In Indien werden bekanntlich Kühe sehr verehrt. Heuer im Frühjahr, in den Anfängen der Coronakrise, wurden manche von ihnen auch besonders verwöhnt: Indische Bauern fütterten ihre Tiere mit Erdbeeren, Brokkoli und Salaten, die sie aufgrund des Lockdowns nicht verkaufen konnten. 

Die Pandemie hat die Lebensmittelbranche auf der ganzen Welt kalt erwischt: In kurzer Zeit brachen etablierte Lieferketten zu Restaurants, Hotels, Cateringunternehmen, Schul- und Bürokantinen weg. Internationale Transportwege wurden eingeschränkt, Erntehelfer konnten nicht anreisen. Manche Produzenten schafften es, ihre verderbliche Ware rasch in den Einzelhandel umzulenken oder über Direktvertrieb zu verkaufen, einiges wurde an Bedürftige verschenkt – und dennoch lieferte die Branche auch Meldungen von auf Feldern verrottenden Ernten und der Entsorgung großer Mengen von Milch, Eiern oder Gemüse. 

Nie am Teller

Wie hoch die krisenbedingten Nahrungsmittelverluste tatsächlich sind, darüber kann nur spekuliert werden. „Zu den globalen Auswirkungen gibt es keine Zahlen und ich bezweifle, dass wir jemals welche haben werden“, meinte Daniel Gustafson, Vize-Generalsekretär der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO kürzlich in einem Webinar zu „Covid-19-Krise und Lebensmittelabfälle“. Denn selbst in ruhigeren Zeiten sind Lebensmittel, die produziert, aber dann doch nie auf einem Teller landen, rechnerisch schwer zu erfassen. Nur wenige Länder liefern dazu verlässliche Daten. Die FAO schätzt daher grob, dass jährlich etwa ein Drittel der gesamten Lebensmittelproduktion nicht konsumiert wird, den damit verbundenen wirtschaftlichen Verlust setzt das World Resources Institute mit 940 Mrd. Dollar an.

Auf diese, manchmal auch als „stille Krise“ bezeichnete, Ineffizienz in den globalen Nahrungsmittelsystemen möchte nun der „Internationale Tag des Bewusstseins für Nahrungsmittelverlust und -verschwendung“ laut aufmerksam machen, den die Vereinten Nationen am 29. September 2020 zum ersten Mal veranstalten.

Schon vor fünf Jahren hat sich die internationale Staatengemeinschaft zu dem Ziel bekannt, bis 2030 die weltweite Nahrungsmittelverschwendung („Waste“) pro Kopf zu halbieren und Nahrungsmittelverluste („Loss“) zu verringern. Doch was ist der Unterschied zwischen Waste und Loss? Das eine, die Verschwendung, wird tendenziell als Phänomen eher reicher Länder beschrieben: Es geht um Lebensmittelabfälle, die auf der Einzelhandels- und Verbraucherebene anfallen: in Supermärkten, in Restaurants, in Privathaushalten. Und es wird zunehmend thematisiert. Dafür sorgen beispielsweise Erhebungen wie etwa jene der Universität für Bodenkultur, wonach in jedem Haushalt bis zu 133 Kilo genussfähige Lebensmittel, allen voran Brot und Gebäck, Obst und Gemüse sowie Milchprodukte und Eier, im Mist landen. Impulsive Kaufentscheidungen im Supermarkt, Unkenntnis im Umgang mit Lebensmitteln sowie eine gewisse Wegwerfmentalität dürften diese Entwicklung fördern.

