Ein Marktbesuch in Lagos, Accra, Nairobi oder Kinshasa eröffnet Zugang nicht nur zu einem bunten Mix an ausgefallenen Nahrungsmitteln – von bereits essfertig bis hin zu noch lebendig – sowie Dingen des täglichen Lebens, sondern auch zu einer Riesenauswahl an Musik und Filmen, auf CD und DVD. Dabei reichen Cent-Beträge in lokaler Währung, um jegliche Art von Streifen oder Album zu erstehen. Bei den Künstlern und Produzenten kommt jedoch nichts davon an, denn Urheberrechte werden mit größter Selbstverständlichkeit ignoriert. 

Der omnipräsente Handel mit Raubkopien war in den vergangenen Jahren der größte Hemmschuh für eine substanzielle Weiterentwicklung der afrikanischen Musik- und Filmindustrie. Genau dies ändert sich aber zurzeit: Die Streamingtechnologie schafft völlig neue Voraussetzungen für die Szene, und Streamingdienstleister wittern bereits ein Milliardengeschäft.

Am globalen Musikmarkt nimmt Streaming seit vier Jahren den Spitzenplatz ein, Datenträger und kostenpflichtige Downloads gelangten ins Hintertreffen. Für den Technologie- und Weltmarktführer Spotify schlug sich das Geschäft zuletzt mit einem Umsatz von knapp acht Mrd. Euro zu Buche. Das Erfolgsgeheimnis von Spotify und Mitbewerbern wie Apple Music oder Amazon Music liegt dabei darin, dass sie einen einfachen, vergleichsweise günstigen sowie qualitativ hochwertigen Zugang zu einem Pool an zig Millionen Musikstücken anbieten – und alles, was der User dafür braucht, ist ein internetfähiges Gerät. Das System ist nun auch in Afrika angekommen. Laut Statista werden dort heuer 271 Mio. US-Dollar umgesetzt. Bei einem prognostizierten Wachstum von 16 Prozent könnte das Marktvolumen 2025 bereits bei knapp 500 Mio. Dollar liegen. 

Burna Boy

Afrikas Musikstar Burna BoyDer 29-jährige Sänger und Rapper aus der nigerianischen Ölmetropole Port Harcourt gilt als aufstrebendster Musikstar Afrikas. Im März gewann er den bedeutenden Musikpreis Grammy in der Kategorie Best Global Music Album. Durch Features mit Stars wie Beyoncé und Ed Sheeran wurde er auch außerhalb Afrikas bekannt. Sein Hit On the Low wurde bei YouTube bereits mehr als 200 Millionen Mal geklickt. Burna Boy vereint in seinen Songs zeitgenössischen westafrikanischen Pop mit Funkelementen. Er nennt seinen Stil Afro-Fusion.

Ein Spotify für Afrikas Musikszene

Streamingdienste rechnen sich erst bei hohen Nutzerzahlen. Martin Nielsen arbeitet mit Hochdruck genau daran. Der umtriebige dänische Expat hat sich vor rund einem Jahrzehnt im Tech-Universum Nairobis niedergelassen. 2014 gründete er den Streamingdienst Mdundo, ein Wort auf Swahili, das „Rhythmus“ bedeutet. Mdundo hat Millionen Songs aus Afrika im Portfolio und mit sieben Millionen Usern in 15 Ländern einen bereits beachtlichen Kundenstock gewonnen. „Nachdem wir gesehen hatten, was Spotify in der westlichen Welt geschafft hat, haben wir versucht, etwas Ähnliches für den afrikanischen Kontinent zu starten“, erklärt Nielsen. Das Geschäftsmodell unterscheidet sich jedoch in entscheidenden Punkten. „Da das Datenvolumen unserer Kunden begrenzt ist, komprimieren wir die Musik sehr stark und lassen Downloads zu. Wir konzentrieren uns also darauf, ein Erlebnis zu schaffen, das möglichst wenige Ressourcen benötigt“, sagt Nielsen.

Und auch was die Inhalte angeht, wähnt er sein Produkt gegenüber den internationalen Konkurrenten am afrikanischen Markt im Vorteil: 80 Prozent der in Afrika konsumierten Musik stamme aus heimischer Produktion und reflektiere damit auch die Vielzahl lokaler Sprachen. 

