60 Millionen Menschen arbeiten in der Wertschöpfungskette der Kleinfischerei.

Manche sagen, es sei bereits passiert. Andere erwarten es für die nächsten Tage oder Wochen. Fix dürfte jedenfalls sein, dass die Weltbevölkerung noch heuer die magische Grenze von acht Milliarden Einwohnern überschreiten wird. Auch in den nächsten Jahrzehnten dürfte es, wenngleich mit verlangsamtem Tempo, weiter in die Höhe gehen.

Mehr Menschen bedeuten auch, mehr Teller, die befüllt werden müssen. Eine der großen Fragen lautet daher: Wie wird die Welt satt, und das mit Lebensmitteln, die idealerweise mehrere Ansprüche erfüllen – also gesund, sicher und erschwinglich sind und zudem nachhaltig hergestellt. Für Experten der Vereinten Nationen VN liegt eine der möglichen Antworten auf diese Frage in der Tiefe. Genauer gesagt: im Wasser. Die zu den VN gehörende Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO hat daher heuer die Blaue Transformation ausgerufen: In der Fischerei und in der Aquakultur, also in der Zucht von Fischen, Krebsen, Muscheln, Algen und Co, sollen neues Wissen, Instrumente und Methoden dafür sorgen, dass in Zukunft mehr von den so genannten blauen Lebensmittel bereitstehen. 

Fische und Meeresfrüchte: Für drei Milliarden Menschen eine wichtige Proteinquelle.

Fisch und Meeresfrüchte: Der Konsum steigt

Schon heute sind Fisch und Meeresfrüchte stark gefragt – wenn auch weniger in Österreich: Hierzulande verzehrt ein Konsument laut Statistik Austria zwischen sieben und acht Kilo Lachs, Karpfen oder Garnelen im Jahr – das entspricht etwa 13 Kilo Fanggewicht. Damit sind wir nicht die größten Fans der Nahrung aus dem Wasser. Schon in den 1960er Jahren lag der weltweite Pro Kopf-Konsum von Fisch und Meeresfrüchten bei etwa zehn Kilo Fanggewicht im Jahr. Heute sind es fast 21 Kilo, die ein Mensch im Schnitt pro Jahr konsumiert. 

Aquatische Produkte zählen zu den meistgehandelten Nahrungsmitteln der Welt – laut Statista stehen sie für rund sieben Prozent des Umsatzes bei Lebensmitteln. In absoluten Zahlen dürfte der Sektor heuer fast 490 Mrd. Euro ins Rollen bringen, für die nächsten Jahre sind Steigerungen von jeweils rund sechs Prozent prognostiziert.

Kein Boom ohne Haken

Lachs: Einst eine seltene Delikatesse, heute ein Massenprodukt.

Dass der Appetit auf Flossen- und Schalentiere wächst, ist – neben dem reinen Bevölkerungswachstum – einer global größer werdenden Mittelschicht sowie einem steigenden Interesse an gesunder, eiweißreicher Ernährung mit Omega-3-Fettsäuren zu verdanken. Doch was dem Menschen vermutlich recht gut tut, geht mitunter auch auf Kosten des Planeten. Gut ein Drittel der kommerziell genutzten Fischbestände gilt heute als überfischt, es wird also dauerhaft mehr Fisch gefangen, als auf natürliche Weise nachwachsen kann. Weitere 60 Prozent der Bestände werden laut Umweltorganisation WWF „maximal genutzt“, also bis an ihre biologischen Grenzen befischt. Im Beifang der Fischindustrie finden sich zudem gefährdete Arten wie Wale, Haie oder Schildkröten, die dem marinen Ökosystem verloren gehen. Nicht zuletzt tragen ins Wasser entsorgte Ausrüstungen und verlorene Fangnetze erheblich zur Meeresverschmutzung bei. 

Derlei Probleme tauchen nicht auf, wenn Fische und Meeresfrüchte in Zuchtanlagen heranwachsen. In den vergangenen 50 Jahren hat die Aquakulturbranche einen wahren Höhenflug erlebt. Sie gilt sogar als die schnellst wachsende Lebensmittelbranche. War sie früher nur eine Ergänzung zum Wildfang, liefern heute Länder wie China, Norwegen, Chile oder Indonesien cirka die Hälfte aller von Menschen konsumierten Fische. Zu den Toparten zählen übrigens Karpfen aus Teichen und Atlantischer Lachs aus der Marikultur, also der im Meer betriebenen Aquakultur. 

Doch auch die Alternative zum wilden Fang ist nicht frei von Problemen. So hat die Aquakultur, vor allem die Garnelenzucht, viele tropische Küstenökosysteme geschädigt, weil für Teiche und Betonbecken wertvolle Mangrovenwälder gerodet werden. Zudem kann aus Zuchtbecken mit Chemikalien, Nahrungsresten, Fischkot und Antibiotika verunreinigtes Wasser in die Umwelt gelangen. Und da das proteinreiche Futter für die Tiere oft aus wild gefangenen Fischen hergestellt wird, gilt Aquakultur paradoxerweise selbst als Mitverursacher für die Überfischung. 