Verlorene Ernten

Seltener wird hingegen über jene Abfälle gesprochen, die bereits am Beginn der Versorgungskette, von der Ernte, der Schlachtung oder dem Fang bis zur Einzelhandelsebene, anfallen: Wenn etwa Obst, Fisch, Milch oder Getreide weggeworfen, verschüttet, verbrannt oder sonst wie entsorgt werden, noch bevor sie in den Handel kommen. Betroffen ist nicht nur, aber oft, die kleinbäuerlich geprägte Landwirtschaft in Entwicklungsregionen. Die FAO kalkuliert, dass 14 Prozent des wirtschaftlichen Werts aller produzierten Nahrungsmittel in frühen Stadien verloren gehen, wobei die Verluste sehr ungleichmäßig anfallen. Auf regionaler Ebene reichen die Schätzungen von fünf bis sechs Prozent der Gesamternte in Australien und Neuseeland und sogar bis 21 Prozent in Zentral- und Südasien. 

Größere Verluste gibt es bei Wurzeln, Knollen und Ölpflanzen (25 Prozent), Obst und Gemüse (22 Prozent) sowie Fleisch und tierischen Produkten (12 Prozent).

Aus Gründen der Ernährungssicherheit und der ökologischen Nachhaltigkeit sehen Experten dringenden Handlungsbedarf gegeben. Denn einerseits muss eine wachsende Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Laut Prognosen der Universität von Washington wird die Erde bis 2064 rund 9,7 Milliarden Menschen beherbergen, das sind etwa zwei Milliarden Menschen mehr als heute. Der Druck, genügend Essen speziell in den Wachstumsregionen Afrikas oder Asiens auf die Teller zu bekommen, wird also eher steigen denn abnehmen. Und andererseits gehen mit ungenutzten Nahrungsmitteln auch eingesetzte Ressourcen wie Wasser, Boden, Saatgut, Düngemittel, Tierfutter und Arbeitsstunden verloren. Und was die Treibhausgasemissionen betrifft, so rechnet die FAO allein bei Nahrungsmittelverlusten mit einem CO2-Äquivalent von etwa 1,5 Gigatonnen. Fortschritte in diesem Bereich würden die Welt dem Ziel des Pariser Klimaabkommens näherbringen, die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. „Die Vergeudung von Nahrungsmitteln bedeutet, knappe natürliche Ressourcen zu verschwenden, den Klimawandel zu verstärken und die Chance zu verpassen, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren“, fasst es FAO-Chef Qu Dongyu zusammen. 

Viele Lösungen

Insbesondere bei Wurzeln, Knollen und Ölpflanzen sowie bei Obst und Gemüse sind die Verlustquoten hoch. Und dafür gibt es viele Gründe. Wird zum Beispiel zum falschen Zeitpunkt geerntet, oder auch einfach falsch geerntet, kann das Obst und Gemüse zu unreif, überreif oder beschädigt sein. Wird Ware falsch gelagert, nicht ausreichend gekühlt oder getrocknet oder vor Schädlingen geschützt, verliert sie ebenso an Wert. Und wenn ein Bauer trotz qualitativ hochwertiger Ware den Weg zum Markt nicht schafft, bleibt er auf dieser sitzen. Eine Studie der Rockefeller Stiftung geht davon aus, dass beispielsweise in Subsahara-Afrika 50 Prozent des Obst und Gemüses, 40 Prozent der Wurzeln und Knollen und 20 Prozent des Getreides nach der Ernte verloren gehen. 

Die gute Nachricht: Für etliche Probleme gibt es auch kostengünstige Hilfen. Lisa Kitinoja, Expertin für internationale Landwirtschaft (siehe Interview) bringt seit drei Jahrzehnten Kleinbauern bei, wie sie ihr Erntegut schonend behandeln oder die Haltbarkeit von Lebensmitteln verlängern können. In ihrem Buch „100 Under $100“ hat sie gleich hundert kostengünstige Werkzeuge zusammengetragen, die im bäuerlichen Alltag einen großen Unterschied machen können.

Interview mit Lisa Kitinoja, Postharvest Education Foundation

Ernteretterin

Die US-Landwirtschaftsexpertin Lisa Kitinoja, Gründerin der Postharvest Education Foundation, schult Kleinbauern in Afrika und Asien.

