Was haben der britische Premierminister, die US-amerikanische Vizepräsidentin sowie die CEOs von Google, Microsoft oder Deloitte gemeinsam? Sie gehören zu den vielen führenden Persönlichkeiten auf dem internationalen Parkett, die in Indien geboren sind oder indische Wurzeln haben. Für Indiens Regierung stellt die erfolgreiche Diaspora, die weltweit 25 bis 30 Millionen Menschen zählt, einen Werbeträger für das Land dar. Premierminister Narendra Modi umwirbt sie regelmäßig auf seinen Auslandsreisen – und lässt sich dabei mitunter von zehntausenden Menschen öffentlichkeitswirksam feiern, von New York bis Durban in Südafrika. 

Modis Message an die Welt: Die Zeiten, in denen Indien weltweit als Synonym für Armut und Unterentwicklung galt, sind vorbei. Indien ist nun mit boomenden Zentren wie Bengaluru oder Mumbai und Vorzeigeindustrien wie der IT-Branche ein wirtschaftlich erfolgreiches Land, das seinen Platz im Konzert der führenden Staaten beansprucht. Groß angelegte Kampagnen aus jüngerer Zeit mit Slogans wie „Incredible India“ oder „India Shining“ sind nicht nur Tourismus- oder Investment-PR, sondern lassen sich auch als Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins verstehen.

Indien Modi
Bad in der Menge: Indiens Premierminister Narendra Modi wird von der indischen Diaspora im südafrikanischen Durban begeistert empfangen.

Ambitioniertes Ziel

Der wirtschaftliche Erfolg unterstützt – zumindest in absoluten Zahlen – die Selbstwahrnehmung: Mit einem nominalen Bruttoinlandsprodukt von rund 3.000 Milliarden US-Dollar ist Indien mittlerweile die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt – und hat damit kürzlich, im 75. Jahr seiner Unabhängigkeit, die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien überholt. Und das Ziel ist klar: „Heute die Nummer fünf, bald schon die Nummer drei“, wie die indische Finanzministerin Nirmala Sitharaman verkündete. Indien strebt an, hinter den USA und China (und vor Japan und Deutschland) zur drittgrößten Volkswirtschaft zu werden. Noch früher wird Indien zum bevölkerungsreichsten Staat der Welt avancieren: Bereits 2023 könnte der Subkontinent, der heute mit 1,4 Milliarden Einwohnern etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung stellt, diesen Status von China übernehmen. 

Indiens Aufstieg gründet auf dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund 30 Jahren. Damals verlor Indien seinen wichtigsten Handelspartner, aber auch das Vorbild für das eigene Wirtschaftsmodell, das sich in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit 1947 in Abschottung übte und kaum Wachstum generierte. Aufgrund einer Zahlungsbilanzkrise führte Indien ab 1991 tiefgreifende Wirtschaftsreformen durch und setzte vor allem auf eine Integration in den Weltmarkt und ausländische Investoren. Investitionen und Produktionen vor Ort wurden erheblich erleichtert. Im Ease of Doing Business Index der Weltbank kletterte Indien von den hintersten Rängen auf Platz 63 im Jahr 2020. Zwischen 2000 und 2010 wuchs Indiens Wirtschaft jährlich um durchschnittlich 8,8 Prozent. 

Christian Wagner, Indienexperte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik, hält fest: „Indien wurde zwar nicht zu einer neuen Werkbank der Welt wie China, erwarb sich aber vor allem durch seinen großen Dienstleistungssektor und IT-Bereich einen Ruf als Büro der Weltwirtschaft. Und die wirtschaftliche Liberalisierung machte deutlich, dass das Wirtschaftswachstum zuvor weniger durch kulturelle Faktoren wie das Kastensystem als vielmehr durch institutionelle Faktoren begrenzt worden war.“

Indien Flugzeugträger
Ganzer Stolz: Indiens prestigeträchtiger Flugzeugträger INS Vikrant wird fortan den Indopazifik durchkreuzen.

