Interview

Der Mensch im Fokus

Ausgabe 84 – November | Dezember 2019

Der Historiker Daniel Maul sieht auch künftig eine große Rolle für die Internationale Arbeitsorganisation.

Daniel Maul, Universität Oslo
Daniel Maul forscht und unterrichtet an der Universität Oslo zu globaler Sozialpolitik. Er ist Autor des Buches „The International Labour Organization: 100 years of global social policy“.
Die ILO gibt es seit 100 Jahren. Was macht die Organisation im Kern aus?

Maul: Die ILO hat etwas sehr Wichtiges geschafft: Sie hat aus den Lehren der Vergangenheit einen starken Konsens unter ihren Mitgliedstaaten organisiert, nämlich, dass alle Politik einem übergeordneten Sozialziel – dem Menschen – dienen soll. Die ILO tritt seit jeher für einen aktiven Staat und sinnvolle sozialpolitische Regulierung ein, war aber gleichzeitig nie eine radikale oder revolutionäre Organisation. Vielmehr ist die ILO angetreten, den Kapitalismus und eine offene Wirtschaftsform menschlicher zu machen. 

Mit welchen Herausforderungen kämpft die ILO?

Maul: Das dreigliedrige Prinzip der ILO, das stets eine große Stärke der Organisation war, ist von unterschiedlichen Seiten unter Druck. Zum einen verlieren die Gewerkschaften in vielen Industrieländern an Bedeutung und damit auch an Repräsentativität und Verhandlungsmacht. Zum anderen befinden sich viele Menschen weltweit in prekären oder informellen Arbeitsverhältnissen und sind damit in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert. Anders als bei ihrer Gründung erhebt die ILO heute den Anspruch eine globale Organisation zu sein, deren Klientel alle arbeitenden Menschen weltweit, und nicht nur klassische Industriearbeiter oder Angestellte sind. Die ILO ist daher sehr bemüht, sowohl in der Normensetzung – die seit 2011 etwa auch den Aspekt der Heimarbeit erfasst – als auch in der technischen Zusammenarbeit diese neuen Realitäten zu berücksichtigen. 

Wo liegen die großen Zukunftsfragen der ILO?

Maul: Der Kern liegt in der Unterstützung der Mitgliedstaaten. Es gibt viele große Zukunftsthemen wie Digitalisierung, neue Formen der Arbeit oder Migration, bei denen die ILO eine wichtige Rolle spielen kann und sollte, um einen Konsens zu finden und neue Regulierungen anzustoßen. Letzten Endes ist die ILO aber nur so stark wie ihre Mitgliedsländer sie sein lassen und auch nur dort, wo ihre Mitglieder glauben, dass es von Nutzen ist. Damit die ILO handlungsfähig ist, braucht es aber auch starke Gewerkschaften sowie Arbeitgeberverbände, die ein aktives Interesse an der Zusammenarbeit innerhalb der Organisation zeigen. Aber ich bin überzeugt, dass die ILO ihr Mandat bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat.

Vielen Dank für das Gespräch.
Foto: Universität Oslo

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