Wenn Affen wie benebelt torkeln, Antilopen plötzlich einknicken und selbst Elefanten wanken, dann sorgt das für ungewöhnliche, auch erheiternde Bilder. Im Filmklassiker „Die lustige Welt der Tiere“ und in etlichen Youtube-Videos sind Tiere in solch rauschähnlichen Zuständen festgehalten. Für das Phänomen gibt es eine populäre Erklärung, die sich seit langem hartnäckig hält: Der Marulabaum in Afrika soll schuld sein, genauer gesagt seine gärenden Früchte, von denen sich Tiere offenbar betrunken essen können. So lautet die eine Theorie. Eine andere: Den Tieren werden nicht die Früchte zum Verhängnis, sondern die Larven eines Holzkäfers, die sie beim Anknabbern der Baumrinde zufällig mitverzehren.
Geschätzt und geschützt
Zumindest eins ist unbestritten: Wenn der Duft reifer Früchte in der Luft liegt, dann legen Tiere auch weite Strecken zurück, um ihren Appetit auf süßsaure Marulas zu stillen. Elefanten sollen besonders verrückt nach ihnen sein, weswegen der Marula oft auch Elefantenbaum genannt wird.
Mit einer Höhe von bis zu 18 Metern zählt er zu den größten einheimischen Pflanzen Afrikas. Er wächst in warmen und trockenen Regionen: vom Senegal bis Äthiopien, von Namibia bis Mosambik, von Südafrika bis Madagaskar. Die Bäume werden verschont, auch wenn andere Pflanzen weggerodet werden, erzählt der in Simbabwe lebende Agrarforscher und Unternehmer Gus Le Breton, der als „The African Plant Hunter“ gern die afrikanische Pflanzenwelt im kurzweiligen Videoformat der Welt präsentiert. Für ihn ist der Marula schlichtweg der „Rockstar unter Afrikas Bäumen“, weil er sich auf so vielfältige Weise nutzen lässt
Ein einzelner Baum kann pro Saison mehr als 500 Kilo Früchte tragen. Das zwetschkengroße Obst fällt zwischen Jänner und April grün von den Ästen. In wenigen Tagen reift es und färbt sich dabei gelb. Marulas müssen rasch konsumiert oder verarbeitet werden. „Am besten schmeckt die saftige Frucht frisch“, sagt der Südafrikaner Cyril Lombard, der seit 30 Jahren im Marulageschäft tätig ist und seine Expertise aktuell als Berater bei der deutschen Entwicklungsagentur GIZ einbringt.
Interview mit Cyril Lombard, Marulaexperte und Berater bei der GIZ
Warten auf Marulariegel
In den Herkunftsländern werden Produkte aus Marulas meist am Straßenrand und auf Dorfmärkten gehandelt. Das Fruchtfleisch gibt es etwa eingekocht in Form von Gelees und Marmeladen – oder es wird, besonders populär, aus dem Saft ein Cider oder süßer Wein fabriziert.
Aus Afrika in die Welt
Ein cremiger Likör auf Marulabasis hat es sogar in die österreichischen Supermärkte geschafft: Amarula. Das vor rund 30 Jahren auf den Markt gebrachte Kultgetränk aus Südafrika ist in mehr als hundert Ländern erhältlich. Für eine afrikanische Marke ist das eine außergewöhnlich starke globale Präsenz. Auch auf Gin, Tonic Water und Fruchtwein mit Marulaaroma kann man in Europa stoßen. Und wer genau hinsieht, findet Marula auch in den Regalen für Kosmetik- und Pflegeprodukte. Zahlreiche Marken wie Schwarzkopf, Annemarie Börlind, Kneipp, Paul Mitchell, Sante Naturkosmetik, Drunk Elephant, Burt‘s Bees, Kérastase oder The Body Shop listen in ihren Inhaltsstoffen „Sclerocarya Birrea seed oil“ – Marulaöl – auf. Aus den Kernen der Frucht lässt sich nämlich ein hellgelbliches, mild duftendes Öl gewinnen, dem besondere Eigenschaften für die Pflege von Haut und Haar nachgesagt wird. Die Hersteller setzen es in Bartpflege, Lippencreme, Kompaktpuder, Massageöl, Waschgel, Shampoo oder Hautcreme ein.