Eigenständiger Weg

Laut Wagner ging mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Indiens in den vergangenen Jahrzehnten der internationale Bedeutungszuwachs Hand in Hand. Ablesbar sei dies an der Mitgliedschaft in den G20 (seit dem 1. Dezember 2022 hat Indien den jährlich wechselnden Vorsitz inne), einem größeren Gewicht in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds sowie an den strategischen Partnerschaften mit allen Vetomächten des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. 

Zugleich grenzt sich Indien von beiden Supermächten, USA und China, ab. So blieb dem Westen nichts anderes übrig, als Indiens Absage zu Sanktionen gegenüber Putins Russland, dem Hauptlieferanten indischer Rüstungsgüter, zur Kenntnis zu nehmen. Aber auch für Chinas Neue Seidenstraße ist Indien nicht zu haben. Vielmehr präsentiert es sich als eigenständige Großmacht – und unterstreicht diese Ambitionen etwa mit der Ankündigung, dass der kürzlich fertiggestellte Flugzeugträger INS Vikrant im Indopazifik künftig indische Sicherheitsinteressen vertreten soll.

Interview mit Ruchita Beri vom Afrikazentrum des Manohar Parrikar-Forschungsinstituts in Neu-Delhi

Indien Ruchita Beri

Gemeinsames Erbe

Ruchita Beri, Koordinatorin des Afrikazentrums am Manohar Parrikar-Forschungsinstitut in Neu-Delhi, betont die Relevanz der indisch-afrikanischen Beziehungen.

Mehr Präsenz in Afrika

Zugleich streckt Indien seine Fühler verstärkt nach Afrika aus. Drei Gipfeltreffen 2008, 2011 und 2015 trieben die sicherheitspolitische sowie wirtschaftliche Kooperation voran. Und auch auf der Ausbildungsebene nimmt diese greifbare Formen an: Tausende afrikanische Studenten erhalten Jahr für Jahr Stipendien an indischen Universitäten. Laut der Expertin für indisch-afrikanische Beziehungen Ruchita Beri begründet Indien solche Soft Power-Bemühungen mit den geteilten Kolonialismuserfahrungen (siehe Interview).

Darüber hinaus zog auch der indisch-afrikanische Handel an und stieg von mageren 6,9 Mrd. Dollar im Jahr 2000 auf 82 Mrd. Dollar im Vorjahr. Indien ist damit nach China Afrikas zweitwichtigster Handelspartner. So kauft Indien seit zwei Jahrzehnten verstärkt afrikanisches Öl, vor allem aus Nigeria, und kann damit auch seine Abhängigkeit von den Golfstaaten reduzieren. Uranimporte aus Staaten wie Niger oder Namibia sind für die Atommacht Indien ebenfalls von Bedeutung. Auf der Exportseite sind vor allem Kraftfahrzeuge und Pharmaprodukte zu nennen. Zudem sind die afrikanischen Staaten viel versprechende Absatzmärkte für Indiens in Aufbau befindliche Rüstungsindustrie.

Mit seinem Engagement in Afrika untermauert Indien laut Christian Wagner seinen jahrzehntealten Anspruch, als Wortführer der Länder des Globalen Südens aufzutreten – die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Indien kürzlich als „Anwalt der Abgehängten“ und „Brückenbauer zwischen Arm und Reich“. Zugleich verfolgt Indien ein großes Ziel: nämlich mit Unterstützung der afrikanischen Länder einen prestigereichen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu erlangen. 

Der intensivierte Blick Indiens nach Afrika ist aber auch im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust vor der eigenen Haustür zu sehen, erklärt Wagner. So baut China seine Präsenz in den Staaten, die traditionell dem indischen Einflussbereich zugehörten, sukzessive aus – von Sri Lanka über Nepal bis Myanmar. 

