Schulen werden geschlossen, der öffentliche Nahverkehr wird eingestellt, wegen der grassierenden Epidemie greift Panik um sich, denn es wurde nicht genug geimpft. Ebola in Westafrika? Pest in Madagaskar? Masern in Kärnten! 25 Masernfälle wurden dort heuer bereits registriert, laut einem regionalen Nachrichtenportal haben die Masern gar „die Kärntner Bevölkerung weiterhin fest im Griff“. Klingt dramatisch, ist es auch, vor allem wenn man die Perspektive erweitert. Denn von einer vermeintlich harmlosen Kinderkrankheit kann nicht die Rede sein: Im ersten Quartal dieses Jahres wurden weltweit 112.000 Masernfälle gemeldet – und pro Jahr sterben nach wie vor rund 100.000 Menschen an den Folgen dieser Infektion.
Immunologischer Rückfall
Vor einigen Jahrzehnten forderten die Masern jährlich noch 2,6 Millionen Todesfälle, in den Jahren 2000 bis 2017 ermöglichten Impfungen einen Rückgang um 80 Prozent. Zahlen des globalen Wissenschafter-Netzwerks Cochrane Collaboration zufolge hat die Masernimpfung seit der Jahrhundertwende mehr als 20 Millionen Todesfälle verhindert.
Doch nun steigt die Zahl der Krankheitsfälle wieder – und das nicht nur in Entwicklungsländern. Im Jahr 2016 wurden laut Weltgesundheitsorganisation WHO in Europa noch rund 5.000 Masernfälle gemeldet, im vergangenen Jahr waren es bereits mehr als 80.000. In Österreich sind derzeit nur 84 Prozent der Menschen mit den nötigen zwei Dosen gegen Masern geimpft – viel zu wenige, um den sogenannten Herdenschutz zu erreichen, der auch Säuglinge schützt, die nicht gegen Masern geimpft werden können. Dafür bräuchte es eine 95-prozentige Immunisierungsrate. Dass diese in Österreich nicht erreicht wird, liegt nicht am Geld – die Masern-Mumps-Röteln-Impfung gehört zum kostenfreien Impfangebot – sondern an einer verbreiteten Impfskepsis und -nachlässigkeit.
Laut einer aktuellen Umfrage des Österreichischen Verbands der Impfstoffhersteller sehen 16 Prozent der Österreicher Impfungen skeptisch, mehr als die Hälfte der Bevölkerung glaubt gar, dass diese häufig schwere Nebenwirkungen verursachen. Dabei ist das Gegenteil richtig: Gesundheitliche Schäden infolge einer Masernerkrankung sind um den Faktor 100 bis 1.000 wahrscheinlicher als Risiken durch die Impfung. „Es ist wirklich paradox, dass Menschen an einer der besten Schutzmöglichkeiten, die wir heute in der Medizin haben, zweifeln. Gerade bei den Impfungen ist so viel gesichertes Wissen da, dass mich das persönlich zutiefst erschüttert“, sagt Ursula Wiedermann. Vier mit Stoppschildern und einem unmissverständlichen „Eintritt verboten“ bedruckte Zettel hängen vor dem Trakt, der ins Reich von Frau Wiedermann führt – sie ist Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Medizinischen Universität Wien, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Vakzinologie ÖgVak und damit Österreichs oberste Impfinstanz. An ihrem weißen Kittel hängt ein orangefarbener Anstecker mit der Aufschrift: „Geimpft! – Geschützt! – Sicher!“ Der Slogan ist Teil einer Kampagne, mit der die umtriebige Medizinerin das österreichische Gesundheitspersonal erreichen will.
Dem Schutz verpflichtet
So vertritt Wiedermann auch in der aktuellen Diskussion über die Einführung einer Impfpflicht die Ansicht, man müsse zwar vorsichtig vorgehen, wenn es um die Einschränkung der Entscheidungsfähigkeit der Bevölkerung geht, beim Gesundheitspersonal brauche es aber klare Vorgaben: „Die Impfpflicht sollte für das gesamte Gesundheitspersonal – also Ärzte, Pflegepersonal, Hebammen – gelten. Zudem sollte überlegt werden, ob für Kinder vor Eintritt in Kindergärten, Horte und Schulen die Masern-Mumps-Röteln-Impfung verpflichtend gefordert wird. Ich glaube, mit dem Ansatz, der zuletzt im Gesundheitsministe- rium verfolgt worden ist – ‚Alles ist in der Eigenverantwortung’ –, macht man es sich etwas zu einfach.“ Sie begründet das mit dem Mangel an Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung: „Man kann Menschen nur dann in die Eigenverantwortung entlassen, wenn sie auch über ein ausreichendes Wissen verfügen. Die öffentliche Hand und das gesamte Schul- und Ausbildungssystem sind hier daher gefordert, Informationen möglichst früh in Erziehung und Ausbildung zu vermitteln.“
In New York erkrankten seit vergangenem Oktober rund 300 Menschen an Masern – nach lediglich zwei Fällen im Jahr 2017 –, woraufhin Bürgermeister Bill de Blasio einen Notstand für Teile Brooklyns ausrief und eine Impfpflicht einführte. Verstöße werden mit bis zu 1.000 Dollar Strafe geahndet. In zehn EU-Ländern, allen voran in Osteuropa, wurde die Masernimpfpflicht teilweise schon vor Jahren eingeführt. Ungarn glänzt mit einer Impfrate von 99 Prozent, die Slowakei erreicht 97 Prozent und Slowenien 94 Prozent. Laut einer aktuellen Studie der Europäischen Kommission äußern sich aber gerade die Bürger aus Ländern mit Impfpflicht besonders skeptisch über Impfungen.
