Überschwemmungen, Armut, Billig-T-Shirts – so oder so ähnlich lauten gängige Assoziationen mit Bangladesch. Das Bild von Photovoltaikanlagen auf Hüttendächern schießt hingegen wohl nur wenigen Menschen durch den Kopf. Dabei sind Solarpanele im südasiatischen Land allgegenwärtig: Rund 5,5 Millionen Haushalte verfügen über ein eigenes Solarheimsystem, kurz SHS, das Licht, Handyakkus, Radios und Ventilatoren mit Strom versorgt.
Dass gerade Bangladesch ein weltweiter Spitzenreiter bei SHS ist, liegt vor allem an einem ambi- tionierten Regierungsprogramm, das seit 15 Jahren die Installation kleiner Solaranlagen im ländlichen Raum unterstützt. Zwanzig Millionen Bangladeschis – mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung – erhielten dadurch Zugang zu Strom, wo weit und breit kein Strommast zu sehen ist. Und es sollen noch mehr werden: Bis 2021 sind 500.00 weitere Kleinanlagen geplant.
Ohne Netzanschluss
In Regionen, in denen öffentliche Stromnetze nicht existieren, lückenhaft oder unzuverlässig sind, bieten solare Off-Grid-Lösungen einen alternativen Einstieg in ein Leben mit Elektrizität. Das Angebot für individuelle Nutzer ist breit: angefangen von Solarlaternen über kleine, kompakte Photovoltaikmodule, mit denen sich Lampen und Akkus auf- laden lassen, bis zu Solarheimsystemen, die mittlerweile auch den Betrieb energieeffizienter Fernseher, Ventilatoren und Kühlschränke erlauben.
Und der Bedarf dafür ist riesig: Rund 840 Millionen Menschen, vor allem in Südasien und Subsahara-Afrika, leben heute noch ohne Strom. Solarlösungen seien „kostengünstig, zuverlässig sowie schnell und einfach zu installieren“, so Sascha Brandt vom internationalen Branchenverband Global Off-Grid Lighting Association GOGLA in Utrecht, „und daher einzigartig positioniert, um Millionen von Haushalten Zugang zu Strom zu verschaffen.“
Interview mit Sascha Brandt, Global Off-Grid Lighting Association
Tempobranche
Viele sind schon dabei: Laut GOGLA haben bis Ende 2018 weltweit rund 108 Millionen Haushalte durch solare Lösungen Zugang zu Licht erhalten, allein von 2017 auf 2018 sind die Umsätze in der Branche um 77 Prozent gestiegen. Die zunehmende Popularität geht Hand in Hand mit der wachsenden Leistbarkeit: Einerseits sind die Kosten für Solarmodule in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 80 Prozent gesunken. Anderereits entstanden innovative Finanzierungsmodelle, die auf kleine Einkommen Rücksicht nehmen. Vor allem das Bezahlmodell Pay-as-you-go ist mittlerweile bei vielen Anbietern Standard. Ein Beispiel: Das seit 2012 in Afrika tätige britische Solarunternehmen Azuri Technologies bietet ein Basissolarsystem mit einem Zehn-Watt-Panel, einer Batterie, einer Steuerungseinheit, vier LED-Leuchten, einem Radio, einer Taschenlampe sowie einer Handy-Aufladestation. Ein Kunde in Kenia schließt dafür typischerweise einen 82-Wochen-Vertrag ab und bezahlt via Handytransaktion eine wöchentliche Rate von rund 2,90 Euro – nur wenn die Rate bezahlt ist, lässt sich die Anlage auch einschalten. Da ärmere Haushalte für Kerzen, Taschenlampenbatterien und Kerosinlampen ohnehin bis zu einem Drittel ihres Nettoeinkommens ausgeben, ist die Zahlungsbereitschaft für die solare Alternative durchaus vorhanden. „Vorabkosten oder Anzahlungen entstehen für die SHS keine. Und sobald der Kunde das Paket vollständig bezahlt hat, gehört es ihm – der Strom fließt dann kostenfrei“, erklärt Gina Ghensi, Marketingverantwortliche bei Azuri. Das Basispaket lässt sich seit dem Frühjahr 2019 auch um einen Satellitenfernseher upgraden.
