Haare als Ware

Seit Jahren erforscht die britische Professorin Emma Tarlo das oft intransparente Geschäft mit Echthaar und dessen globale Verflechtungen.

Emma Tarlo
Emma Tarlo, em. Professorin für Anthropologie und Autorin des Buchs "Entanglement – The Secret Lives of Hair"

Sie haben sich umfassend mit dem Handel von Echthaar beschäftigt. Was fasziniert Sie an diesem Thema?

Emma Tarlo: Es ist spannend, dass Haar, das so intim und individuell ist, zu einem Rohstoff werden kann, der rund um den Globus zirkuliert. Im Laufe dieser Reise wird das Haar von seinen kulturellen, religiösen und geschlechtsspezifischen Bedeutungen befreit und einfach zu einer Faser, einem Handelsgut. Doch am Ende der Reise ist es in Form von Perücken und Haarteilen wieder Teil eines Individuums. Dieses ‚soziale Leben‘ des Haares finde ich sehr faszinierend – und natürlich auch dessen globale, wirtschaftliche Verflechtungen.

Wann wurde Haar zur Ware?

Tarlo: Der Handel mit Haar ist nicht neu. Bereits im Alten Ägypten und Rom trugen die Menschen Perücken aus den Haaren von Menschen anderer Kulturen. Meine Forschung fokussiert hauptsächlich auf die Zeit ab dem späten 19. Jahrhundert. Bereits damals verkauften Frauen in Frankreich und Italien ihr Haar, weil es eine hohe Nachfrage nach Haarteilen und aufwendigen Frisuren gab. Schon da fing Europa an, Haare auch in großen Mengen aus China zu importieren. In den 1920er Jahren kamen zudem Haarnetze aus menschlichem Haar in Mode. Chinesisches Haar war aufgrund seiner Länge und Dicke ideal dafür. Ursprünglich wurden die Haarnetze in Regionen wie dem Elsass und in Böhmen hergestellt. Aber bald verlegte man auch die Produktion nach China, da die Arbeitskosten viel niedriger waren – das ist also ein sehr frühes Beispiel für die globalisierte Modebranche. 

Es gab schon damals „Made in China?“

Tarlo: Kommuniziert wurde es nicht. Dem fremden Haar stand man in Europa ambivalent gegenüber: Es gab die große Gier danach und gleichzeitig die Angst, es könnte minderwertig sein oder Krankheiten übertragen. Die Händler verschwiegen meist die Herkunft und betonten nur, dass es sich um menschliches und gründlich sterilisiertes Haar handelte. Die Angst vor Krankheiten durch chinesisches Haar poppte übrigens auch während der Coronapandemie wieder auf. 

Grundsätzlich wollen Menschen nichts über die Herkunft und Hintergründe ihrer Perücken und Haarteile wissen. Dahinter stecken ja oft Geschichten von Armut, unterschiedlichen Hygienestandards und schwierigen Lebensumständen.

Woher kommt Echthaar üblicherweise? 

Tarlo: Das am Markt erhältliche Echthaar ist meist schwarz, denn es stammt vor allem von Frauen, die traditionell langes Haar tragen und in Armut leben – wie Indien, China, Myanmar, Kambodscha und anderen Ländern Asiens. Es gibt auch peruanisches oder brasilianisches Haar am Markt. Da der Haarmarkt aber völlig unreguliert ist, kann beispielsweise als peruanisch vermarktetes Haar tatsächlich aus Indien stammen. Wirklich blondes Haar kommt meist aus Russland und der Ukraine und ist relativ selten. In der Weiterverarbeitung von Rohhaar zu Haarprodukten dominiert aber ein Land, und das ist China. 

Und wie gelangt das Echthaar in den Handel?

Tarlo: Es gibt vier Hauptwege: Manche verkaufen ihr Haar direkt am Markt oder auch übers Internet. Dann gibt es Menschen, die ihre ausgefallenen Haare nach dem Bürsten oder Waschen sammeln. Solche Haarknäuel werden in Asien im großen Umfang verarbeitet. Günstigere Perücken enthalten womöglich das Haar von hunderten Frauen und aus verschiedenen Ländern. Weiters wird Haar im religiösen Kontext von Hindus oder Buddhisten gespendet. Und dann gibt es Menschen, die ihr Haar Wohltätigkeitsorganisationen schenken, beispielsweise für Echthaarperücken für krebskranke Kinder.

Warum greifen Menschen nicht einfach auf künstliches Haar zurück?

Tarlo: Es gibt viele künstliche Alternativen, die auch immer besser werden, aber menschliches Haar wird bevorzugt. Es kann umgestaltet, gefärbt und geföhnt werden. Es ist eben echtes Haar. Außerdem gilt es oft als Modestatement und Statussymbol, etwa unter afrikanischen und afroamerikanischen Frauen, die zu den größten Kundengruppen weltweit zählen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Bild: Emma Tarlo