Verkehrsstau-Quiz

Man sitzt im Auto und steht. Und steht. Dann bewegt sich die Wagenkolonne für einen Moment. Schon steht man wieder. Und wartet. Und steht. Man blickt aus dem Wagenfenster: Rückfenster, Autodächer, Busse, Rikschas. Dazwischen schlängeln sich Mopedtaxis hindurch, Straßenverkäufer preisen ihre Waren an und klopfen an die Fensterscheiben, um Snacks, Getränke oder Handykarten anzubieten. Dann kommt der Verkehr in Bewegung. Kurz. Dann steht man wieder. Und wartet. Und steht. Hat man einen wichtigen Termin, darf man nun langsam nervös werden.

Wer in Städten wie Dhaka, Jakarta oder Nairobi unterwegs ist, kennt solche Verkehrsstillstände. Sie gehören dort zum Alltag. Immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländer sind mit einem wachsenden Verkehrsaufkommen konfrontiert, das die Ballungszentren undurchdringlich macht. Erhöhter Verkehr ist dabei ökonomisch gesehen nicht unbedingt eine schlechte Nachricht für diese Länder, sondern ein Indikator für zunehmenden Wohlstand. Die Mittelschicht wächst, immer mehr Menschen können sich ein Auto leisten. Das erhöhte Verkehrsaufkommen ist auch eine Folge der zunehmenden Verstädterung. Gerade Städte treiben den Wohlstand an, da in ihnen die Wirtschaft konzentriert und schneller wachsen kann.

Überforderte Städte

Nairobi etwa hatte im Jahr 1965 rund 380.000 Einwohner, heute drängen sich im gesamten Ballungsraum etwa sieben Millionen. Die Infrastruktur kommt mit der rasanten Entwicklung nicht mit. Freilich gibt es auch in Städten westlicher Industrieländer Staus – New York oder London sind Beispiele dafür. Überhaupt ist ein gewisses Stauaufkommen in Großstädten, in denen die Mobilität steigt, schlicht unvermeidbar, wie der Entwicklungsökonom Yi Jiang in einem Beitrag für die Asian Development Bank konstatiert. Doch generell gilt: Je geringer die Wirtschaftskraft eines Landes ist, desto langsamer rollt der Verkehr.
Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie der privaten Forschungsorganisation National Bureau of Economic Research aus den USA. Für ihre Untersuchung haben die Forscher Google Maps Daten von mehr als 1.200 Städten herangezogen und verglichen. Das Ergebnis: Am schnellsten fließt der Verkehr in Städten der USA, in Saudi-Arabien oder Australien. Die langsamsten Städte befinden sich allesamt in Schwellen- und Entwicklungsländern. Zu den Top 10 der langsamsten Städte überhaupt gehören Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch, Lagos in Nigeria und Manila auf den Philippinen.
Laut den Forschern ist es dabei nicht einmal unbedingt die Verkehrsdichte, die die Städte so verlangsamt. Denn die gibt es auch in US-Städten. Doch haben diese eine Vielzahl an breiten, gut asphaltierten Straßen, auf denen der Verkehr dahinrollen kann. In Bangladesch hingegen bewegt sich der Verkehr so langsam, „weil seine Städte von vielen Wasserläufen durchquert werden, dichter bevölkert sind und weniger große Straßen für den Verkehr haben“, analysieren die Forscher. Und dies sind die äußerst negativen ökonomischen Folgen der Verkehrsverlangsamung: Je länger Waren unterwegs sind, desto höher sind die Transportkosten. Laut der Bangladesh University of Engineering and Technology lag der Schaden für Bangladeschs Wirtschaft infolge des Verkehrschaos auf den Straßen von Dhaka im Jahr 2020 bei 6,5 Milliarden Dollar.
 

„Wir brauchen mehr Ordnung“ 

Persönlich betroffen vom täglichen Verkehrsstillstand ist Adil Mohammed Khan. Er lebt in Dhaka und ist dort Vorsitzender des Bangladesh Institute for Planners, einem akademischen Verein von Stadt- und Landschaftsplanern. Der Forscher ist der Ansicht, dass in einer Megacity wie Dhaka, in deren Ballungsraum etwa 22 Millionen Menschen leben, die Verkehrsplanung erst einmal beim Grundsätzlichen ansetzen sollte, um das Chaos auf den Straßen in den Griff zu bekommen. In der Metropole teilen sich nämlich häufig Fußgänger und Fahrzeuge die Straße. Mopeds, Rikschas, Autos und Busse versuchen, oft entgegen allen Regeln, jede Lücke zu nutzen – und sorgen damit erst recht für einen Verkehrsinfarkt. 
 
