Etwa ein Steak pro Jahr für jeden EU-Bürger: Das ist die Menge an Rindfleisch, die Schätzungen der EU-Kommission zufolge zusätzlich auf den europäischen Markt kommen wird, wenn das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Staaten des Wirtschaftsblocks Mercosur, also Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, wie geplant zeitnah in Kraft tritt. Das ist nicht allzu viel. Dennoch ist es vor allem das südamerikanische Rindfleisch, das hierzulande die Gemüter einer breiten Allianz an Mercosur-Gegnern, vom Landwirtschaftsminister bis zu Greenpeace Österreich, erhitzt. Der erste sieht sich als Sprachrohr heimischer Landwirte, die eine Flut von kostengünstigem südamerikanischem Importfleisch befürchten, während Umweltschutzorganisationen die Sorge äußern, dass ansteigende Fleischlieferungen zu vermehrten Amazonas-Abholzungen für Weideflächen führen könnten.
Günther Maihold, Südamerika-Fachmann der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik, hält die politische Rhetorik vor allem für innenpolitisches Kalkül: „Durch die Verknüpfung von landwirtschaftlichen Interessen mit Nachhaltigkeitszielen werden egoistische Absichten geschickt kaschiert. Man kann sich so unter dem Gesichtspunkt der Amazonas-Rettung positionieren.“
Ausgangslage für das EU-Mercosur-Abkommen
Es ist angebracht, die hitzigen Stimmen beiseitezulassen und das Abkommen objektiv und differenziert zu betrachten. Aktuell pflegen mehr als 60.000 europäische Unternehmen Geschäftsbeziehungen mit der Mercosur-Region, unter ihnen 1.400 aus Österreich. Die Handelsbilanz ist einigermaßen ausgeglichen – im Jahr 2022 wurden Waren im Wert von 56,3 Mrd. Euro aus Europa exportiert, die Importe beliefen sich auf 64,3 Mrd. Euro. Mit einem Anteil von rund 16 Prozent ist die EU nach China der zweitwichtigste Handelspartner für die Mercosur-Staaten. Europa exportiert hauptsächlich Autos und Industriegüter, während aus Südamerika vorwiegend Rohstoffe, insbesondere aus dem Futter- und Lebensmittelbereich wie etwa Soja und Kaffee sowie mineralische Stoffe importiert werden.
Derzeit bestehen vor allem seitens der Mercosur-Staaten hohe Einfuhrzölle, etwa für Fahrzeuge, Kleidung und Textilien bis zu 35 Prozent, Maschinen 14 bis 20 Prozent, Wein 27 Prozent oder Pharmazeutika bis zu 14 Prozent. Darüber hinaus behindern unterschiedliche technische Standards den Handel. Europäische Zulassungen und Zertifikate gelten nicht automatisch in Südamerika und umgekehrt.
Daten und Fakten
Partnersuche
Österreich exportiert hauptsächlich Maschinen, die Mercosur-Staaten Rohstoffe.
EU-Mercosur-Abkommen bringt Milliardeneinsparungen
Die Europäische Union wäre nun der erste Handelspartner, der mit dem Mercosur-Block ein Freihandelsabkommen abschließt. So würde auf einen Schlag die größte Freihandelszone der Welt mit rund 780 Millionen Bewohnern geschaffen.
Konkret sollen durch das Handelsabkommen die Zölle für mehr als 90 Prozent des Warenhandels aufgehoben werden – teils innerhalb mehrjähriger Übergangsfristen. Auch der Abbau technischer Handelshemmnisse sowie ein verbesserter Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen (etwa im Bereich Infrastruktur) sind Teil des Abkommens. Zum Schutz der europäischen Landwirtschaft werden bei bestimmten Agrarprodukten wie Rindfleisch, Geflügel, Zucker und Ethanol die Märkte nicht vollständig geöffnet, sondern durch Quoten kontrolliert, wobei beispielsweise für Rindfleisch anfänglich eine Quote von jährlich 99.000 Tonnen – das entspricht rund einem Prozent der europäischen Rindfleischproduktion – mit einem vergleichsweise geringen Zollsatz (7,5 Prozent) festgelegt wurde.
Trotz derlei, vor allem von der europäischen Seite eingeforderten Restriktionen erhoffen sich die Mercosur-Staaten neue Absatzmärkte in Europa sowie eine Modernisierung der eigenen Industrie und Landwirtschaft. Auf der anderen Seite könnte das Abkommen gemäß EU-Prognosen europäischen Unternehmen jährlich rund vier Mrd. Euro an Zöllen einsparen. Zudem biete es die Möglichkeit, innerhalb von zwölf Jahren die europäischen Exporte in den Mercosur-Raum um mehr als zwei Drittel zu erhöhen.