Trotz staatlicher Förderungen oder attraktiver Ratenzahlungen bleiben kleine Solaranlagen für viele Menschen unleistbar. Eine Lösung für potenzielle, aber zu arme Kunden hat der Deutsche Sebastian Groh entwickelt. Er ermöglicht Solaranlagenbesitzern in Bangladesch den Verkauf ihres überschüssigen Stroms. „Fast ein Drittel des erzeugten Stroms geht verloren, weil Haushalte diesen nicht verbrauchen“, erklärt Groh. Sein Start-up Solshare verkabelt daher mehrere Anlagen zu einem dezentralen Ministromnetz. Auch Haushalte ohne eigenes Panel bekommen einen Anschluss und können bei Bedarf Strom von ihren Nachbarn zukaufen. Die Bezahlung wird via Handy durchgeführt.
Die von Solshare kreierten Netze gehören den Teilnehmern selbst, die auch die Verkabelung und die für den Handel notwendigen intelligenten Stromzähler finanzieren. Ähnliche Beispiele der „Schwarmelektrifizierung“, wie Groh das Modell nennt, finden sich inzwischen auch in Kambodscha oder Tansania.
Sauberer Inselstrom
Autarke Stromnetze funktionieren normalerweise aber nicht über das Zusammenkoppeln von Kleinstsystemen. Üblicherweise verteilt eine zentral installierte Energiequelle über Freileitungen den Strom an die Nutzer. Die Netze werden oft mit Dieselgeneratoren betrieben, können rein mit erneuerbarer Energie wie Sonne, Wasserkraft, Biomasse oder Wind laufen, oder kombinieren saubere Energie mit Diesel-Back-up. Durch den Einsatz von Batterien lassen sich die Netze stabilisieren.
Erst vor wenigen Wochen gingen mehrere Solar-Hybrid-Netze österreichischer Unternehmen in Entwicklungsländern offiziell in Betrieb. So hat der Wiener Investor RP Global – mit finanzieller Unterstützung der EU – auf gleich zehn Inseln im Viktoriasee elf Microgrids und 180 Kilometer Leitungen um Gesamtkosten von rund fünf Mio. Euro installiert. „Damit werden zwanzig Dörfer mit insgesamt mehr als 80.000 Einwohnern erstmals mit Strom versorgt“, so Leo Schiefermüller, Afrika-Direktor der RP Global anlässlich der Inbetriebnahme im Juli. Die neuen Netze sollen nicht nur Licht in Hütten bringen, sondern vor allem lokale wirtschaftliche Aktivitäten wie Werkstätten, Mühlen oder Geschäfte ankurbeln.
Auch die Wiener Firma Swimsol ist spezialisiert auf die Stromversorgung von Inseln, dabei aber nicht in Afrika, sondern auf den Malediven und in Malaysia tätig. Kunden sind Hotelresorts, die ihre Abhängigkeit von umweltschädlichen Dieselgeneratoren verringern wollen. Swimsol bietet ihnen Photovoltaikanlagen, die auf Schwimmpontons installiert werden. Aufgrund der Kühlwirkung und der Lichtreflexionen des Wassers erzielen diese Anlagen bis zu zehn Prozent mehr Leistung als auf Dächern angebrachte Panele.
Eine Schwimmplattform kostet laut Geschäftsführer Martin Putschek etwa zwei Mio. Dollar pro Megawatt – je nach Dieselpreis ist sie also nach acht bis zwölf Jahren abbezahlt. Der komplette Umstieg auf Solarstrom sei aber nicht möglich, so Putschek: „Derzeit können maximal 50 Prozent des Strombedarfs einer Insel mit Solarstrom und Batterie kostengünstiger als mit Dieselgenerator gedeckt werden. Für die Speicherung über Nacht müssten Batterien um einiges billiger werden.“ Ein im August fertig gestelltes Projekt auf einer Hotelinsel im Süd Ari Atoll kombiniert daher 2.500 Solarmodule – davon „schwimmt“ ein Drittel – mit den üblichen Dieselgeneratoren. Die Module erreichen eine Nennleistung von 678 Kilowatt Peak – genug, um alle 193 Gästevillen untertags mit Strom zu versorgen.