Tiwa Savage

Afrikas Musikstar Tiwa SavageDie 41-jährige nigerianische Sängerin Tiwa Savage gilt als Queen of Afrobeats. Die bei der Universal Music Group unter Vertrag stehende Künstlerin singt auf Englisch und Yoruba, vermischt dabei Afrobeats mit R&B- und Pop-Elementen und hat bereits diverse Preise abgeräumt. Unter anderem gewann sie 2018 als erste Frau bei den MTV Europe Music Awards den Titel Best African Act. Ihr Album Celia wurde vom Time Magazine unter die Top-10-Alben 2020 gewählt. Der Hit All Over hat rund 50 Millionen YouTube-Aufrufe.

Für Spotify ist afrikanische Musik kaum zugänglich, da sie im Unterschied zu Produktionen aus den Industrieländern nicht professionell vermarktet wird. Für Mdundo gilt diese Schranke nicht. Der Dienstleister arbeitet mit mehr als 100.000 afrikanischen Künstlern direkt zusammen und zahlt die Erlöse aus Werbeschaltungen, die vor jedem Lied eingespielt werden, zu gleichen Teilen an diese aus.

Von den rund 30 Streaminganbietern am Kontinent ist Boomplay aus China der weitaus größte Konkurrent. Mit einem werbefinanzierten kostenlosen Angebot sowie einem werbefreien Abonnementmodell verfolgt Boomplay ein ähnliches Geschäftsmodell wie Spotify. Sein größter Vorteil gegenüber dem gesamten Mitbewerb besteht darin, dass sein Dienst auf den in Afrika millionenfach verwendeten Smartphones des chinesischen Herstellers Transsion als App vorinstalliert ist. Nach eigenen Angaben gewinnt das Unternehmen monatlich zwei Millionen neue Abonnenten und dürfte bald die 100-Millionen-Marke knacken. 

Nielsen bereitet diese Konkurrenz dennoch keine Sorgen. Er will die Mdundo-Nutzer in den nächsten zwölf Monaten auf 18 Millionen mehr als verdoppeln und das Angebot in sechs neue afrikanische Länder exportieren. Dabei vertraut er auf seine profunden Marktkenntnisse. Er ist überzeugt: „Wenn man so wie wir seit einigen Jahren auf dem Markt ist und die Daten selbst sammelt, hat man am Ende einen Datensatz, der nirgendwo anders verfügbar ist. Das verschafft uns einen Vorsprung, wenn es darum geht, den Markt zu verstehen.“

Interview mit Martin Nielsen, CEO von Mdundo

Kenner von Afrikas Musikindustrie: Martin Nielsen

Der Kuchen ist groß

Martin Nielsen, Gründer und CEO des kenianischen Streamingdienstleisters Mdundo, fürchtet nur einen Konkurrenten.

Gebündeltes Wissen über Afrikas Musikszene

Während Nielsen geradezu enthusiastisch von einer „Streaming-Revolution“ spricht, äußert sich Branchenkenner Jens Cording aus Deutschland vorsichtiger: „Ich würde nicht von einer Revolution reden, sondern von einem kontinuierlichen Prozess. Das Musik-Ökosystem in Afrika ist immer noch nicht ausbalanciert. Ich werde beispielsweise einen afrikanischen Jugendlichen, der auf der Straße lebt, nicht davon überzeugen können, dass er für Musik Geld bezahlen muss. Grundsätzlich ist Musik als Wirtschaftsfaktor dennoch zunehmend anerkannt.“

Cording hat für die deutsche Siemens Stiftung im Jahr 2013 das Portal Music In Africa mit ins Leben gerufen, eine Service- und Förder-Plattform für Musikschaffende, die inzwischen an die 32.000 Mitglieder zählt. Die Plattform bietet Unterstützung bei der Professionalisierung des Marktauftritts, hilft beispielsweise bei der Erstellung elektronischer Pressemappen oder marktfähiger Musikvideos. Dazu publiziert sie tagesaktuell Musiknachrichten vom Kontinent, in Kooperation mit etwa 150 afrikanischen Musikjournalisten.