So beinhaltet das Abkommen auch für viele österreichische Firmen große Chancen: „Das Potenzial für österreichische Unternehmen geht quer durch alle Sektoren. Gute Perspektiven gibt es vor allem bei Chemikalien und Arzneimitteln, Maschinen- und Elektrogeräten und verarbeiteten Lebensmitteln“, sagt Günther Sucher, WKÖ-Wirtschaftsdelegierter in Brasiliens Wirtschaftsmetropole São Paulo. Exporte aus Österreich würden durch das Abkommen jährlich um 88 Mio. Euro entlastet, so Sucher. Auch der Chef der Industriellenvereinigung, Georg Knill, wirbt seit Wochen vehement für das Abkommen: „In Österreich sichert der Handel mit der Mercosur-Region bereits heute 32.000 Arbeitsplätze“, so Knill.
Langjährige Kontroversen um das EU-Mercosur-Abkommen
Über das Abkommen wurde seit 1999 verhandelt. Damals war der Mercosur-Bund gerade acht Jahre alt und hierzulande wurde noch mit Schilling bezahlt. Zu einer Einigung kam es nach langem Hin und Her erst 20 Jahre später: „Anfänglich waren beide Blöcke sehr auf die eigene Binnenmarktsicherung ausgerichtet. Zudem hat sich das Abkommen wegen der stetigen Spannungen zwischen Brasilien und Argentinien hingezogen. In Zeiten von Hugo Chavez und Co war dann der Freihandel insgesamt in Misskredit gekommen.Der große Durchbruch gelang erst 2019 am Rande des G20-Gipfels in Japan“, berichtet Maihold.
Doch vor allem die brachiale Amazonasabholzung unter Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro führte nach dem Abschluss dazu, dass die finale Unterzeichnung aufseiten der EU vorerst auf Eis gelegt wurde. Mittlerweile ist in Brasília Nachfolger Lula da Silva im Amt und die EU-Kommission drückt nun aus mehreren Gründen aufs Tempo: Es herrscht angesichts der Verwerfungen durch Pandemie und Krieg grundsätzlich ein verstärktes Bedürfnis nach einer Diversifizierung der Märkte vor. In diesem Jahr haben die Mercosur-Befürworter Schweden und Spanien die EU-Ratspräsidentschaft inne. Und vor allem soll dem wachsenden Einfluss Chinas in Südamerika Einhalt geboten werden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verkündete kürzlich, dass das Abkommen bis Ende des Jahres unter Dach und Fach gebracht werden soll. Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz warb zuletzt bei einem Brasilien- und Argentinienbesuch für das Abkommen.
Ob es wirklich dazu kommt, ist aber noch offen, wiederholte Kritik kommt etwa aus Frankreich, den Niederlanden und vor allem aus Wien. So will Österreich den Deal trotz der politischen Einigung vor vier Jahren noch verhindern: „Unsere landwirtschaftliche Produktion in Europa durch immer höhere Standards einzuschränken und gleichzeitig Handelsabkommen, die den Regenwald gefährden, durchzupeitschen, passt nicht zusammen. Wir sollten den Fokus auf einen starken Binnenmarkt und Versorgungssicherheit richten“, sagt Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig.
Gerade die Kritik mit Blick auf den Amazonasschutz kann der Wirtschaftsdelegierte Günther Sucher nicht nachvollziehen: „Durch den Abschluss des Abkommens wird der Regenwald nicht durch neue Rinderweiden zerstört. Das Abkommen verpflichtet Brasilien zu mehr und nicht zu weniger Schutz des Regenwalds. Vorgesehen ist im Nachhaltigkeitskapitel auch die Zusammenarbeit in internationalen Foren mit dem Fokus auf nachhaltiger Waldbewirtschaftung und dem Kampf gegen Entwaldung. Somit besteht ein zusätzlicher Hebel, um die Partnerländer an Klimaschutzübereinkommen zu binden“, so Sucher.
Stirnrunzeln in Südamerika
Was in der Diskussion hierzulande häufig untergeht: Auch innerhalb der Mercosur-Staaten herrscht kein Konsens über das Abkommen – und Freihandel per se. Argentinien begegnet der Sache eher skeptisch und verfolgt einen protektionistischen Kurs. Ganz anders Uruguay: Das kleinere Nachbarland unterstützt den Freihandel vehement. Sollte das EU-Mercosur-Abkommen scheitern, hat Uruguay bereits Alternativen im Blick und sondiert ein bilaterales Abkommen mit China.
Grundsätzlich hat sich laut Maihold in den Mercosur-Staaten jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Abkommen nicht nur größere Handelsmärkte für die eigenen Agrarprodukte biete, sondern auch eine gewisse „Absicherung gegen europäische Willkür“ bedeute. Maihold erklärt: „Die EU hat wiederholt phytosanitäre oder gentechnikbezogene Binnenmarktregelungen eingeführt, welche es südamerikanischen Produzenten erschweren, kalkulierbare Mengen ihrer Waren auf den europäischen Märkten zu platzieren. Durch ein Abkommen unterliegen die Parteien jedoch den WTO-Regeln und den zugehörigen Streitschlichtungsmechanismen. Dies ermöglicht Produzenten aus Südamerika bessere Chancen, ihre Interessen durchzusetzen.“
Davon, dass die EU nun fußend auf der innereuropäischen Kritik eine zusätzliche Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten beschlossen hat, fühlen sich die Mercosur-Staaten jedoch vor den Kopf gestoßen. Die Verordnung etabliert Sorgfaltspflichten: Europäische Unternehmen werden keine Rohstoffe oder Produkte mehr erwerben, sofern nicht gewährleistet werden kann, dass diese den Anforderungen der Verordnung – also, dass sie ohne Entwaldung oder Waldschäden erzeugt worden sind – gerecht werden. Diese Bedingungen verlangen erhebliche Investitionen in Zertifizierung und Logistik und stellen insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen sowie landwirtschaftliche Produzenten in Südamerika vor bedeutende Hürden. „Die Südamerikaner werfen den Europäern regulativen Imperialismus vor, und das ist bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Die Europäer betonen zwar den partnerschaftlichen Charakter der Zusammenarbeit, bemühen sich jedoch nicht um die Entwicklung gemeinsamer Standards. Stattdessen legt die europäische Seite eigene Standards fest und erklärt, dass diese aufgrund ihrer Marktzugangsregeln nun auch für den Rest der Welt gelten“, sagt Maihold.
