Biostimulanzien für die Landwirtschaft zu erschließen und die Produkte direkt in Namibia und anderen Ländern Afrikas zu vertreiben. Das sei nur der Anfang, so Slootweg. „Um Gewinne zu erzielen, konzentrieren wir uns jetzt auf Biostimulanzien. Später werden wir Produkte wie Alginate, Lebensmittelverdickungsmittel und Kunststoffersatzstoffe hinzufügen.“

Plastik aus Algen 

Als möglicher Ersatz für ölbasierte Kunststoffe sind Algen bereits in den Fokus gerückt, zuletzt auf der UN-Konferenz zur Eindämmung von Plastikmüll Anfang Juni in Paris. „Algenbasierte Biomaterialien stellen eine attraktive Alternative nicht nur zu herkömmlichen Kunststoffen, sondern auch zu anderen biomassebasierten Kunststoffalternativen dar. Sie wachsen schnell, benötigen weder Land, noch Süßwasser oder Chemikalien und stehen in keiner Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion. Zudem sind Algenmaterialien biologisch abbaubar und können die Haltbarkeit von Lebensmitteln verlängern“, nennt Neha Jain, CEO des indischen Start-ups Zerocircle, einige Vorzüge.

Zerocircle, das Jain im Jahr 2020 ins Leben rief, will Unternehmen die Möglichkeit bieten, angesichts wachsender Verbote von Einwegplastik, weiterhin Einmalverpackungen zu nutzen. Das Start-up gewinnt verschiedene Algenarten aus Küstengemeinden Indiens und verarbeitet diese zu Pellets, aus denen sich hauchdünne, durchsichtige Folien fertigen lassen. Die Folien können wärmeversiegelt, bedruckt und sogar verzehrt werden. Laut Jain ist das Algenmaterial im Kochwasser innerhalb von Minuten und im Kompost innerhalb von vier Monaten vollständig abbaubar. Es soll sich für Verpackungen von Snacks, Kleidung oder für Einkaufssackerl hervorragend eignen.

Zerocircle
Neha Jain, CEO des indischen Start-ups Zerocircle

Um die Akzeptanz bei Produzenten zu erhöhen, wurde das Material so konzipiert, dass es ohne Umrüstung in bestehende Produktionslinien integriert werden kann. Dies soll den Übergang zu umweltfreundlicheren Verpackungen vereinfachen und kosteneffizient gestalten. Das preisgekrönte Start-up arbeitet bereits mit Mode- und Lebensmittelproduzenten aus den USA und Europa zusammen und plant, seine Algenpellets ab Ende des Jahres kommerziell verfügbar zu machen.

 

Notpla
Verpackungen aus Algen für Speiseöl, Suppenpulver und Würzmischungen. Im Bild: Notpla

Auch das Londoner Start-up Notpla stellt unter dem Slogan „We make packaging disappear“ Verpackungen aus Algen her, die sich zum Beispiel für Einzelportionen von Ketchup, Speiseöl oder Fertigsuppen eignen. In Berlin entwickelt das Unternehmen Vyld plastikfreie Tampons, Binden und Windeln aus den absorbierenden Fasern von Braunalgen. Das erste Produkt, der „Kelpon“, soll 2024 in den Handel kommen.

Zukunft der Alge

Noch ist es ungewiss, ob Algenprodukte wirklich die Welt erobern werden. Es gibt jedoch einige Anzeichen dafür, dass die Ressource aus dem Wasser an Bedeutung gewinnen wird. Laut einem Expertenbericht der Boston Consulting Group liegt es nun auch in den Händen von Regierungen, durch entsprechende regulatorische Maßnahmen den Algensektor zu unterstützen. Gemeinsam mit Unternehmen sollte zudem das Wissen über Algen vertieft werden, da die junge Branche ein breites Spektrum an Know-how in Bereichen wie Biotechnologie, Ingenieurwesen, Fabrikservices und Logistik erfordert.

Die Europäische Union scheint die Algen jedenfalls pushen zu wollen: Im November 2022 hat sie eine Algeninitiative ins Leben gerufen, um die nachhaltige Produktion, den sicheren Verbrauch und die innovative Nutzung von Algen in Europa zu fördern. Algen sollen demnach künftig als nachhaltige Quelle für Nahrung, Energie und umweltfreundliche Produkte stärker genutzt werden.

Spirulix
Die Algenfarm der Müslimarke Spirulix in Reidling.

Algen aus Austria

Trotz gewisser geographischer Einschränkungen spielt übrigens auch Österreich nicht völlig im Algenabseits. So gibt es ein vom Klimaschutzministerium ins Leben gerufenes Algen-Netzwerk, das die einheimische Algenbiotechnologie fördern möchte. Und auch hierzulande wird für den Lebensmittelmarkt gezüchtet, wenn auch keine der viel gepriesenen Meeresalgen. So baut das Unternehmen Rohkraft Green in Sitzenberg-Reidling (Niederösterreich) in der eigenen Algenfarm Spirulina an, eine als Blaualgen bekannte Bakterienart, und bringt sie als Müsli, Riegel und Cracker in die Supermärkte. Für die Marke Helga (kurz für HEalthy ALgae) von Felix Austria wird wiederum neben Spirulina auch Chlorella, eine Süßwassermikroalge, im Glasröhrensystem in Niederösterreich gezüchtet. Die Algen sind in Form von Erfrischungsgetränken, Snacks und Pulver erhältlich. 

Ob in Afrika, Europa oder in Österreich: Laut Doumeizel lohnt sich der Blick auf die Wasserpflanzen, schließlich seien sie die „größte ungenutzte Ressource, die wir auf unserem Planeten haben.“

Fotos: Kelp Blue, Rohkraft Green, Vincent Doumeizel, Zerocircle, Notpla