Daten und Fakten: Tödliche Infektionen
Doch was würde passieren, wenn sich Menschen nicht mehr impfen ließen? Welche fast vergessenen Krankheiten würden zurückkehren? Es mutet absurd an, dass in den Industrieländern Menschen freiwillig auf Impfungen verzichten, während in anderen Weltregionen Kindern wegen fehlender Finanzierung und Transporthürden lebenswichtige Impfungen vorenthalten werden.
Endlich das Fieber senken
Es lohnt wie immer ein Blick auf den Nachbarkontinent, denn in Afrika gibt es einen Hoffnungsschimmer im Kampf gegen die verbreitetste Infektionskrankheit der Welt: Malaria. Von den weltweit 219 Mio. Malariafällen im Jahr 2017 fielen 90 Prozent auf Afrika. Insgesamt starben daran 435.000 Menschen, davon 266.000 Kinder unter fünf Jahren – ein totes Kind alle zwei Minuten.
Ein neuer Impfstoff hat diesen Kampf nun aufgenommen: RTS,S, von dem das Pharmaunternehmen GSK nach jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung nun bis zu zehn Mio. Dosen der WHO kostenfrei zur Verfügung stellt (siehe Interview). „Der Malaria-Impfstoff hat das Potenzial, zehntausenden Kindern das Leben zu retten“, freut sich WHO-Pressesprecher Christian Lindmeier. Die Weltgesundheitsorganisation startete kürzlich im ostafrikanischen Malawi die weltweit erste Malaria-Impfkampagne. In den kommenden drei Jahren sollen 360.000 Kleinkinder in Malawi, Ghana und Kenia geimpft werden – und langfristig könnte die Kampagne auf ganz Afrika ausgeweitet werden.
Allerdings liegen die Erfolgsaussichten derzeit noch bei nicht mehr als 40 Prozent. Denn die durch Stiche der Anophelesmücke übertragenen Malariaerreger sind hochkomplexe, widerstands- und anpassungsfähige Parasiten, die mit Impfstoffen wesentlich schwieriger zu bekämpfen sind als Viren, die etwa zu Masern oder Ebola führen. Daher bleiben Moskitonetze und grundsätzliche Aufklärungsbemühungen bis auf weiteres unverzichtbar. Pedro Alonso, Direktor des Malariaprogramms der WHO, bezeichnet den neuen Impfstoff in diesem Sinne als Verstärkung des leider noch unvollkommenen Werkzeugkastens im Kampf gegen Malaria.
Interview mit Lode Schuermann, GlaxoSmithKline
Retter im Minutentakt
Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass für den Impfschutz vier Injektionen über einen Zeitraum von zwei Jahren notwendig sind – insbesondere im ruralen Afrika eine Herausforderung. Der Problematik will sich die WHO schrittweise stellen. Die ersten Erfahrungen sind aber laut Lindmeier ein Grund zur Freude: „Bislang gab es großes Engagement für die Umsetzung dieses richtungsweisenden Programms, auch von Gesundheitspersonal und den Communities, die sich für den Schutz ihrer Kinder einsetzen. Dies wird entscheidend für den endgültigen Erfolg sein.“
Zuversichtlich macht darüber hinaus, dass auch beim Kampf gegen Diphterie-Tetanus-Keuchhusten (DTP), der ebenfalls mehrere Impfungen erfordert, in vielen Ländern Afrikas beeindruckende Erfolge erzielt wurden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Großstudie mehrerer US-amerikanischer und britischer Universitäten, die auf DTP-Impfdaten von rund 880.000 Kindern in 49 afrikanischen Ländern beruht. So stieg die geschätzte Abdeckung durch die dritte Dosis in Afrika von 2000 bis 2016 um 72,3 Prozent. Bis heute sind die Diskrepanzen zwischen den Ländern aber groß: In Marokko (99 Prozent) und Ruanda (98 Prozent) ist die DTP-Impfdichte besonders hoch, in Somalia (42 Prozent) und im Südsudan (26 Prozent) besonders niedrig. Dazu kommt das Stadt-Land-Gefälle: Beispielsweise sind in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba 93,1 Prozent der Kinder gegen DTP geimpft, in Teilen der nordäthiopischen Afar-Region sind es nur 9,7 Prozent.
