Daheim bleiben, Abstand halten – so lautet seit Monaten in großen Teilen der Welt die Devise. Das erschwert die Ausbreitung des Coronavirus, aber auch das Leben von uns allen. Doch während in den Industrieländern viele Menschen auf Gärten, Balkone oder zumindest Wohn- und weitere Zimmer ausweichen können, wohnen vor allem in Entwicklungsländern Milliarden Menschen dichtgedrängt auf engstem Raum, quasi ohne Ausweichmöglichkeiten. Das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen UN-Habitat warnt bereits seit Jahren davor, dass sich die Zahl der in Slums lebenden Menschen angesichts wachsender Bevölkerungen und zunehmender Urbanisierung bis 2050 verdreifachen könnte – aktuell sind es weltweit bereits 1,4 Milliarden. In Mumbais größtem Slum Dharavi leben auf zwei Quadratkilometern zwischen 600.000 und einer Million Menschen. Zum Vergleich: Im am dichtesten besiedelten Bezirk Wiens, Margareten, sind es auf ebenfalls zwei Quadratkilometern rund 50.000 Menschen. 

Regierungen antworten mit unterschiedlichen Konzepten auf die Wohnungsnot, wobei sich in vielen Entwicklungsländern gezeigt hat, dass großformatiger sozialer Wohnbau auf abgeschiedenen Flächen die Probleme vieler Menschen, die stundenlang und häufig um teures Geld zur Arbeit pendeln müssen, nur bedingt verringert. Zudem sind Slums nicht nur Schlafstätten, sondern auch multifunktionale Gewerbegebiete – ein Aspekt, der bei den meisten Bemühungen bisher kaum Berücksichtigung fand. Die positive Nachricht ist: Weltweit gibt es immer mehr Sozialunternehmen, die mit ihren innovativen Lösungen neuen und besseren Wohnraum schaffen. 

Kein Robin Hood

Communicare heißt ein sowohl traditionsreiches als auch innovatives Sozialunternehmen, das in der Metropolregion Kapstadt in Südafrika tätig ist. Gegründet im Jahr 1929 spiegelt die Geschichte von Communicare ein Stück der bewegten Vergangenheit Südafrikas wider. Ins Leben gerufen wurde Communicare als NGO, noch bevor dieser Ausdruck überhaupt bekannt war, um armen weißen Südafrikanern mit öffentlich finanzierten Wohnlösungen zu helfen. In den 1980er Jahren öffnete Communicare das Angebot auch für die schwarze Mehrheitsbevölkerung, woraufhin die Apartheid-Regierung die finanzielle Unterstützung zurückzog. Vor diesem Hintergrund reifte die Erkenntnis, dass soziale Wohnlösungen nur angeboten werden können, wenn das Modell finanziell tragfähig ist. „Es ist ganz einfach: Wir müssen Geld verdienen, um Gutes zu tun. Sozialer Wohnungsbau, der sich nicht selbst trägt, ist zum Scheitern verurteilt“, sagt Michelle Matthee, Sprecherin von Communicare. 

Fußend auf dieser Erkenntnis wurde ein Konzept entwickelt, das auf Quersubventionierung setzt: Communicare vermietet einen Teil der Häuser und Wohnungen zu marktüblichen Preisen und subventioniert mit dem Gewinn günstige Wohnlösungen für Arme. Ein Robin-Hood-Ansatz? Matthee lacht und schüttelt den Kopf, wenn sie das hört. „Das ist doch ein bizarrer Name. Wir stehlen ja nichts von den Reichen. Diejenigen, die uns eine Miete zu marktüblichen Preisen oder sogar etwas darunter zahlen, würden dies ja ohnehin tun. Nur dass ihre Miete in diesem Fall auch Mitbürgern hilft, die es wirklich brauchen. Und jeder Cent, der übrig bleibt, geht in neue Häuser“, sagt sie. 