In der Aquakultur sind Millionen kleine Züchter – vor allem in Asien – beschäftigt.

Good News

Wer sich beim Genuss von Fischsuppe, Garnelenspieß und Sushi über die Ursprünge der Speisen etwas Gedanken macht, könnte also einen leicht herben Beigeschmack verspüren. Dabei sorgt der Sektor mitunter auch für gute Nachrichten. Etwa, weil sich zeigt, dass kontrolliertes, nachhaltiges Fischereimanagement hilft, Bestände zu schonen: Anfang September veröffentlichte die Fachzeitschrift Frontiers in Marine Science eine Analyse, wonach umweltschonende Fischerei, wie sie seit 1997 vom Zertifizierungssiegel Marine Stewardship Council MSC gefördert wird, tatsächlich wirken dürfte. Fischbestände, die von MSC-zertifizierten Fischereien befischt werden, hätten demnach im Vergleich zu Fischbeständen, die von konventionellen Fischereien genutzt werden, deutlich gesündere Bestandsgrößen und ein geringeres Risiko hinsichtlich der Nachwuchsproduktion. 

Potenzielle Good News kamen zudem im Juni aus Genf: Dort haben 164 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen einen ersten Rahmen für das Verbot schädlicher Fischereisubventionen geschaffen. Mit dem neuen Abkommen sollen staatliche Finanzspritzen für Schiffsbau oder Treibstoff, die illegale, unregulierte und ungemeldete Fischerei sowie Fischerei auf unregulierter Hoher See unterstützen, eingedämmt werden. Die kapazitätssteigernden Subventionen, von denen vor allem industrielle Fangflotten profitieren, gelten als Treiber für die Überfischung der Weltmeere. Ob das Abkommen ein echter Durchbruch oder doch zahnlos ist, bleibt allerdings noch abzuwarten.

Fisch und Meeresfrüchte: Blick auf die kleinen Produzenten

Ein wichtiger Hebel zur Erreichung eines ökologisch nachhaltigen Fischfangs könnte sein, sich näher mit den „Kleinen“ der Branche zu beschäftigen. Die Vereinten Nationen widmen das Jahr 2022 daher der „handwerklichen Fischerei und Aquakultur“. Es soll „die weltweite Aufmerksamkeit auf die Rolle der Kleinfischerei, der Fischfarmen und der in der Fischerei Tätigen für die Ernährungssicherheit, Armutsreduzierung und die nachhaltige Nutzung unserer Ressourcen lenken“. 

Auch Muscheln können für die Ernährung der Weltbevölkerung eine wichtige Rolle spielen.

Doch was versteht man überhaupt unter einem kleinen Fischer? „Für Kleinfischerei gibt es keine einheitliche Definition“, sagt FAO-Expertin Nicole Franz, „der Sektor ist vielfältig. Er inkludiert eine Frau in Tunesien, die am Strand Muscheln für die Familie einsammelt, genauso wie den norwegischen Berufsfischer, der mit dem Motorboot täglich auf Kabeljaufang ausfährt.“ Eine gängige Einordnungshilfe ist es, jene Menschen zu Kleinfischern zu zählen, die ohne Boote oder auf Booten von weniger als 15 Metern Länge arbeiten. Sie sind vor allem in Küstennähe aktiv – darunter versteht man den schmalen Streifen innerhalb von zwölf Seemeilen Entfernung vom Land – sowie in Seen und Flüssen, die laut Franz kaum industriell bewirtschaftet werden. 

Interview mit Nicole Franz, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO

Die Kleinen ins Rampenlicht

Warum kleine Fischer und Züchter mehr Anerkennung verdienen, erklärt Entwicklungsökonomin Nicole Franz, FAO, im corporAID Interview.

So klein einzelne Fischer sein mögen, in der Summe bilden sie eine ziemliche Größe. Für die neue Illuminating Hidden Harvest-Studie trugen Experten der FAO, der Duke University und des Forschungszentrums WorldFish Daten aus 58 Ländern zusammen, um den informell geprägten Sektor besser zu verstehen. Demnach dürften 2016 weltweit rund 60 Millionen Menschen in der Wertschöpfungskette der Kleinfischerei tätig gewesen sein, das entspricht 90 Prozent aller Beschäftigten in der Fangfischerei. Weitere 53 Millionen Menschen trugen mit Fischfang zur Ernährung ihrer Familien bei. Nimmt man Haushaltsangehörige in die Kalkulation mit auf, so waren eine halbe Milliarde Menschen vom Einkommen beziehungsweise vom Fang der Kleinfischerei – mehr oder weniger – abhängig. Auch die Fangmengen sind substanziell: Von den jährlich rund 90 Mio. Tonnen wild gefangenem Fisch sind 37 Mio. Tonnen der Kleinfischerei zuzurechnen.