Interview mit Günther Maihold, stellvertretender Direktor der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik
Bitte keine Schnellschüsse
Maiara Folly, Geschäftsführerin des brasilianischen Nachhaltigkeits-Think Tanks Plataforma CIPÓ, sieht die Entwaldungsverordnung der EU grundsätzlich durchaus positiv, hält sie jedoch für zu undifferenziert: „Die Anforderung der Null-Abholzung ignoriert etwa die brasilianische Gesetzgebung, die unterschiedliche Grade der Abholzung für verschiedene Ökozonen zulässt. Zudem beinhaltet die Verordnung keine Anreize für die Wiederaufforstung.“
Folly geht nicht so weit wie etwa der brasilianische Botschafter in Brüssel, der die EU-Verordnung als einseitig strafend und damit diskriminierend bezeichnet hat, betont jedoch, dass deren Ziele – also der Stopp der Entwaldung im Amazonas – nur durch eine verstärkte internationale Zusammenarbeit erreicht werden können: „Diese Partnerschaft sollte sich darauf konzentrieren, Länder wie Brasilien bei der Umsetzung ihrer nationalen Politik zur Bekämpfung von Abholzung zu unterstützen. Darüber hinaus ist es für die EU von entscheidender Bedeutung, Kleinbauernvereinigungen zu ermöglichen, die Anforderungen der Verordnung zu erfüllen und gleichzeitig faire Preise für ihre Produkte zu erhalten. Diese Unterstützung ist unerlässlich, um ihren Ausschluss vom EU-Markt aufgrund einer möglichen Nicht-Einhaltung der Entwaldungsverordnung zu verhindern.“
Was, wenn das EU-Mercosur-Abkommen noch scheitert?
Ein weiterer Aspekt, der in der hiesigen Debatte wenig Beachtung findet, betrifft die Folgen, die ein mögliches Scheitern des Abkommens mit sich bringen könnte. Zu verstärktem Amazonasschutz käme es dadurch nämlich kaum, sondern vielmehr wohl zu einer noch ausgeprägteren Präsenz Chinas – das bislang seine Südamerika-Prioritäten nicht auf den Regenwaldschutz gelegt hat. „Hier in Brasilien ist China bereits jetzt bei Weitem der wichtigste Handelspartner. Bei einem Scheitern des Abkommens würde die Position Chinas sicherlich noch weiter an Bedeutung gewinnen“, sagt Günther Sucher. Dem stimmt auch Maiara Folly zu: „Wenn es uns nicht gelingt, wirklich ausgewogene und gegenseitig vorteilhafte Handelsbeziehungen aufzubauen, ist es nur natürlich, dass sich Brasilien und die anderen Mercosur-Länder alternative Märkte suchen, wobei China die bedeutendste Option ist.“
Maihold zufolge würde ein Scheitern dazu führen, dass es zu separaten Verhandlungen der EU mit den einzelnen Mercosur-Staaten kommen könnte: „Man könnte eine Fülle von Fragen bilateral einfacher lösen, aber es wäre ein großer Verwaltungsaufwand. Und vor allem wäre es ein zusätzlicher Tritt für den ohnehin strauchelnden Mercosur-Block.“
So geht’s weiter
Um das Abkommen allem Widerstand zum Trotz durchsetzen zu können, könnte es in ein politisches und ein wirtschaftliches Kapitel geteilt werden, was im EU-Sprech als Splitting bezeichnet wird. Damit würde eine einfache Mehrheit im Europäischen Rat für die jeweilige Umsetzung reichen – für eine Ratifizierung des gesamten Abkommens bräuchte es hingegen die Stimmen aller EU-Mitglieder. Diese Lösung erntet nicht nur bei den bekannten Mercosur-Kritikern Kopfschütteln, auch Experten wie Günther Maihold, die dem Abkommen generell positiv gegenüberstehen, warnen vor einem erzwungenen und unvollständigen Abkommen. Klar ist: Es steht viel auf dem Spiel, sowohl für Südamerika als auch für Europa.
Fotos: Irenanna Sowinska, Riccardo Pravettoni/Grid-Arendal, Bundesregierung/Zahn, Elisabeth Köstinger/Twitter, Maihold, Ronald S. Woan