Soziales Kapstadt: Communicare schafft tausendfach leistbaren Wohnraum

Das Spektrum der Mieter reicht entsprechend von den ärmsten Gesellschaftsschichten bis hin zu jenen, die zwar einen sicheren Job haben, aber nicht genug verdienen, um sich bei Banken Geld für ein Eigenheim leihen zu können, darunter fallen in Südafrika etwa Lehrer oder Krankenpfleger. Das typische, von weitem erkennbare Communicare-Haus gibt es dabei nicht, das Angebot reicht von freistehenden Häusern bis zu großen Komplexen mit Wohnungen für alleinstehende Senioren. Den Bewohnern jeder Anlage wird ein eigenes soziales Entwicklungsprogramm geboten, das sie vor Isolierung und Perspektivlosigkeit bewahren soll. Aktuell geht es vor allem um die wichtigen Hygienemaßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus. 

Was allen Communicare-Wohnlösungen gemeinsam ist: Sie liegen in sicheren Vierteln, deutlich entfernt von der Kriminalität in den Townships und möglichst zentral. „Wir wollen den Mietern Chancen eröffnen. Sie können ihre Kinder plötzlich auf eine gute Schule schicken, zudem zahlen sie weniger für den Transport. Es geht nicht nur um ein neues Dach über dem Kopf, es geht um ein besseres Leben. Wir könnten 50 Kilometer außerhalb Kapstadts billig bauen, aber das ist kein Vorteil für die Menschen, die es nötig haben“, sagt Matthee. 

Und von denen gibt es immer mehr, denn die rasante Urbanisierung sowie wirtschaftliche Probleme, die sich im Zuge der aktuellen Krise noch deutlich verschärfen werden, lassen die Nachfrage nach leistbarem und dennoch lebenswertem Wohnraum in Südafrika in die Höhe schießen. Zehntausend Menschen in der Metropolregion Kapstadt leben aktuell in den 3.400 Communicare-Wohnungen, in den kommenden Jahren sollen Tausende hinzukommen. 

Interview mit Anthea Houston, CEO von Communicare

Bedarf wächst

Anthea Houston, Expertin für sozialen Wohnbau in Südafrika, wird durch die Coronakrise noch mehr Arbeit bekommen.

Sorgen ade

Von solchen Größenordnungen ist Hasit Ganatra, Gründer des Sozialunternehmens ReMaterials, noch ein Stück entfernt, er hat sich bislang um rund 700 Häuser gekümmert. Dabei baut der emsige Inder mit seinen knapp 70 Mitarbeitern keine Häuser, sondern nimmt sich der Dächer an. Diese seien in vielen Slums die größte Schwachstelle. Die meisten der 65 Millionen Inder, die in Slums leben, tun dies in behelfsmäßigen Häusern und Hütten mit Wellblechdächern. Heiß im Sommer, undicht und laut bei Regen, brüchig – Wellblechdächer führen zu enormen Problemen, als einzige Alternative bietet der indische Markt Dächer aus Beton, die aber für die meisten armen Menschen unbezahlbar sind. „Die Menschen wünschen sich langlebige und dichte Flachdächer, die sich auch zum Sammeln von Regenwasser oder zum Trocknen von Gewürzen eignen“, sagt Ganatra. 

Ganatra, der nach dem Technik-Studium in den USA in seine Heimatstadt Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat zurückgekehrt ist, war jahrelang auf der Suche nach einer nachhaltigen und kostengünstigen Lösung und experimentierte mit verschiedenen Materialien. Nach 300 Versuchen war unter dem Namen ModRoof der Prototyp für Dachpaneele gefunden. Die Lösung besteht in hellen Platten aus Karton- und Kunststoffabfällen sowie Kokosfasern und Sand, die wasserdicht und haltbar sowie leicht und schnell zu installieren sind. Dank ihrer Dämmfähigkeit verringert sich die Temperatur in den Häusern im Vergleich zu Wellblechdächern um bis zu zehn Grad. Ein Dach für eine durchschnittlich zwischen 20 und 25 Quadratmeter große Hütte kostet umgerechnet rund 700 Euro – das ist zwar teurer als ein Wellblechdach, aber deutlich günstiger als Betonplatten. Die Hälfte der Kunden von ReMaterials finanziert das neue Dach mit Mikrokrediten, die binnen zwei Jahren in Raten zurückgezahlt werden. 

Soziales Ereignis: ModRoof-Dächer sind stabil – und laden zum Verweilen ein.

