Yao Haar
China ist Großanbieter von Perücken und Haarteilen. Das Haar des südchinesischen Yao-Volks steht allerdings nicht zum Verkauf. Yao-Frauen schneiden ihr Haar traditionell nur einmal im Leben und behalten ihre prächtigen Zöpfe.

Von Dolly Partons üppiger Lockenpracht über Lady Gagas extravagante Frisurenvielfalt bis hin zu John Travoltas glänzenden Toupets – etliche Prominente optimieren ihr Erscheinungsbild gern mithilfe von Zweithaar. Damit stehen sie nur an der Spitze eines viel breiteren Booms. Heute suchen Millionen Menschen rund um den Globus, von Afrika über Europa bis in die USA, Perückenmacher, Friseure und Haarmärkte auf, um ihr Haarvolumen zu steigern oder die Haarlänge zu variieren. Dies geschieht aus ganz unterschiedlichen Gründen – sei es der Wunsch nach einem frischen Look, das Bedecken des Kopfs aus religiösen Gründen, der Kampf gegen natürlichen Haarausfall oder der Umgang mit Kahlheit aufgrund von Krankheiten oder Chemotherapien.

Echte Haare: Milliardenbusiness

Der Markt für Perücken und Haarverlängerungen befindet sich jedenfalls im Wachstum. Laut Analysten von Grand View Research belief sich der weltweite Umsatz der Branche im Jahr 2021 auf rund sechs Mrd. US-Dollar, wobei die USA mit 40 Prozent Anteil der größte und die Region Asien-Pazifik der schnellstwachsende Markt sind. In den kommenden Jahren sollen die weltweiten Umsätze um acht Prozent pro Jahr steigen. Dieser Boom wird unter anderem durch steigende Haarausfallsraten sowie höhere Einkommen angetrieben, so dass sich mehr Menschen Haarersatz, sei es aus Echthaar oder künstlichen Materialien, leisten wollen und können. Auffällig ist dabei der Wunsch vieler nach Echthaar, also nach Haaren, die einst auf dem Kopf eines anderen Menschen wuchsen. „Synthetische Alternativen werden qualitativ immer besser. Aber echtes Haar wirkt natürlicher, lässt sich besser stylen und ist bei guter Pflege deutlich langlebiger“ erklärt Paula Suowari, Gründerin und CEO der nigerianischen Luxushaarmarke Chiquita‘s Hairs.

Chiquita‘s Hairs
Chiquita‘s Hairs verkauft Echthaarprodukte in Afrika und weltweit.

Die globale Haarindustrie ist stark fragmentiert und umfasst neben sehr großen Unternehmen auch viele kleinere Betriebe. Auf besonders viele Vertreter der Branche kann man beispielsweise alljährlich auf der China International Hair Fair treffen, die zuletzt Anfang September in der südchinesischen Metropole Guangzhou stattfand. Sie gilt als eine der größten Fachmessen für Haarverlängerungen und Perücken aus Echthaar, nach Angaben der Veranstalter zog die Messe über tausend Aussteller und 60.000 Besucher an.

China International Hair Fair
China lädt jährlich zur China International Hair Fair.

 „China spielt seit langem eine Schlüsselrolle in der internationalen Haarproduktion, da sich dort die meisten Fabriken, in denen oft Tausende von Arbeitern Haare für den Weltmarkt verarbeiten, befinden“, erklärt die britische Anthropologin Emma Tarlo. Tarlo hat jahrelang die Verbindungen im globalen Haarhandel erforscht und damit Pionierarbeit geleistet. Denn die Echthaarbranche gilt weithin als kaum reguliert und nur begrenzt auskunftsbereit.

Interview mit Emma Tarlo, em. Professorin, Goldsmiths Universität London

Emma Tarlo

Haare als Ware

Seit Jahren erforscht die britische Professorin Emma Tarlo das oft intransparente Geschäft mit Echthaar und dessen globale Verflechtungen.

Indisches Tempelhaar

Während China das Zentrum der Verarbeitung von echtem ebenso wie von künstlichem Haar ist, stammt der begehrte Rohstoff selbst aus vielen verschiedenen Ländern, von Peru über Russland bis Myanmar. Weltgrößter Lieferant ist Indien, und das hat vor allem mit einer religiösen Tradition zu tun: Alljährlich lassen sich Millionen fromme Hindus ihr Haar abscheren, in der Hoffnung, von Sünden und dem Ego befreit zu werden, oder aus Dankbarkeit, wenn sich lang gehegte Wünsche erfüllen. Und so gibt es in Südindien Tempelanlagen, in denen ab den frühen Morgenstunden Männern, Frauen und auch Kindern im Fünf-Minuten-Takt die Köpfe rasiert werden. Allein im Venkateshwara-Tempel in Tirupati im Bundesstaat Andhra Pradesh sollen bis zu 20.000 Menschen täglich ihr Haar lassen. Der Verkauf der wertvollen Ernte an kleine lokale Händler oder über Auktionen an internationale Unternehmen soll allein dem Tirupati-Tempel an die 16 Mio. Euro im Jahr einbringen. Neu ist das Business nicht: Die New York Times berichtete bereits 1966 über einen Millionen-Dollar-Deal zwischen einem US-Unternehmen und der indischen Regierung über den Handel mit Tempelhaar. 