Und auch eine Reihe von Start-ups nehmen sich des Themas an, wie zwei Beispiele aus Afrika zeigen: Der nigerianische Agrarwissenschafter Nnaemeka Ikegwuonuuu widmet sich dem großen Problem der fehlenden Kühlmöglichkeiten der meisten Bauern: „Wir verlieren in Nigeria 45 Prozent des geernteten Gemüses und ein Drittel des Obsts, weil es in der Wärme schnell verdirbt“, erklärt er. Ikegwuonuuu entwickelte „ColdHubs“: Das sind begehbare, mit Solarenergie betriebene Kühlcontainer, die direkt bei Bauern und auf Marktplätzen aufgestellt werden. Wer seine Ware einlagern will, bezahlt rund 50 Cent pro Tag und Kiste. Das preisgekrönte Start-up betreibt rund 50 ColdHubs im Land und baut die Reichweite beständig aus. Auch der Ghanaer Isaac Sesi von Sesi Technologies hat eine hilfreiche Lösung entwickelt: Mit einem Gerät namens „Grain Mate“ können Bauern den Feuchtigkeitsgehalt ihres Getreides feststellen. Sie wissen dann, ob eine weitere Trocknung vor der Lagerung oder des Verkaufs erforderlich ist, können Pilzwachstum auf ihrer Ware vermeiden und so ihre Verluste deutlich senken. 

Kältekammer: ColdHubs in Nigeria

Mehr Action!

Solche Lösungen sind wichtige, aber nur kleine Teile eines großen und komplexen Puzzles. Für die effizientere Nutzung des globalen Angebots an Nahrungsmitteln sind viele Elemente notwendig: Vom Zugang von Bauern zu Schulungen, über Investitionen in Lieferketten und Marktzugänge bis zu Kooperationen zwischen Kleinbauern und internationalen Nahrungsmittelherstellern. 

Für Experten der FAO, Weltbank oder auch des World Resources Institute steht die Schaffung eines politischen Rahmens an erster Stelle: Sie forderten kürzlich in einem Webinar einen prominenten Platz für das Thema auf der politischen Agenda und hoffen, dass die Covid-19-Krise dabei als Katalysator wirkt. „Länder müssen Nahrungsmittelverluste und -verschwendung priorisieren“, sagt etwa Geeta Sethi, Global Lead for Food Systems bei der Weltbank. Ein ihrer Meinung nach vielversprechender Ansatz sei, das Thema explizit in nationale Klimaschutzziele aufzunehmen. „Jedes Land muss über eine Strategie für die Erreichung des Pariser Klimaabkommens verfügen. Die Agrarwirtschaft ist darin meist nur eine Fußnote. Ein Business-as-usual-Ansatz verändert die Landwirtschaft aber nicht, sie bleibt emissionsintensiv. Wir müssen Klimaschutz daher auch über die Reduktion der Nahrungsmittelverluste und -verschwendung anstreben“, so Sethi.

Als Hilfestellung hat die FAO im Juli eine Plattform lanciert, die erfolgreiche Modelle zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen präsentiert, E-Learning Kurse anbietet und an einer verbesserten Datenlage arbeitet. Manche ärmere Länder entwickeln bereits nationale Strategien. Weltbank und FAO bauen derzeit Multistakeholder-Programme gemeinsam mit sechs afrikanischen Ländern auf, um Hotspots in Versorgungsketten zu identifizieren, an denen besonders hohe Verluste auftreten. Durch den Austausch zwischen Regierungen und Unternehmen sollen innovative und umsetzbare Lösungen entstehen. „Man muss sich jeden Rohstoff und jede Kühlkette einzeln ansehen“, sagt Hans Hoogeveen von der FAO, „denn Änderungen passieren nur dort, wo es ganz konkret wird.“

Best Practice

Höhere Erträge

Nahrungsmittelverluste lassen sich durch eine Vielzahl von Interventionen deutlich reduzieren. Eine kleine Auswahl:

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Fotos: Brian Henderson, FAO/Jamaica, Coldhubs