Ganatra überlässt dabei nichts dem Zufall. So wurden auf den Prototypen Bananen verteilt, um zu testen, ob die Dächer springende Affen aushalten. Und auch dem Gewicht mehrerer Menschen halten sie ohne weiteres stand. „Unsere Kunden sind stolz auf ihre neuen Dächer. Sie essen dort zu Abend, schlafen teilweise auf ihnen, Kinder lassen von dort Drachen steigen“, sagt Ganatra, der sich vom Umsatzeinbruch, den auch ReMaterials wegen des Coronavirus heuer hinnehmen muss, nicht entmutigen lassen will. „2021 wird es wieder aufwärts gehen“, ist er überzeugt – und plant bereits Dächer mit Solarpaneelen und neuerdings auch modulare Wände für Slumhäuser.

Unterstützt wurde Ganatra bei der Entwicklung seiner Idee von der Unternehmensberaterin Deepa Prahalad, Tochter des weltbekannten Ökonomen C.K. Prahalad. Sie gerät ins Schwärmen, wenn sie von den positiven Wirkungen der neuen Dächer berichtet. 30 Prozent der Kunden hätten innerhalb eines halben Jahres nach Installation ihres Daches ein Unternehmen gegründet oder erweitert. Denn endlich müssten sie ihre Nächte nicht mehr damit verbringen, die Kinder und ihren Besitz vor dem eindringenden Regen zu schützen. „Seelenfrieden zu haben ist ein völlig unterschätzter Zustand. Stellen Sie sich vor, die Unternehmer in Österreich müssten sich um Wasser, Strom oder trockene Fußböden kümmern – wie viel Zeit hätten sie, um ihre Kunden glücklich zu machen und ihr Geschäft zu erweitern? Den Menschen ein paar Sorgen zu nehmen, ist ein wirklich wirksames Mittel, um Unternehmertum anzukurbeln“, sagt Prahalad.

Ziegel aus Plastik

Auch die österreichische Journalistin Sonja Sagmeister hat ihr Herz für Recyclingdächer entdeckt. Eine Taxifahrt in Wien brachte den Stein – oder besser: die Ziegel – ins Rollen. Der kamerunische Taxilenker Ferdinand Nforbi zeigte ihr Videos von Bergen an Plastikmüll auf den Straßen und an den Stränden seines Heimatlandes, Sagmeister recherchierte daraufhin weltweit zu innovativen Recyclingsystemen – und fand schließlich eine Lösung mit mehrfachem Nutzen. Der Plastikmüll lässt sich gemeinsam mit Sand zu Dachziegeln pressen, die wiederum eine stabilere und ökologischere Alternative zu den auch in Kamerun omnipräsenten Wellblechdächern darstellen.

Ziegel statt Taxi: Ferdinand Nforbi packt in Kamerun mit an.

Nforbi kehrte kurzerhand nach Kamerun zurück, um die Plastiksammlung zu organisieren. Weitere Mitarbeiter von Sagmeisters neu gegründeter Firma Amabo kümmern sich um die Verwertung. „Die Ziegel sind lokal hergestellte Ökoprodukte, zudem langlebig und bruchfest, was bei den miserablen Straßenverhältnissen in Kamerun alleine schon beim Transport ein Riesenvorteil ist“, sagt Sagmeister.

Was anfangs eine Art Hobbyprojekt war, für das Sagmeister ein Sabbatical nahm, nimmt immer mehr Form an. Die ersten zehn Häuser sind gedeckt, deutlich mehr sollen folgen. Amabo wurde in der Startphase im Rahmen einer Wirtschaftspartnerschaft von der Austrian Development Agency ADA maßgeblich gefördert und erhielt als erste Firma eine Finanzierung durch die 2019 ins Leben gerufene African-Austrian Investment Facility der Oesterreichischen Entwicklungsbank OeEB. Bereits jetzt ist Amabo mangels Konkurrenz der führende Dachziegelhersteller Kameruns – langfristig möchte Sagmeister ihr Start-up darüber hinaus zu einem bedeutenden Plastikrecycling-Unternehmen machen.

Fotos: 2xCommunicare, ReMaterials, Amabo