Tempelhaar, zum Trocken aufgelegt

Bis heute ist es sehr begehrt, da es sich zur Herstellung hochwertiger Perücken und Verlängerungen besonders gut eignet: Es handelt sich oft um Remy-Haar, das bedeutet, dass das Haar unbehandelt ist, die Haarschuppen intakt und die Haare in natürlicher Richtung ausgerichtet sind. Damit lassen sich die Haare besonders leicht verarbeiten, pflegen und es gibt weniger Verknotungen. „Zudem ist indisches Haar von der Struktur mit europäischen Haartexturen kompatibel“ erklärt Tarlo, „und da es aus religiösen Gründen gespendet wird, wird Tempelhaar oft als ethisches Haar vermarktet.“ Das auch in Österreich aktive italienische Unternehmen Great Lengths bezieht beispielsweise seit Jahrzehnten indisches Tempelhaar und beschreibt sich als „weltweit führend in ethischen Haarverlängerungen“.

Begehrter Zopf

Da Perücken und Haarverlängerungen nur eine begrenzte Lebensdauer haben und die Nachfrage danach stetig steigt, besteht auch ständig Bedarf an neuem Haar. Für die haarige Ware braucht es aber bekanntlich Geduld: Haare wachsen zwischen zwölf und 15 Zentimeter pro Jahr, womit erst nach etwa zwei Jahren eine am Markt gefragte Länge erreicht ist. Besonders begehrt sind Haare ab 50 Zentimetern Länge. Heute kann übrigens jeder – Internetzugang und schönes Haar vorausgesetzt – über spezialisierte Onlineplattformen den eigenen Schopf verkaufen. 

Haare Asien
Besonders begehrt sind Haare ab 50 Zentimetern Länge.

In den Handel kommt meist Haar von Menschen in finanzieller Not: Als beispielsweise Venezuela vor zehn Jahren wirtschaftlich in Schieflage geriet, begannen Venezolanerinnen, ihre langen Haare zu verkaufen. Umgekehrt versiegt die wertvolle Quelle mit dem wirtschaftlichen Aufschwung eines Landes: In den 1960er Jahren galt Südkorea noch als wichtiges Zentrum für die Perückenproduktion. Die Branche war auf einheimische Haarspenderinnen angewiesen, doch mit zunehmendem Wohlstand nahm das Echthaarangebot ab und die Produktion verlagerte sich von Südkorea nach China. Mit dem Aufstieg Chinas kamen wiederum weitere Länder hinzu. Haarhändler, die Frauen ihre Zöpfe abkaufen, sind heute in vielen Regionen – vor allem Asiens – zu finden. 

Gleichzeitig setzt die Branche auf Kammhaar, das aus natürlichem Haarausfall stammt: Dazu sammeln Menschen ihre Haare aus Bürsten, Kämmen und Waschbecken für den Verkauf. Diese Haarknäuel werden in Fabriken in aufwändiger Handarbeit gereinigt, entwirrt und sortiert. Der Rohstoff lässt sich zu kostengünstigeren Echthaarperücken und Haarteilen verarbeiten.

Kammhaar Indien
Frauen reinigen, entwirren und sortieren Knäuel von „Kammhaar“.

Haarhandel: Kaum reguliert

Der Handel mit echtem Haar ist kaum reguliert und sorgt mitunter für Schlagzeilen. Dazu gehören Fälle von Haardiebstahl, bei denen Menschen gegen ihren Willen auf offener Straße ihre Zöpfe abgeschnitten werden, oder auch Haarschmuggel, bei dem beispielsweise indisches Haar via Bangladesch oder Myanmar auf illegalen Wegen zollsparend nach China gelangt. Auf die Ware selbst ist nicht immer Verlass: Mitunter mischen Anbieter tierische und synthetische Fasern mit menschlichem Haar und verkaufen es als „100 % Human Hair“. Oder sie behaupten rein aus Marketinggründen, dass das Haar aus einem bestimmten Land stammt, wenn dieses von Kunden mit besonderer Qualität assoziiert wird.

China Haar
Echthaar ist meist schwarz, bevor es für den Weltmarkt verarbeitet wird.

Haare sind das neue Öl

Afrika gilt in puncto Nachfrage als Hotspot der Branche. „Viele Schwarze Frauen lieben es, ihre Frisuren oft zu wechseln, wollen aber ihr natürliches Haar vor den schädlichen Auswirkungen von Hitze und Chemikalien schützen. Daher sind Perücken für sie ideal“, erklärt die Nigerianerin Paula Suowari, die mit ihrer Marke Chiquita‘s Hairs Kundinnen in Lagos und weltweit mit Zweithaar versorgt. Diese sind bereit, für 90 Zentimeter glattes, schwarzes Haar von einer einzigen Spenderin bis zu 803.000 Naira (etwa 978 Euro) zu bezahlen. Kürzeres, lockiges Haar gibt es auch schon um die 70 Euro. 

Die Haarspezialistin bevorzugt derzeit Ware aus vietnamesischen Fabriken, die ihrer Meinung nach oft bessere Qualität als chinesische und mehr Varianten als indische Hersteller bieten. Während Suowari mit ihrem Unternehmen eher gut betuchte Kundinnen anspricht – und diese vorwiegend via Instagram erreicht – gibt es von Lagos bis Nairobi auch riesige Haarmärkte, auf denen oft hunderte Shops eine breite Palette synthetischer und natürlicher Haare in verschiedenen Qualitäten, Optiken und Preiskategorien anbieten. Das Haar boomt bei Arm und Reich: „In Nigeria will heutzutage jede junge Frau in das Geschäft mit Haar einsteigen. Es ist ein dynamischer Wachstumsmarkt, die Nachfrage ist hoch, und das in ganz Afrika“, sagt Suowari und lacht: „Es gibt bei uns schon das Sprichwort: Haare sind das neue Erdöl.“

 

Fotos: Emma Tarlo, Kirill Voloshin, Chiquita‘s Hairs, China International Hair Fair