„Man muss für mehr Ordnung sorgen. Das kann man erreichen, indem man mehr Ampeln aufstellt, das Aufkommen der Straßenhändler reguliert und die Fußwege verbessert“, betont Khan. „Aber auch die Anzahl der Autos auf den Straßen sollte man regulieren, etwa durch Nutzungsgebühren.“ Derartige Maßnahmen hätten auch den Vorteil, dass sich ihre Kosten in überschaubaren Grenzen halten. Denn eine zentrale Frage für ein Entwicklungsland lautet: Wie kann man mit den begrenzt verfügbaren Mitteln die vorhandene Infrastruktur verbessern? „In Dhaka wäre es das Naheliegendste, in das öffentliche Bussystem zu investieren“, ist Khans Empfehlung. Denn Busse könnten nicht nur viel mehr Leute befördern als Autos, sondern wären auch leistbar für den Großteil der Bewohner. 
 
Laut Khan sollten Investitionen in größere Projekte erst erfolgen, wenn diese grundlegenden Verbesserungen vorgenommen wurden. Doch in Dhaka gehe die Politik genau den umgekehrten Weg, bedauert der Forscher. Die Stadt plane nun fünf bis sechs U-Bahn-Linien und große Durchfahrtsstraßen – sogar eine Autobahn wurde durch die Stadt gelegt. Diese Investitionen sind laut Khan die falsche Priorität, weil sie viel zu gigantomanisch seien und daher das Budget für andere Maßnahmen fehle. Vielen Menschen würden sie zu wenig bringen – die Tickets für die Metro dürften für viele Bewohner zu teuer sein.
 
Für die Forscher des National Bureau of Economic Research wiederum ist der Bau von Durchfahrtsstraßen eine logische Entwicklung der Verkehrspolitik. Sobald die Länder mehr Steuereinnahmen haben, könne man erwarten, dass sie das Geld für den Ausbau des Straßennetzes verwenden. Außerdem verbessern sie die vorhandenen Straßen, die in ärmeren Ländern oft voller Schlaglöcher oder nicht asphaltiert sind. Das erhöht wiederum die Verkehrsgeschwindigkeit, was ein gewünschter Effekt sei und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibe.
 
Der durchschnittliche tägliche Arbeitsweg dauert in den verstopftesten Städten der Welt mehr als eine Stunde – one way. Die Top 10 wird von schnell wachsenden Metropolen in Entwicklungsländern dominiert. Wien liegt mit 23 Minuten auf Rang 197.
Top 3 Staustädte: Colombo, Lagos, Dhaka

Infrastruktur Mensch

Spricht man mit Hubert Klumpner, dann stellt sich die Lage nicht ganz so einfach dar. Klumpner ist Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Stadtentwicklung und dabei auch sehr intensiv mit Schwellen- und Entwicklungsländern. Seiner Überzeugung nach kann die Verkehrspolitik nicht nur für sich, sondern muss mit all den anderen Feldern der Stadtplanung gemeinsam gedacht werden, etwa mit der Umwelt- und Energiepolitik, aber auch der Soziologie und Philosophie. „Die Menschen sind eigentlich die Infrastruktur, um die es geht. Und wir müssen mit den anderen Infrastrukturen die höchstmögliche Qualität für eine größtmögliche Anzahl von Leuten produzieren“, betont er. Dieser ganzheitliche Ansatz ändert auch den Blick auf den Straßenverkehr. Denn, so Klumpner: „Straßen sind an sich nicht das Problem, schon die Römer haben sie gebaut. Es geht darum, wer und was sich auf ihnen bewegt. Das müssen nicht Autos sein.“ Wenn nun aber in Schwellen- und Entwicklungsländern der Straßenbau für den benzingetriebenen Individualverkehr vorangetrieben wird, dann wird laut Klumpner ein Modell aus dem Westen wiederholt, das dieser selbst nicht mehr haben will. Denn in den Industrieländern werden gerade viele Städte zurückgebaut und renaturiert, „weil man sich gewisser Qualitäten bewusst wird: Man will saubere Luft, sauberes Wasser und einen sauberen Boden, der nicht kontaminiert ist.“ Diese Qualitäten sollte man bei künftigen Stadtplanungen von Anfang an mitdenken, anstatt sie nachher zurückgewinnen zu müssen.

