Die Coronapandemie hat ein Schlaglicht auf internationale Lieferketten geworfen und viele Aspekte einer global vernetzten Wirtschaft sichtbarer gemacht. „Durch die Pandemie sind Lieferketten weltweit unter Druck geraten. Das hat vielen Menschen vor Augen geführt, wie international verflochten die Wirtschaft mittlerweile ist und wie vulnerabel Lieferketten sein können“, sagt Daniel Weiß vom deutschen Think-Tank adelphi, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema nachhaltiges Lieferkettenmanagement befasst. Dabei geht es um weitaus mehr als nur um Verfügbarkeit, Termintreue und Qualität: Ob ausbleibende Lohnzahlungen für Textilarbeiter in Bangladesch, die Abholzung von Tropenwäldern für die Palmölproduktion in Indonesien oder Kinder- und Zwangsarbeit auf Kakaoplantagen in Ghana – es gibt so einiges, was in globalen Wertschöpfungsketten schieflaufen kann.
Lieferkettengesetze: Der Stein kommt ins Rollen
Die Diskussion darüber, wie menschenwürdige Arbeitsbedingungen und der verantwortungsvolle Umgang mit Umweltressourcen auch in global verzweigten Wertschöpfungsketten gewährleistet werden können, wird seit Jahrzehnten intensiv geführt. Es war und ist im Kern eine mitunter festgefahrene Debatte über Selbstverpflichtung – Soft Law – versus gesetzliche Regulierung – Hard Law. 2011 einigte sich die Staatengemeinschaft im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen auf die sogenannten Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Diese stellten erstmals einen – rechtlich unverbindlichen – Orientierungsrahmen für eine Sorgfaltsprüfung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte durch Unternehmen auf. Und sie waren gemeinsam mit den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen Ausgangspunkt für viele der weiteren, immer öfter verbindlicheren Entwicklungen.
Es folgten erste Rechtsnormen mit Fokus auf Berichtspflichten wie der California Transparency in Supply Chains Act und der Dodd-Frank Act 2012 in den USA sowie die EU-Richtlinie zur nicht-finanziellen Berichterstattung 2014. Letztere wurde in Österreich etwa durch das Nachhaltigkeits- und Diversitätsverbesserungsgesetz 2017 in heimisches Recht umgesetzt. Rund 120 große österreichische Unternehmen müssen seither jährlich in ihren Geschäftsberichten auf Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption Bezug nehmen. Und wer in Großbritannien Geschäfte tätigt, muss seit dem Erlass des UK Modern Slavery Act 2015 einen jährlichen Bericht über seine Maßnahmen zur Bekämpfung von Sklaverei und Menschenhandel vorlegen.
Dass Worte nicht unbedingt Taten folgen, wurde schnell klar. Der Erlass des „Loi sur le devoir de vigilance“ in Frankreich 2017 markierte den Beginn einer neuen Welle von Gesetzen, die nicht nur eine Berichtspflicht, sondern auch robuste Sorgfaltsprozesse vorschreiben. Das Loi de vigilance verpflichtet große französische Unternehmen dazu, einen umfassenden Überwachungsplan für Risiken schwerer Verletzungen von Menschenrechten, Gesundheit und Sicherheit von Personen sowie Umweltzerstörungen in der gesamten Lieferkette zu erstellen, zu veröffentlichen und umzusetzen. Auch ein 2019 verabschiedetes niederländisches Gesetz, das Wet Zorgplicht Kinderarbeid, hält Unternehmen dazu an, eine Sorgfaltsprüfung in Bezug auf Kinderarbeit in ihren Lieferketten durchzuführen. Und die EU-Konfliktmineralienverordnung, die seit Anfang 2021 in Kraft ist, erlegt Importeuren bestimmter Metalle wie Zinn, Gold, Tantal und Wolfram ebenfalls Sorgfaltspflichten auf, um zu verhindern, dass durch deren Handel bewaffnete Konflikte finanziert werden.
Vom Soft Law zum Hard Law
Die menschenrechtliche Regulierung der Wirtschaft ist grundsätzlich nichts Neues. Doch sie hat deutlich an Fahrt aufgenommen: Durch viele der neuen Regelungen werden Unternehmen nicht nur Berichtspflichten, sondern auch konkrete menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltsprozesse verordnet.
Aktuelle Dynamik beim Thema Lieferkettengesetze
Das Jahr 2021 könnte nun als jenes in die Geschichte eingehen, in dem Soft Law in Bezug auf die Lieferkette endgültig zu Hard Law wird. „Was wir aktuell sehen, ist eine zunehmende Konkretisierung und Verrechtlichung, aber auch mehr Klarheit und steigende Erwartungen von Konsumenten an transparente und nachhaltige Lieferketten“, so Weiß. Zehn Jahre nach der Verabschiedung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte hat sich die deutsche Bundesregierung auf den Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes geeinigt, das bereits im Juni vom Bundestag verabschiedet werden soll. Der Hintergrund: Das Monitoring zur freiwilligen Umsetzung des deutschen Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte durch deutsche Unternehmen lieferte ernüchternde Ergebnisse, weniger als 20 Prozent der Betriebe setzten entsprechende Maßnahmen um. Ab 2023 müssen große deutsche Unternehmen nun verstärkt auf die Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren Lieferketten achten. Bei Verstößen drohen je nach Vergehen Bußgelder von 100.000 bis 800.000 Euro.