In der Weiterverarbeitung von Fisch und Meeresfrüchten arbeiten viele Frauen.

In der Aquakulturbranche sind laut FAO wiederum mehr als 20 Millionen Menschen direkt tätig, überwiegend in Asien (fast 94 Prozent), gefolgt von Afrika, Lateinamerika und der Karibik. Viele weitere Millionen Menschen arbeiten entlang der Lieferketten von Garnelen-, Algen- oder Fischzucht. Auch wenn globale Erhebungen fehlen, ob Menschen für große, exportorientierte Unternehmen oder selbstständig arbeiten, so gilt vor allem die kleinteilige, auf lokale Märkte ausgerichtete Aquakultur als wichtiger Arbeitsplatz, gerade für kleine Züchter in Entwicklungsregionen.

Kleinfischerei: Neue Initiativen

Für eine Blaue Transformation scheint es also sinnvoll, mit den vielen kleinen Produzenten zusammen zu arbeiten. Und es passiert hier auch einiges. Beispielsweise wollen Weltbank, Globale Umweltfazilität GEF und FAO mit ihrer Initiative für Küstenfischerei (CFI) Überfischung eindämmen, nachhaltige Fischereipraktiken forcieren und die Einkommen von kleinen Fischern und anderen Teilnehmern in der Wertschöpfungskette steigern. Ein neuer Wettbewerb identifiziert erfolgversprechende Projekte und bringt sie mit Finanz- und Entwicklungspartnern zusammen, so dass sich lokale Lösungen weiter verbreiten.

Eines der Gewinnerprojekte ist PescaLocal auf den Kapverden. Es handelt sich dabei um eine Verkaufsplattform für Kleinfischer, die dafür sorgt, dass Restaurants – noch – nicht populäre Fischarten auf die Teller bringen, um bei Gästen mit Vielfalt zu punkten und zugleich den Druck auf überfischte Arten zu verringern. Zudem sollen Fischer durch Prämien ihr Einkommen verbessern. Ein anderes Projekt aus Ecuador bringt Kleinfischerei und Unternehmen aus der Fischmehlindustrie zusammen, um nachhaltige Beschaffungswege zu etablieren. Auch ein Fischereimanagementprogramm, das die US-amerikanische NGO Rare in acht Ländern durchführt, zählt zu den Gewinnern (näheres dazu siehe corporAID-Artikel „Für immer Fisch“). 

Ein weiterer Ansatz ist es, die oft hohen Verluste nach dem Fang zu verringern. Gerade in Entwicklungsregionen fehlt es oft an Equipment, um Fische frisch zu halten. In diesem Bereich engagiert sich etwa die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ. Sie hat die Entwicklung des Solar Ice Maker als Hilfe für indonesische Kleinfischer angestoßen – eine Eismaschine, die eine Tonne Blockeis pro Tag nur mit Sonnenenergie produzieren kann. Laut GIZ kann ein in Eis gepackter Fisch seinen Wert beträchtlich steigern – bei nachhaltig gefangenem Thunfisch beispielsweise um über 50 Prozent. Seit Mai ist die erste Eismaschine in einem Fischerdorf im Vollbetrieb, das Potenzial für viele weitere ist groß.

Aquakultur: Smarter züchten

In der Aquakultur könnten naturbasierte Lösungen ein Win-Win für Natur und Mensch sein. So hat die US-amerikanische NGO Conservation International CI heuer einen mit 100 Mio. Dollar dotierten „Climate Smart Shrimp Fund“ gestartet, eine neue Finanzierungsfazilität, die kleine Garnelenfarmer in Indonesien und auf den Philippinen unterstützen will, in ihren Teichen Mangroven zu pflanzen und auf diese Weise auch ihre Garnelenernten zu steigern. CI schätzt, dass so weltweit bis zu 1,7 Mio. Hektar Mangrovenwälder wiederhergestellt werden können. 

Aquakultur kann zudem helfen, ganz neue Einkommensquellen zu erschließen. Die britische Meeresschutzorganisation Blue Ventures hilft beispielsweise Familien auf Madagaskar beim Einstieg in ein lukratives Nebengeschäft: So ist in asiatischen Märkten die Seegurke als Delikatesse und Aphrodisiakum gefragt, während roter Seetang von der Lebensmittel- und Kosmetikindustrie eingesetzt wird. Für die Züchter – und für die Umwelt – liegt der große Vorteil darin, dass dafür keine Futtermittel benötigt werden.

Für mehr und nachhaltig produzierte Nahrung aus dem Wasser gibt es also neben einer steigenden Nachfrage viel versprechende Lösungen, von denen auch die Kleinen profitieren. 

Fotos: Neil Palmer/WorldFish, FAO/Kyle LaFerriere, FAO/Camilo Pareja, FAO/Jordi Vaque, FAO/Luis Tato, FAO/Giulio Napolitano