Auch Marcela Guerrero Casas, Mitgründerin der Plattform Local South, die Akteure des Globalen Südens verbinden will, arbeitet an Alternativen zum Autoverkehr – etwa am Ausbau von Radwegen. Doch räumt sie ein, dass es in Kapstadt, wo sie lebt, schwierig sei, auf das eigene Auto zu verzichten, wenn man es sich leisten kann. „Denn der öffentliche Verkehr ist schlecht ausgebaut.“ Und dann käme auch noch die Sicherheitsfrage hinzu: So habe sich eine ehemalige Kollegin, die ohne PKW leben wollte, erst kürzlich ein Auto gekauft, nachdem sie an einer Busstation ausgeraubt worden war.

Peer-to-Peer Learning

Generell betont Casas, dass Städte in Entwicklungsländern mehr voneinander lernen können als von westlichen Städten. „Klar wäre es wunderbar, eine Infrastruktur wie Amsterdam zu haben“, sagt sie. „Aber die Bedingungen in Städten des Globalen Südens sind einfach ganz andere: Wir haben hier andere Budgets und auch andere Prioritäten. Wir müssen über Verbrechensprävention nachdenken und wie wir Leute in den ökonomischen Kreislauf bekommen und nicht, wie wir eine Straße voller Kaffeehäuser am besten gestalten.“
 
Und das ist dann auch immer wieder die entscheidende Frage: Was wird mit den Budgets gemacht und in welchen Bereichen setzen Fördergeber Prioritäten? Klumpner war mit seinem Büro Urban Think-Tank involviert, als die Vorarlberger Firma Doppelmayr im venezolanischen Caracas eine Seilbahn errichtete – ein Projekt, das von der Planung bis zur Inbetriebnahme von 2003 bis 2010 dauerte. Von einem Berg, auf dem etwa 40.000 Bewohner lebten, brachte man die Leute aus diesem ärmeren Viertel in die U-Bahn und somit ins Zentrum. Dafür gab es einen politischen Anreiz, weil die Verkehrsbetriebe von der Zentralregierung umso mehr Geld bekamen, je mehr Fahrgäste die U-Bahn benutzten. „Von den großen Entwicklungsbanken gab es damals keine Förderungen“, berichtet Klumpner. Diese hätten ihren Schwerpunkt viel stärker auf den Autoverkehr gelegt – der bis heute eine starke Lobby habe. 
 
Es gibt von Entwicklungsbanken aber auch Gelder für den öffentlichen Verkehr. So gibt die Weltbank an, seit 2012 nicht weniger als 28 Projekte für den öffentlichen Verkehr in 18 verschiedenen Ländern unterstützt zu haben. Darunter fallen etwa die Errichtung von U-Bahn-Linien wie in São Paulo oder Schnellbussysteme. 
 
Eines dieser Schnellbussysteme befindet sich in Daressalam in Tansania. Mit der Errichtung wurde 2012 begonnen. Damals erhielt die österreichische Strabag den Auftrag für den Bau von Busspuren und -stationen in Höhe von 134 Millionen Euro. Eine Studie der International Initiative on Impact Evaluation über den Effekt der ersten Jahre des Bussystems – untersucht wurde die Zeit von 2016 bis 2019 – ergab, dass sich die Fahrzeiten von Vororten ins Zentrum im Schnitt um eine halbe Stunde verringert hatten und die Passagiere sich nun auch sicherer fühlten. Die ökonomischen Effekte wie eine erhöhte Geschäftstätigkeit entlang der Strecke kamen vorerst aber nicht in dem erwarteten Ausmaß zustande. 
 
Große Durchfahrtsstraßen werden weiter kräftig errichtet, doch scheint der Ausbau eines umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrs vielerorts langsam mehr Beachtung zu finden. So hat sich etwa Dakar, die Hauptstadt des Senegals, eine Flotte an E-Bussen zugelegt – an dem Projekt war das deutsche Telematik-Unternehmen CarMedialab beteiligt. Die Weltbank begründet Förderungen in diesem Bereich damit, dass dadurch mehr Menschen effizienter befördert, Verkehrsinfarkte vermieden und viele Tonnen CO2 eingespart werden. Und das eröffnet auf diesem Feld tätigen Unternehmen da und dort Chancen. 