„Afrikanische Frauen verwenden reines Marulaöl seit Jahrhunderten für die Pflege. Es ist reich an Vitamin C und E sowie an den essenziellen Fettsäuren Omega 6 und Omega 9. Es versorgt die Haut mit Feuchtigkeit, wirkt entzündungshemmend und antimikrobiell“, zählt Rita Ram einige der vielen positiven Eigenschaften auf. Die Wienerin war auf Anhieb so begeistert von dem kaltgepressten Pflanzenöl, dass sie es seit 2019 aus Kapstadt importiert und unter der Eigenmarke „Marulaglow“ im deutschsprachigen Raum verkauft. Den Namen hat die Jungunternehmerin gewählt, „weil das Öl der Haut einen leichten Schimmer verleiht. Dieser Gloweffekt ist bei vielen Frauen beliebt. Vor allem in Korea, China und Japan ist es ein großer Trend“, erzählt Ram.
Marulaöl: Noch in der Nische
Auch der Deutsche Udo Reinhardt ist zum Fan geworden und wie Rita Ram in den Handel mit dem pflegenden Öl eingestiegen. Er entdeckte es auf einer Reise nach Swasiland und liefert es heute mit seinem Unternehmen Aurum Africa an europäische Kosmetikhersteller. „Marulaöl ist zu einem wichtigen Bestandteil in den Formulierungen für viele Make-up- und Pflegeprodukte geworden“, sagt Reinhardt, „es ist kein Geheimtipp mehr, aber auch noch kein Mainstreamrohstoff.“
Interview mit Udo Reinhardt, Geschäftsführer von Aurum Africa
Gefragter Rohstoff für die Kosmetikindustrie
Das Geschäft mit dem exotischen Anti-Aging-Öl bewegt sich noch im überschaubaren Rahmen. Den Weltmarkt für Marulaöl schätzt Persistence Market Research für das Jahr 2021 auf gerade einmal 48 Mio. Dollar, mit jährlichen Wachstumsraten von knapp fünf Prozent zwischen 2016 und 2020. Zu den Hauptexporteuren zählen Südafrika, Botswana, Nigeria und Sambia, zu den größten Importeuren Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und die USA. Allerdings seien die Zahlen über den Marulahandel mit Vorsicht zu betrachten, warnt Cyril Lombard. „Zuverlässige Handelsdaten sind schwer zu bekommen. Es wird heute noch viel hochgerechnet und geschätzt.
Viele der Händler im Kosmetikgeschäft haben Marulaöl inzwischen in ihre Kataloge aufgenommen, so Lombard. „Das Marktwachstum für Öl als kosmetischem Inhaltsstoff zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Anzahl der Hersteller und Marken groß ist und nicht nur wenige große Marken dominieren. Das ist ein gutes Zeichen.“
Handarbeit
Marulaöl ist vor allem eins: Frauensache. Denn es sind meist Frauenkooperativen, die die Früchte einsammeln und für die Ölpressung aufbereiten. Allein im Auftrag von Aurum Africa, erzählt Udo Reinhardt, seien 8.000 Frauen in Namibia saisonal beschäftigt. „Die Produktion von Marulaöl ist ziemlich aufwändig“, sagt der Unternehmer. Zunächst müssen die harten Nüsse der Frucht von der Schale und dem Fruchtfleisch getrennt und getrocknet werden. Anschließend werden sie mit einem Stein oder einer Schneidemaschine aufgebrochen. Die darin befindlichen Kerne werden mithilfe eines spitzen Gegenstands herausgelöst.
Traditionell werden die Kerne in einem Holzgefäß so lange zerstoßen, bis das wertvolle Öl austritt. Für Exportware übernehmen mittlerweile Ölpressen diese Arbeit. Das kaltgepresste, pure Öl wird zudem sorgfältig gefiltert und in Fässer abgefüllt. „Es hat eine Zeit gedauert, bis die für internationale Kosmetikhersteller notwendige Qualität erreicht wurde“, erklärt Lombard, „heute schaffen das viele, auch kleinere Unternehmen in Afrika.“
In den Startlöchern
Lombard ist überzeugt, dass in der Marula weitere Chancen für neue Exportprodukte stecken: „Sie könnte irgendwann eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie Arganöl, Acaibeere oder Granatapfel werden. Dazu muss aber die gesamte Wertschöpfungskette in den Ländern weiterentwickelt werden, und dafür braucht es gemeinsame Standards und Ziele.“ Gegenwärtig wird dazu im Rahmen von „ABS Compliant Biotrade in South(ern) Africa“ ein strategischer Entwicklungsplan für den Marulasektor erarbeitet. Das Projekt wird vom Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft SECO finanziert und von der GIZ geleitet. Dabei geht es auch um viel Basisarbeit, wie Lombard erzählt: „Wir ermutigen beispielsweise alle beteiligten Stakeholder, zuverlässige Handelsdaten zu sammeln. Nur so können wir neue Strategien entwickeln, potenzielle Kunden über das Angebot informieren und Skalierungsmöglichkeiten entdecken.“
Erste Meilensteine des Entwicklungsplans könnten bald auch für Außenstehende sichtbar werden. So vereinen beispielsweise lokale Organisationen wie die Southern African Essential Oil Producers Association SAEOPA die Marulaproduzenten in einem neuen gemeinsamen Netzwerk, um das Wachstum des Sektors zu unterstützen. Es soll eine erste Anlaufstelle für Unternehmen werden, die sich für den Rohstoff interessieren.