Die Zentrale von Music In Africa befindet sich in Johannesburg, Büros gibt es auch in Accra, Nairobi, Kinshasa, Dakar und Casablanca. Cording besucht diese, wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht, mehrmals jährlich. Daneben treibt er sich auf den stetig zahlreicher werdenden afrikanischen Musikfestivals herum, um die Szene zu kennen und neue Förderschienen zu entwickeln. Zu Cordings aktuellen Ambitionen zählt die Entwicklung einer Online-Datenbank, auf der afrikanische Musiker ihre jeweils besten Einkommenschancen abrufen können. Er erklärt: „Es soll ein Tool geben, bei dem man nur noch eingeben muss: Ich bin Gitarristin in Dakar. Und dann spuckt das System aus, wie man hier am besten Geld verdient: mit diesen Streamingdiensten, jenen Studios und Konzerthäusern oder mit diesen Stipendien.“

Diamond Platnumz

Afrikas Musikstar Diamond PlatnumzDer 31-jährige Diamond Platnumz aus Tansania erfreut sich vor allem in Ost- und Zentralafrika großer Beliebtheit. Er ist der erste afrikanische Künstler, dessen Songs mehr als eine Milliarde YouTube-Klicks erreichten. Sein Musikstil Bongo Flava ist eine Mischung aus Hip-Hop, R&B und traditioneller tansanischer Musik. Der Künstler ist außerdem Gründer und CEO des Plattenlabels Wasafi sowie eines Fernseh- und eines Radiosenders. Weitere Künstlernamen sind Simba sowie The King of Bongo Flava.

Weltweiter Hype um Musik aus Afrika

Jens Cording ist überzeugt, dass die afrikanische Musik derzeit ein besonderes Momentum erlebe: „Es hat einen enormen Qualitätssprung gegeben, musikalisch sowie technisch. Und diese Qualität wird sowohl innerhalb als auch vor allem außerhalb des Kontinents endlich wertgeschätzt. Dieser grundsätzliche Wahrnehmungswandel wird – im Gegensatz zu irgendwelchen Dance Challenges – wirklich etwas bewegen.“ 

Wenn Cording recht hat, darf man sich richtig viel erwarten. Denn die Jerusalema Dance Challenge, auf die er anspielt, ist immerhin um die Welt gegangen. Das vom südafrikanischen DJ Master KG produzierte Lied wurde tausendfach getanzt – zuletzt insbesondere von Krankenhauspersonal, um in den schwierigen Pandemiezeiten Zeichen der Hoffnung auszusenden – und hunderte Millionen Mal geklickt, ein wahrer Welthit, der in den Augen vieler dafür sorgt, dass afrikanische Musik plötzlich ins Scheinwerferlicht gerückt wurde.

Von noch größerer Bedeutung ist aber, dass immer mehr afrikanischen Musikern der Sprung auf die Weltbühne gelingt. Große Erfolge feiert vor allem die Musikrichtung Afrobeats – nicht zu verwechseln mit Afrobeat, einem Funk-Stil aus den 1970ern –, die verschiedene Pop- und Hip-Hop-Elemente vereint und sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Westafrika entwickelt hat. Die Songs sind heute nicht mehr nur in Lagos oder Accra in jedem Minibus und auf jeder Party zu hören. Mit Burna Boy und Wizkid holten sich zwei nigerianische Afrobeats-Stars in diesem Frühjahr einen Grammy, die höchste internationale Auszeichnung für Musiker. Und in Großbritannien sorgt nicht zuletzt die große afrikanische Diaspora für die zunehmende Popularität des Genres. Mittlerweile gibt es für Afrobeats eine eigene Chartliste.

Wizkid

Afrikas Musikstar WizkidDer 30-jährige nigerianische Afrobeats-Star Wizkid ist der aktuell meist ausgezeichnete afrikanische Künstler. Unter anderem wurde er kürzlich für sein Feature mit Beyoncé mit einem Grammy für das beste Musikvideo geehrt. Weltweite Bekanntheit erlangte er 2016 mit dem Song One Dance, eine Kollaboration mit dem Kanadier Drake, die in 15 Ländern, darunterin den USA, Großbritannien und Deutschland, den ersten Platz der Charts erreichte. Das Magazin New African kürte ihn 2019 zu einem der 100 einflussreichsten Afrikaner.

Netflix setzt auf Authentizität

Die afrikanische Filmindustrie darf sich über ähnliche Aufmerksamkeitszuwächse freuen. Und hier mischt der amerikanische Streaming-Platzhirsch Netflix ganz vorne mit. Anders als Spotify gelang es Netflix, sich am afrikanischem Kontinent bedeutende Marktanteile zu sichern. Dafür passt Netflix sein Angebot den lokalen Gegebenheiten an – und entwickelt aktuell etwa günstige Abo-Tarife exklusiv für Mobiltelefone. Und inhaltlich setzt man auf Content vom Kontinent, nämlich so genannte African Original Shows. Diese lässt der Streamingdienstleister wahlweise selbst produzieren – wie etwa die südafrikanische Actionserie Queen Sono – oder er erwirbt die Filmrechte von afrikanischen Studios, wie im Fall des nigerianischen Films Lionheart. Beide Produktionen haben über Afrikas Grenzen hinaus Zuspruch gefunden.„Netflix investiert in neue Studios, neue Stimmen und neue Autoren und wird den afrikanischen Markt daher noch weiter erobern“, sagt Stuart Forrest, CEO von Triggerfish, Afrikas größtem Animationsstudio mit Sitz in Kapstadt. 