Auch auf EU-Ebene nimmt das Thema Fahrt auf: Das Europäische Parlament verabschiedete am 10. März einen Entschließungsantrag mit Empfehlungen an die Kommission für verbindliche Regeln zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen. Den Anstoß dazu gaben die Ergebnisse einer von der EU-Kommission schon 2018 in Auftrag gegebenen Studie, die zeigte, dass in einem freiwilligen System nur jedes dritte europäische Unternehmen seine globalen Lieferketten mit Blick auf Menschenrechte und Umweltauswirkungen prüft. „Die EU-Studie hat aber auch gezeigt, dass mittlerweile viele Unternehmen einer einheitlichen Lieferkettenregelung auf EU-Ebene positiv entgegensehen: Nicht weniger als 70 Prozent der Unternehmen befürworten ein solches Level Playing Field“, weiß Iris Hammerschmid von der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer.
Insbesondere Unternehmen, die branchen- und länderübergreifend tätig sind, sehen sich heute mit den unterschiedlichsten Nachhaltigkeits- und Sorgfaltspflichten sowie heterogenen nationalen Rechtsvorschriften konfrontiert. So sind auch manche österreichische Unternehmen jedenfalls von bestehenden Lieferkettengesetzen und Gesetzesinitiativen betroffen: „Das französische Gesetz etwa kann Ausstrahlungswirkung auf konzernweite Compliance-Programme für österreichische Gruppengesellschaften haben, und die niederländische Gesetzesregelung gilt nach dem voraussichtlichen Inkrafttreten im Jahr 2022 auch für alle österreichischen Firmen, die Produkte an niederländische Endkunden liefern oder Dienstleistungen in den Niederlanden erbringen“, so Hammerschmid.
Der stetig wachsende Flickenteppich unterschiedlicher nationalstaatlicher Regelungen soll bald abgelöst werden: Noch vor dem Sommer will die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag zu diesem Thema vorlegen, der für alle in der EU tätigen Unternehmen dieselben Bedingungen schaffen soll. Der Entschließungsantrag des EU-Parlaments lässt erahnen, dass eine kommende EU-Richtlinie zur Sorgfalts- und Rechenschaftspflicht von Unternehmen ehrgeizig ausfallen wird. EU-Justizkommissar Didier Reynders betont selbst gerne, dass der Kommissionsentwurf „mehr Zähne“ haben werde als etwa das geplante deutsche Sorgfaltspflichtengesetz.
Mehr Zähne erhofft sich auch eine Allianz zivilgesellschaftlicher Organisationen und Arbeitnehmervertretungen, die sich derzeit für ein Lieferkettengesetz in Österreich einsetzt. Dass die österreichische Bundesregierung diesbezüglich dem deutschen Vorbild folgt, hält Iris Hammerschmid trotz Bekenntnis im türkis-grünen Regierungsprogramm zur „Prüfung zusätzlicher Maßnahmen zur Stärkung der unternehmerischen Verantwortung für Menschenrechte im Sinne der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen“ für eher unwahrscheinlich. „In Österreich wird man wohl den Kommissionsvorschlag abwarten. Spätestens wenn die EU-Richtlinie verabschiedet wird, muss sich aber auch Österreich damit beschäftigen und diese in nationales Recht umsetzen“, sagt Hammerschmid.
Interview mit Michaela Schmiedchen, KPMG
Menschenrechte sind kein Randthema.
Zeit für Action
Klar ist: Auch für österreichische Unternehmen ist es höchste Zeit, ihre Lieferketten zu durchleuchten. Für Michaela Schmiedchen, Senior Managerin im Bereich Sustainability Services bei KPMG, ist diese Dringlichkeit hierzulande noch nicht hinreichend angekommen (siehe Interview). „Das Bewusstsein für die Bandbreite der Menschenrechte muss geschärft werden. Eine strukturierte Auseinandersetzung mit potenziellen Auswirkungen auf die Rechte von Stakeholdergruppen erfolgt für meine Wahrnehmung noch zu selten“, so Schmiedchen.