Warten auf die Wartung

Auf eigenen Spuren

Die 2015 im äthiopischen Addis Abeba eröffnete Metro verbindet entlang einer 32 Kilometer langen Strecke das Zentrum mit den Vororten und wurde auch wegen der niedrigen Ticketpreise als revolutionäre Lösung für das Verkehrsproblem der Stadt gefeiert. Heute sind von der für 475 Mio. US-Dollar vorrangig von China finanzierten und errichteten Metro nur noch ein Drittel der 41 Züge in Betrieb. Das Problem: fehlende Wartung und Mangel an Ersatzteilen. Der Umschwung soll kommen – mithilfe eines chinesischen Kredits.
Netzplan der Stadtbahn Addis Abeba
Die tansanische Metropole Daressalam setzt seit 2016 auf ein Schnellbussystem, das im Endausbau über eine Strecke von 130 Kilometern eigene Spuren umfassen soll. Aufgrund vielfältiger Verzögerungen gelten erst zwei der fünf Bauphasen als abgeschlossen. Aber bereits heute befördert die kostengünstige Öffi-Variante (ein Ticket gibt es für umgerechnet etwa 25 Cent) täglich rund 300.000 Passagiere, deren durchschnittliche Zeitersparnis laut einer Studie eine halbe Stunde pro Weg beträgt.
Netzplan des Schnellbussystems in Daressalam

Keine Patentlösung

Bei der Planung des Verkehrs und den Maßnahmen zur Verkehrsbeschleunigung wird es aber keine Patentlösung geben. Casas verweist darauf, dass Städte verschieden angelegt sind. In Südafrika sind sie weitläufig, weil ein großer Teil der Bevölkerung während der Apartheid an den Rand gedrängt wurde. Andere wie Bogotá oder São Paulo sind wieder sehr dicht besiedelt. Manche Städte sind flach, andere hügelig. Und dann gibt es noch den Effekt, dass man mit jedem Angebot auch die Nachfrage erhöht. So wurden in Manila und Bangkok neue große Straßen gebaut – mit der Auswirkung, dass das Verkehrsaufkommen nochmals gewachsen ist und diese Straßen erst recht verstopft sind. Und auch ein attraktives öffentliches Bussystem zieht wiederum mehr Fahrgäste an und kommt schnell an den Rand seiner Kapazitäten. Es muss ständig erweitert und verbessert werden – zumal die Städte ja auch rasant wachsen. Dafür braucht es wiederum eine langfristige Planung und entsprechende Budgets, während sich Förderbanken oft an der Umsetzung einzelner Projekte orientieren. 

Eine Maßnahme scheint aber an vielen Orten notwendig zu sein: Um den Verkehrsstillstand aufzuhalten, um die Menschen besser zu verteilen, braucht es Dezentralisierung. Klumpner denkt diese in dem Sinne, dass kleinere und mittlere Städte attraktiv gemacht und durch Infrastruktur, etwa Bahnstrecken, angebunden werden. Er gibt zu bedenken: „Das ist aber auch eine politische Frage, die viel Gestaltungswillen voraussetzt.“ 

Und auch Khans Empfehlung wäre, in Bangladesch „andere Regionen als Dhaka attraktiv zu machen – einerseits durch Förderungen, aber auch durch Regulierungen, etwa von Betriebsansiedelungen“. Denn derzeit würden die Leute nach wie vor in die Hauptstadt strömen, weil sie sich dort am ehesten eine Einkommensmöglichkeit erwarten. Diese Konzentration auf einen Ort sei aber keine nachhaltige Entwicklung. „Wir brauchen einen klaren Flächenwidmungsplan“, sagt der Stadtplaner. „Nur so kann auch Verkehrsplanung funktionieren.“

Mehr Asphalt

Auf Schiene

Die philippinische Hauptstadt Manila sagt dem täglichen Verkehrsinfarkt mit neuen Straßen den Kampf an. So leer wie auf diesem Bild sind diese jedoch selten.
Die Metro in Brasiliens Megametropole São Paulo befördert täglich mehr als vier Millionen Passagiere – und wird fortwährend ausgebaut.

Fotos: Sk Hasan Ali, HubPags ASaber91/Flickr Anuradha Dullewe Wijeyeratn, Peter Rigaud, Privat, Turtlewong, weltbank (2), carmudi