Im kommenden Mai wird Marula überdies auf der Vitafoods Europe, einer Fachmesse für Ernährung und funktionelle Lebensmittel in Genf, vorgestellt – und zwar die Frucht und nicht das Öl. Denn Mitte 2023 soll die Zulassung für Marula als Neuartiges Lebensmittel („Novel Food“) in der Europäischen Union beantragt werden. Lombard ist optimistisch, dass diese Hürde zu schaffen und vielleicht sogar schon Ende nächsten Jahres der Weg für Fruchtsaft, Riegel oder Marmelade nach Europa geebnet ist. Danach werden Anträge auf Marktzulassung für die USA, Kanada und später auch China angestrebt.
Im Überfluss vorhanden
Dass es für den Einzug in die internationale Welt der Supermärkte am Rohstoff mangeln könnte, ist vorläufig nicht zu befürchten. „Die Bäume tragen so viele Früchte, ein Großteil der Marulas bleibt heute am Boden liegen und verrottet“, sagt Lombard. Trotz des wildwachsenden Überflusses gibt es in mehreren Ländern Versuche, Marulas in Plantagen zu kultivieren, wobei zwei größere Projekte – eins in Israel und eins in Südafrika – als nennenswert gelten. „Die lokale Branche steht aber noch nicht wirklich dahinter“, sagt Lombard. „Plantagen werden erst dann entstehen, wenn große Unternehmen ernsthaftes Interesse an Marulafruchtprodukten zeigen und die Beschaffung über Großlieferanten einfordern. Das ist vielleicht in fünf Jahren der Fall.“
Bis die Frucht die Welt erobert, wird es also noch etwas dauern. Inzwischen bleiben dem europäischen Marulafan immerhin drei Optionen: Mit dem Öl das eigene Antlitz verjüngen, cremigen Amarula genießen – oder sich einfach an Aufnahmen von Tieren im vermeintlichen Marularausch erfreuen.
Tausendsassa aus Afrikas Süden
Der Marula-Baum (Sclerocarya birrea subsp. caffra) gedeiht unter frostfreien, warmen Bedingungen im südlichen Afrika. Er zählt zur Familie der Sumachgewächse, zu der auch Mango, Pistazie und Cashew gehören. In den Ursprungsländern werden die meisten Teile des Baumes und seiner Früchte für medizinische Zwecke verwendet oder verzehrt. Das Öl der Marulakerne wird auf lokalen und internationalen Märkten – in den Varianten kaltgepresst und raffiniert – verkauft und aufgrund der besonderen pflegenden Eigenschaften von der Haut-und Haarpflegeindustrie immer öfter eingesetzt.
In Afrika wird Marulaöl traditionell auch für die Essenszubereitung und zur Konservierung von Fleisch verwendet. Alternativ werden die Kerne als proteinreicher Snack gegessen, zu einer Creme verarbeitet oder pulversiert als Würzmittel verwendet. Das Fruchtfleisch der Marula wird gern frisch gegessen oder zu Säften, Marmeladen, Pürees, Gelees oder alkoholischen Getränken verarbeitet. Der Cremelikör „Amarula“ (Hersteller: Distell Group) hat es weit über Südafrikas Grenzen hinaus in den internationalen Handel geschafft. Die Blätter des Baums werden wiederum als Gewürz und für Saucen und Dressings verwendet. Selbst die Baumrinde ist nützlich: Ein aus der Rinde gewonnener rötlicher Sud ist für die Wundheilung und bei Verdauungsproblemen einsetzbar. Manche Marulaverarbeiter setzen übrigens auf „Zero-Waste“: Abfälle wie Schale und Kerne lassen sich zu Tierfutter, Haushaltsreinigungsmitteln oder Aktivkohle verarbeiten.