Lieber gleich dezentral
Der Off-Grid Sektor zeigt sich jedenfalls bunt und innovationsfreudig und bietet wohl noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten. Doch „um sein volles Potenzial zu entfalten, sind noch viele Hürden zu nehmen“, meint Ling Ng vom Unternehmensverband Alliance for Rural Electrification ARE in Brüssel. So müssten sich etwa politische Rahmenbedingungen und der Zugang zu erschwinglicher Finanzierung verbessern. Solshare-Chef Sebastian Groh fordert, dass Off-Grid Lösungen in staatliche Elektrifizierungspläne integriert werden, denn die Ausweitung von traditioneller Strominfrastruktur würde in vielen Regionen ökonomisch keinen Sinn ergeben. Sie wäre sogar ein Rückschritt, meint Groh: „Es wäre wie wenn man der ländlichen Bevölkerung heute die Mobiltelefone verwehrte und ihnen stattdessen einen Festnetzzugang legen würde.“
Best-Practice
Schwarm mit Charme
Als „Schwarm-Elektrifizierung“ bezeichnet das in Bangladesch tätige Start-up Solshare sein Konzept, individuelle Solarheimsysteme miteinander zu verbinden und überschüssigen Strom über eine Peer-to-Peer-Plattform zu handeln. Die dezentralen Mininetze bestehen aus mindestens 15 bis 20 Anlagen, die maximal 50 Meter auseinander liegen. „Die geringe Distanz senkt die Kosten für die Kabel und hält die Leitungsverluste auf einem tragbaren Minimum“, erklärt Geschäftsführer Sebastian Groh. Die Netze speichern überdies genug Strom für die Überbrückung sonnenarmer Tage. Teilnehmer erhalten einen intelligenten Zähler, der Stromangebot und -nachfrage laufend erfasst. Fließt überschüssiger Strom ins Netz, bekommt der Verkäufer rund einen Dollar pro Kilowattstunde auf sein Handy gutgeschrieben. Man kann aber auch Strom zukaufen, um etwa Wasserpumpen zu betreiben oder die Akkus von Elektro-Rikschas zu laden. Solshare erhebt pro gehandelter Kilowattstunde eine kleine Transaktionsgebühr. Rund 25 solcher smarter Plattformen sind in Bangladesch in Betrieb, bis Ende 2019 sollen es 80 sein.
Die Welt in der Hütte
Wer sich in Afrika ein Solarheimsystem SHS leistet, wünscht sich zunächst Licht – und dann einen Fernseher, so das Ergebnis einer Verbraucherstudie. Das britische Solarunternehmen Azuri Technologies hat, nach eigenen Angaben, das erste Solar-TV- und Satellitenpaket speziell für Kunden ohne Stromanschluss entwickelt. Seit dem Frühjahr 2019 ist das Angebot unter anderem in Kenia erhältlich: Ein Set, bestehend aus 50-Watt-Solarpanel, Beleuchtung, 24-Zoll-Fernseher und Satellitenschüssel kommt auf rund 780 Euro, und lässt sich via Handy in Wochenraten von sechs Euro abzahlen. Mit dem Zugang zu 60 TV-Sendern soll laut Azuri über Unterhaltung hinaus auch Entwicklung gefördert werden: durch Lernprogramme für Kinder und Inhalte für Bauern zu besseren landwirtschaftlichen Praktiken. Azuri, das seit 2012 in Afrika mehr als 150.000 SHS verkauft hat, setzt übrigens auf maschinelles Lernen, damit Licht und Fernseher niemals ausgehen: Eine eingebaute Software analysiert die klimatischen Bedingungen und Nutzungsmuster und fährt den Stromverbrauch bei Bedarf herunter, etwa durch automatisches Dimmen von Lichtern und Bildschirmen.