Indien Familie in Ostafrika
Jahrhundertealte Beziehungen: Indischstämmige Kaufmannsfamilie in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika Anfang des 20. Jahrhunderts

Indiens innere Schwächen

Die Lage in Indien selbst ist längst nicht so erfreulich wie einige Zahlen suggerieren. So relativiert sich das glänzende nominale Bruttoinlandsprodukt, wenn man es auf die Gesamtbevölkerung Indiens auslegt. Mit einem BIP pro Kopf von weniger als 2.000 Dollar landet Indien im internationalen Vergleich auf den hinteren Rängen, nämlich auf Platz 149, zwischen Nicaragua und Angola.

Auch die Freude über die stolze Nachricht, dass in den vergangenen 15 Jahren mehr als 400 Millionen Inder der Armut entkommen sind, wird bei näherem Hinsehen unweigerlich getrübt. So haben der Weltbank zufolge nach wie vor mehr als 80 Prozent der Inder weniger als 6,85 Dollar am Tag zur Verfügung, ein Zehntel der Bevölkerung sogar weniger als 2,15 Dollar. Dazu gelten 15 Prozent der Inder als unterernährt, ein knappes Drittel der Bevölkerung verfügt über keine eigene Toilette. Und trotz aller Fortschritte im Bildungsbereich liegt die Alphabetisierungsrate bei nur 77,7 Prozent. Im aktuellen Index der menschlichen Entwicklung findet sich Indien daher nur auf Rang 132 wieder. Dazu kommen enorme Herausforderungen im Umweltbereich – Indiens Megastädte ächzen unter der (Luft-)Verschmutzung. „Letztlich wird der globale Kampf gegen Armut und Unterentwicklung, ja eigentlich die gesamte Diskussion über die Sustainable Development Goals, in den nächsten 20 Jahren maßgeblich in Indien entschieden“, ist Christian Wagner überzeugt. 

Klar ist: Für eine CO2-intensive Entwicklung, wie sie China in den vergangenen 30 Jahren vorangetrieben hat, werden zukünftig zumindest aus dem Westen kaum Investitionen im großen Stil fließen. Während Konkurrent China also vor der Aufgabe steht, seine Emissionen herunterzufahren, stellt Indien eine Art Experimentierfeld für den Aufbau einer klimaverträglichen Industrie dar. Das könnte auch eine Chance sein: An potenziellen internationalen Investoren mangelt es dafür nicht. 

Daten und Fakten

Seit 1990 zieht China davon

Das Asien der zwei Geschwindigkeiten: Indiens nominales Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Mit dem rasanten Wachstum Chinas kann Indien aber nicht mithalten (Werte in Mrd. US-Dollar).

Kein Vergleich zu China

Die Lage Indiens 75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit ist letztlich ambivalent, wie Wagner konstatiert: „In Indien kollidieren Großmachtambitionen mit den Ressourcen einer Mittelmacht. Und auch wenn sich Indien traditionell auf Augenhöhe mit China wähnt, ist es mittlerweile deutlich ins Hintertreffen geraten.“ Dabei stand die Volksrepublik in den 1950er Jahren noch im Schatten Indiens, Ende der 1980er Jahre waren die beiden Staaten wirtschaftlich etwa auf Gleichstand (siehe Grafik). Doch während die chinesische Mittelschicht zwischen 2001 und 2011 von drei Prozent der Bevölkerung auf stolze 18 Prozent anwuchs, erreichte sie in Indien einen Anteil von ein beziehungsweise drei Prozent. Heute ist China Indien wirtschaftlich und geopolitisch meilenweit voraus.

