Leitartikel

Walk the Talk

Christoph Eder, corporAID

Ausgabe 102 – Frühjahr 2024

Nach langen Debatten hat der Europäische Rat ein Lieferkettengesetz verabschiedet. Damit dieses effektiv wirkt, bedarf es jedoch eines umfassenden Ansatzes, der auf nationaler und internationaler Ebene eine starke Durchsetzung der gewünschten Standards sicherstellt.

Eder
Christoph Eder, Chefredakteur

Nach längerem Hin und Her hat der Europäische Rat nun doch ein Lieferkettengesetz beschlossen. Wenn auch in einer etwas abgespeckten Form, vor allem, was Umsetzung und unmittelbare Anwendbarkeit betrifft. Dass Österreich im Verbund mit einigen anderen Staaten hartnäckig die Zustimmung verweigerte, wurde viel kritisiert. Die Heftigkeit der Kritik scheint dabei direkt mit der Bedeutung zu korrelieren, die der weltweiten Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt- und Klimaschutzstandards beigemessen wird: Wer nicht dafür ist, sei letztlich ein gar nicht so heimlicher Befürworter von Kinderarbeit und Beitragstäter zum Klimawandel. 

Diese Suggestion macht es sich zu einfach und riskiert, quasi geblendet von der eigenen moralischen Überlegenheit, die wie immer unperfekte Realität zu vernachlässigen. Dabei ist das Grundanliegen von gesetzlichen Regelungen zu Lieferketten, die Verantwortung der Unternehmen für ihre entsprechenden Aktivitäten zu stärken, zweifellos richtig. Es ist aber ebenso richtig, dass die primäre Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte den Staaten zukommt und sie sich dieser mit Lieferkettengesetzen in einem gewissen Maß entledigen. Denn es ist bequemer zu kontrollieren, ob Unternehmen brav umfassende Formulare ausgefüllt haben, als im politischen Dialog mit schwierigen Partnern die Durchsetzung von Standards zu erreichen und dabei, wenn es sein soll, auch den Konflikt zu suchen und möglicherweise unangenehme Konsequenzen den eigenen Wählern zu erklären. Diesen Zugang kann man sogar zynisch finden. Walk the Talk geht auf alle Fälle anders.

Die schwierigen Entscheidungen sind nicht jene zwischen Gut und Böse, wusste schon der Ende 2023 verstorbene ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, sondern jene zwischen Übeln. Europäische Gesetze werden die Kinderarbeit im globalen Süden nicht durch ihren schieren Beschluss beenden. Das Streben nach einer perfekten Welt birgt die Gefahr, die Augen vor unbequemen Realitäten zu verschließen. Das mag angesichts einer Gesellschaft, die von den Grundlagen und Konsequenzen des eigenen Wohlstandsmodells und Lebensentwurfs immer weniger belästigt werden möchte, populär sein. Lösungskompetenz hat dieser Zugang aber nur bedingt.

Um wirklich effektiv zu sein, müssen Lieferkettengesetze von einem umfassenden Ansatz begleitet werden, der auf nationaler und internationaler Ebene eine starke Durchsetzung der gewünschten Standards sicherstellt. Dafür braucht es die Bereitschaft der europäischen Staaten, Realitäten zu akzeptieren, die tatsächlichen Herausforderungen anzugehen und auch die notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Gefragt ist jene mitunter beschwerliche Transformation, die wir globale nachhaltige Entwicklung nennen. Von hehren Absichten hat letztlich niemand etwas. Oder, wie Henry Kissinger das formuliert hat: Das Beharren auf reiner Moral ist die unmoralischste aller Haltungen.

Foto: Mihai Mitrea