Wobei Unternehmen auch ohne gesetzliche Regelung zunehmend Druck verspüren: „Nachhaltigkeitskriterien rücken immer mehr ins Zentrum von Investorenentscheidungen und auch Kunden und Geschäftspartner erwarten verstärkt Nachhaltigkeit und Transparenz“, betont Iris Hammerschmid. Frühzeitige Maßnahmen hält sie jedenfalls für angebracht, auch aus rein praktischen Gründen: „Man darf nicht vergessen, dass Lieferverträge oft über viele Jahre laufen und es schwierig sein kann, Nachverhandlungen zu verpflichtenden Mindeststandards und Audits zu führen.“
Doch wie weit reicht die Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung von Mindeststandards in ihren Lieferketten? Grundsätzlich sind Unternehmen laut VN-Leitprinzipien für ihre gesamte Lieferkette – von der Rohstoffförderung bis zum fertigen Produkt – verantwortlich. Automatisch haftbar für sämtliche Missstände sind sie jedoch in der Praxis nicht. Während das geplante deutsche Sorgfaltspflichtengesetz vorerst keine Haftungsregelung vorsieht und Elemente menschenrechtlicher Sorgfalt sich nur auf Unternehmen selbst sowie auf deren unmittelbare Zulieferer erstrecken, möchte die EU-Gesetzesinitiative weiter gehen. Trotzdem soll es zu keiner Pauschalhaftung kommen, Unternehmen sollen vielmehr die eigene Verbindung zu negativen Auswirkungen suchen und nachweisen, dass angemessene Prozesse zu deren Adressierung eingerichtet wurden.
Nachhaltiges Lieferkettenmanagement: ein Thema für alle
Wer denkt, dies sei rein ein Thema für große Konzerne, der irrt. Viele der bestehenden Regelungen nehmen zwar primär größere Unternehmen in die Pflicht – trotzdem werden auch kleine und mittlere Unternehmen gefordert sein. „Viele KMU sind Zulieferer von Großunternehmen, an die schon heute Nachhaltigkeitsanforderungen gestellt werden. Auch sie werden in Zukunft noch deutlicher nachweisen müssen, wie sie mit menschenrechtlichen und umweltbezogenen Herausforderungen in ihrer Lieferkette umgehen“, betont Daniel Weiß. Das Stichwort lautet: Angemessenheit. Denn letzten Endes werden Unternehmen aller Größen den gesetzlichen und gesellschaftlichen Anforderungen – egal ob reine Berichtspflicht oder verpflichtende Due Diligence – am besten dadurch gerecht, dass sie robuste Sorgfaltsprozesse aufbauen.
Aber was können bzw. müssen Unternehmen tun, um sicherzustellen, dass entlang ihrer Lieferketten grundlegende Standards eingehalten werden? Am Anfang eines Sorgfaltsprozesses steht üblicherweise neben einer Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte eine eingehende Analyse sämtlicher Risiken entlang der eigenen Wertschöpfungskette. „Gerade zu Beginn ist es schwierig, sich einen Überblick über die gesamte Lieferkette zu verschaffen. Eine vereinfachte Darstellung in Form einer Matrix kann hilfreich sein, um die zentralen Lieferkettenstufen, Prozesse und Lieferländer zu erfassen. Damit können KMU dann schon einen ersten Überblick über Risiken erhalten“, rät Daniel Weiß und verweist auf hilfreiche Portale wie etwa das Online-Tool KMU-Kompass und den deutschen Helpdesk Wirtschaft und Menschenrechte, der kostenlose Schulungen anbietet und über den sogenannten CSR Risiko-Check Informationen über Lieferkettenrisiken bereitstellt.
Kräfte bündeln für mehr Wirkung
In der Umsetzung unternehmerischer Sorgfalt sieht Weiß zudem eine große Rolle für Branchenverbände und -initiativen. „Der Austausch nur mit Direktlieferanten wird nicht ausreichen, um die zentralen Herausforderungen in Lieferketten zu adressieren. Die Zusammenarbeit im Branchenverbund oder in branchenübergreifenden Unternehmensverbänden kann zu einer größeren kollektiven Hebelwirkung führen, die es für viele strukturelle Probleme in Lieferketten braucht“, so Weiß. Diesem Grundgedanken folgen auch die sektorspezifischen Empfehlungen der OECD, die mit ihren Leitfäden für unterschiedliche Branchen zeigen will, wie aus dem technischen Begriff der menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflicht branchenspezifische praktische Schritte abgeleitet werden können.
Zudem seien Brancheninitiativen wichtige Wissensträger, die etwa Branchenrisikoanalysen entwickeln, Beschwerdemechanismen einrichten oder Schulungen anbieten können. Ein Beispiel dafür bietet die Drive Sustainability Initiative, in der elf Autohersteller (darunter etwa die Volkswagen Gruppe, Daimler und BMW) an innovativen Ansätzen arbeiten, um die Beschaffung und damit die gesamte Automobilzulieferkette nachhaltiger zu gestalten. Denn gerade für Branchen wie die Automobilindustrie, wo ein Großteil der Wertschöpfung in vorgelagerten Produktionsstufen passiert und deren Lieferketten zehntausende Zulieferer auf der ganzen Welt umfassen, ist die genaue Nachverfolgung bis in den letzten Winkel der Lieferkette eine Mammutaufgabe.
Doch auch wenn die Zusammenarbeit im Branchenverbund Vorteile bringt, so bleibt die Risikoverantwortung letztlich beim einzelnen Unternehmen. Wie weit diese Verantwortung aus rechtlicher Sicht tatsächlich geht, wird mit der kommenden einheitlichen EU-Regelung endlich klarer. Und dadurch ein wichtiger Schritt getätigt, damit das Thema in der Realität der meisten Unternehmen ankommt und wirkungsvolle Maßnahmen in Richtung nachhaltiger Lieferketten gesetzt werden.