Was hat China also richtig gemacht, und was ist Indien nicht gelungen? „Der Vergleich zwischen Indien und China ist schwierig, denn Indien ist eine deutlich heterogenere und nun einmal auch eine demokratische Gesellschaft. Das heißt, es ist für jede Regierung schwieriger, Reformen umzusetzen“, sagt Wagner. So sei etwa Modis Plan für einen Strukturwandel in der vielerorts wenig produktiven Landwirtschaft, die etwa die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Indiens beschäftigt, am Widerstand der Bauern, die wiederum zur Wählerklientel zählen, gescheitert. Und auch die politisch bedeutsamen Kleinhändler auf den indischen Basaren setzten sich gegen eine wirtschaftliche Öffnung zur Wehr. 

Daher wird Indiens erklärtes Ziel, zur Exportmacht zu werden, aktuell wieder zunehmend von einer protektionistischen Wirtschaftspolitik mit Zöllen in einigen Wirtschaftssektoren – von Regierungschef Modi als Politik der Eigenständigkeit („Atmanirbhar Bharat“) bezeichnet – konterkariert. 

Anders als in den wirtschaftlich schwierigen Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit orientiert sich die aktuelle Wirtschaftspolitik zwar nicht mehr am Staatssozialismus, sondern setzt auf Privatisierung und den Aufbau nationaler Champions, etwa im Bereich der Pharmaindustrie. Wagner bleibt dennoch äußerst skeptisch in Hinblick auf den neuen Kurs: „Wie sollen sich Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität einer Industrie verbessern, wenn sie vom Weltmarkt abgeschottet ist?“ 

Und so tun sich auch viele ausländische Unternehmen mit Indien schwer: Mit hohen Logistikkosten, heterogenen Marktstrukturen, undurchsichtiger Versteuerung und bürokratischen Hürden, die übrigens nicht nur den Handel mit dem Ausland, sondern auch jenen zwischen den indischen Bundesstaaten extrem erschweren, rangiert Indien als Wirtschaftsstandort hinter Malaysia oder Vietnam. Laut Wolfgang Niedermark, Mitglied der Geschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie, verkehrt sich die Hoffnung auf den Zukunftsmarkt Indien gar immer wieder in „Gegenwartsernüchterung“. 

Indische Software
Ikonisches Gebäude des IT-Unternehmens Infosys in Bengaluru
Indische Pharmaprodukte
Serum-Institut in Pune
Indische Herausforderungen
Smog in Neu-Delhi
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Indiens Zukunft ist offen

Als „asiatisches Jahrhundert“ wird das 21. Jahrhundert mitunter bezeichnet. Asien stellt nicht nur mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, sondern gilt auch als Motor der Weltwirtschaft. Konkret sind mit derlei Zuschreibungen zumeist China und Japan, womöglich auch noch einige asiatische Tigerstaaten wie Südkorea oder Singapur gemeint – an Indien denkt man dabei weniger. 

Um diesem Jahrhundert einen deutlichen Stempel aufzudrücken, reichen Indiens Erfolge aus den vergangenen Jahrzehnten nicht aus. Ohne eine bedeutende Steigerung der Produktivität, höhere Investitionen in Bildung und Forschung sowie die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland wird Indien auf der Stelle treten. 

Eine große – und nicht leicht zu beseitigende – Hürde für Indien, um seine Potenziale zu nützen und zur Weltmacht aufzusteigen, liegt aber wohl im Grundsätzlichen: in seinem paradoxen Versuch, die exportgetriebene indische Integration in den Weltmarkt mit der neuen alten Politik der Eigenständigkeit und Abkapselung, die in Indien selbst große Zustimmung erfährt, unter einen Hut zu bringen. Dabei ist die Hand der westlichen Staaten in Richtung Indien weit ausgestreckt. Trotz Bedenken hinsichtlich des zunehmend illiberalen innenpolitischen Kurses Modis gilt Indien als favorisierter asiatischer Verbündeter gegenüber China. 

Fotos: Sowmya‘s Photography/Flickr, MEAphotogallery, Bundesarchiv Deutsch-Ostafrika, Ministry of Defence, Ashwin Kumar, COVAX/Ragul Krishnan, Mark Danielson/Flickr