Distribution 2.0
Wie in Ruanda, wo seit 2016 die Drohnen des US-amerikanischen Unternehmens Zipline vor allem akut benötigte Blutkonerven zu Spitälern bringen (siehe auch corporAID Magazin Ausgabe 75), könnten zukünftig auch Impfstoffe in entlegene Regionen gelangen. Ghana macht hier den Anfang: Im April wurde in dem westafrikanischen Land das weltweit größte Drohnen-Netzwerk für Impflieferungen installiert. Rund um die Uhr starten insgesamt 120 Drohnen von vier Distributionszentren aus und versorgen 2.000 Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land – spätestens dreißig Minuten nach telefonischer Bestellung sollen die Impfstoffe geliefert sein, was vor allem für Notfallbehandlungen, etwa mit Antiserum nach Schlangenbissen, lebenswichtig sein kann.
„Innovative Distributionstechnologien machen den Transport von Impfstoffen einfacher und vor allem sicherer“, berichtet WHO-Pressesprecher Lindmeier. Diese Sicherheit umfasst auch eine durchgehende Kühlkette, die aktuell häufig eine große logistische Herausforderung darstellt. Helfen könnte hier zukünftig auch die Blockchain-Technologie: Die deutsche Entwicklungsbank KfW und die Impforganisation Gavi haben kürzlich ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, das die Möglichkeiten dieser Technologie für die Unterstützung von Impfkampagnen durch eine lückenlose Sendungsverfolgung ausloten soll.
Mit großen Schritten voran
Die Zukunft des Impfens ist mehr denn je in Bewegung, nicht nur was den Transport, sondern vor allem auch was die Erforschung neuer Impfstoffe angeht: „In Zukunft wird es nicht mehr nur Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten, sondern etwa auch gegen Krebs, Diabetes und Alzheimer geben – denn das sind die Zivilisationskrankheiten, mit denen wir in unseren Breiten vermehrt zu tun haben“, sagt die heimische Expertin Ursula Wiedermann. Und diese Zukunft sei gar nicht so fern: „Ich erwarte mir, dass in den nächsten zehn Jahren einige spannende Impfstoffe neu hinzukommen werden. Da ist eine Revolution in der Denke und in den Technologien passiert.“
Revolutionäre Erfolge zeichnen das Impfen nun bereits seit Jahrzehnten aus: Die Pocken, die im Mittelalter bis zu jeden zehnten Todesfall verursachten und denen selbst im 20. Jahrhundert noch rund eine halbe Milliarde Menschen zum Opfer fiel, sind dank Impfungen nunmehr seit knapp 40 Jahren aus- gerottet. Polio-Fälle gab es 2018 nur noch in zwei Ländern – Afghanistan und Pakistan –, Diphtherie und viele weitere Krankheiten sind zurückgedrängt worden. Vor vierzig Jahren erhielt weltweit gerade einmal jedes fünfte Kind lebensrettende Impfstoffe, heute sind es 85 Prozent. Davon profitieren vor allem die Kinder in Entwicklungsländern.
Aber auch in Kärnten stehen Impfungen aktuell wieder hoch im Kurs: Wenige Tage nach Bekanntwerden der Masernfälle wurden allein in Klagenfurt mehr als 1.000 Masernimpfungen ausgegeben – im gesamten April 2018 waren es nur 38.
Infobox: Erfolge im Kampf gegen Cholera und Meningitis
In Mosambik wütete im März ein schwerer Zyklon, der nicht nur mehr als tausend Menschenleben forderte und schwere Schäden anrichtete, sondern infolge der Überschwemmungen auch zu einem Cholera-Ausbruch führte. Die mosambikanische Regierung reagierte schnell und ließ unter Mithilfe internationaler Organisationen binnen zehn Tagen 800.000 Menschen impfen – auch in den entlegensten Gebieten, die per Helikopter, Motorrad und Boot angesteuert wurden. Zudem wurde das zerstörte Wassersystem rasch repariert. Bereits vier Wochen nach dem Ausbruch der Epidemie konnten die eigens eingeführten Cholera-Zentren wieder geschlossen werden.
Nachdem in den späten 1990er Jahren 250.000 Menschen in Subsahara-Afrika an der lebensbedrohlichen Hirnhautentzündung Meningitis erkrankten, erklärten die Gesundheitsminister der betroffenen Länder, internationale Organisationen und das Pharmaunternehmen Serum Institute of India die Entwicklung eines erschwinglichen Meningitis-Impfstoffs zur Priorität. 2010 kam der erste eigens für Afrika entwickelte Impfstoff MenAfriVac auf den Markt, mehr als 300 Millionen Menschen wurden im sogenannten Meningitis-Gürtel geimpft und, wo immer dies geschah, verschwand die Krankheit. MenAfriVac gilt damit als ein Vorzeigemodell für öffentlich-private Partnerschaften im Bereich der Impfstoffentwicklung.