Für Forrest zählt es als großer Erfolg, mittlerweile auch selbst für Netflix zu produzieren. Konkret geht es um eine Animationsserie, die in Sambia spielt, von einem Sambier geschrieben wurde und an deren künstlerischen Leitung etliche Fachleute aus Sambia beteiligt sind. Genau darin sieht Forrest das Erfolgsgeheimnis seines Unternehmens: Es geht um authentische afrikanische Geschichten, die nicht nur in Afrika spielen, sondern auch in Afrika erdacht und produziert werden – und das für den globalen Markt. Forrest: „Wir nehmen keine amerikanischen Projekte an, die lediglich in Afrika spielen. Das Konzept muss als Ganzes aus der Region stammen. Es ist hier auch ziemlich einfach, auf spannende Geschichten zu stoßen, die noch nicht erzählt wurden.“

Afrikas Musik- und Filmszene ist im Aufwind, hier der Film Khumba
Ein ungewöhnliches Zebra: der Titelheld im Animationsfilm Khumba aus dem Hause Triggerfish

Triggerfish hat sein Personal binnen zwei Jahrzehnten von einer Handvoll Mitarbeiter auf 170 Personen aufgestockt. Bald wird der dritte animierte Spielfilm in die Kinos kommen. Daneben erledigt das Studio kleinere Auftragsarbeiten wie etwa für die Sesamstraße. 

Forrest, der mit Unterstützung der staatlichen deutschen Entwicklungsagentur GIZ ein Ausbildungsprogramm für junge Menschen aus benachteiligten Stadtteilen ins Leben gerufen hat, versteht sich als Sozialunternehmer. Ihm ist es ein Anliegen, den jungen Menschen begreiflich zu machen, dass auch Afrikas Kulturwirtschaft Aufstiegsschancen bietet. 

Daten und Fakten

Primus Netflix

Die Anzahl afrikanischer Video-Streaming-Nutzer wird sich bis 2025 mehr als verdreifachen – die größten Märkte sind Südafrika und Nigeria.

Afrika Musik-Grafik

Treiber von Entwicklung

Forrest bestätigt, dass der Handel mit Raubkopien bisher das größte Hindernis für die Branche war, und erwartet ein signifikantes Wachstum des Marktes durch Streamingdienste: „Wir leben auf diesem Kontinent, mit mehr als einer Milliarde Menschen, doch bis vor kurzem hatten wir keine Möglichkeit, Musik und Film zu monetarisieren. Das ändert sich nun durch das Streaming.“ Dennoch sei es noch ein langer Weg, „bis die Budgets Hollywood-Niveau erreichen“. 

Vom Anklang, den afrikanische Filme und Songs mittlerweile weltweit finden, erhofft er sich jedenfalls schon bald einen Wandel des vielerorts noch immer von Armut und Krisen geprägten Afrikabildes: „Mit jeden eineinhalb Stunden Film, die wir machen, wirken wir eineinhalb Stunden negativer Berichterstattung entgegen“, betont Forrest. 

Und hat der Fußballweltverband Fifa noch vor rund einem Jahrzehnt entschieden, dass nicht eine afrikanische, sondern eine kolumbianische Musikerin, nämlich Shakira, den offiziellen Song zur Weltmeisterschaft in Südafrika liefern soll (für Waka Waka kopierte sie damals auch noch Teile eines kamerunischen Liedes), so wird sich eine solche Situation wohl nicht mehr wiederholen. Offensichtlich trieb die Entscheidungsträger die Sorge um, eine afrikanische Sängerin oder ein afrikanischer Sänger könnte das internationale Niveau verfehlen oder den internationalen Geschmack nicht treffen. Das wirkt heute weit weg. Es wäre vielmehr nicht überraschend, wenn Burna Boy oder Wizkid am Hit für die Weltmeisterschaft 2026 in den USA beteiligt wären – die kulturelle Einbahnstraße gehört der Vergangenheit an.

Fotos: Maarten Kerkhof, Ameyaw Debrah, Kimkayndo, TCD Photography (2), Triggerfish