Lakritz: Ein Rohstoff, der die Welt entzweit

Kaum ein Lebensmittel polarisiert so sehr wie das süße schwarze Lakritz. Es wird aus den Wurzeln des Echten Süßholz gewonnen, das von Kalabrien bis Kasachstan wächst. Die Verwendung des natürlichen Rohstoffs geht aber über die Grenzen der Süßwarenindustrie hinaus.

Lakritzschnecke
Ausgerollt und aneinandergereiht umrundet eine Jahresproduktion Haribo Lakritzschnecken etwa fünfeinhalb Mal die Erde.

Der 12. April ist ein Tag, der die Welt wohl eher trennt als eint: Der „Internationale Lakritztag“ steht ganz im Zeichen jener schwarzen Süßigkeit, die bei den einen für große Begeisterung und bei den anderen für entschiedene Ablehnung sorgt. Lakritzfans sind vor allem in Skandinavien, in den Niederlanden und in Norddeutschland zu finden, eingeschworene Anhänger greifen dort auch zu salzigen, sehr intensiv schmeckenden Sorten. 

Im Gegensatz dazu bevorzugen Menschen in südlicheren Regionen – so sie überhaupt Lakritz zu sich nehmen – oft mildere, süßere Varianten. Diese kulinarische Demarkationslinie, mitunter „Lakritz-Äquator“ genannt, soll sich quer durch Deutschland ziehen und ihre historischen Ursprünge in jenen Handelswegen haben, über die Süßholz – die Basis für Lakritz – einst aus dem Orient ins nördliche Europa gelangte.

Süßes aus der Erde

Süßholz, eine mehrjährige Pflanze aus der Familie der Schmetterlingsblütler, umfasst mehr als 20 Arten. Die kommerziell bedeutendste, Glycyrrhiza glabra, erreicht eine Höhe von maximal 1,5 Metern und breitet ihre Wurzeln bis zu acht Meter weit aus. Ihr natürlicher Lebensraum erstreckt sich von der Mittelmeerregion über Südrussland bis nach Zentralasien, während andere kommerziell relevante Arten wie Glycyrrhiza inflata und uralensis vornehmlich in Ostasien zu finden sind.

Echtes Süßholz
Echtes Süßholz ist eine Pflanzenart aus der Unterfamilie Schmetterlingsblütler

Nach der Ernte wird die Süßholzwurzel getrocknet, anschließend zu Spänen verarbeitet und der Lakritzextrakt durch Kochen gewonnen. Dieser übertrifft Haushaltszucker um ein Vielfaches an Süßkraft und hat ein intensives, an Fenchel und Anis erinnerndes Aroma. Lakritz wird daher schon seit tausenden Jahren als Süßungsmittel genutzt und ist bis zum heutigen Tag gefragt. Allein der deutsche Hersteller Haribo, der die schwarze Delikatesse seit 1925 anbietet, führt von Lakritzschnecken über Salzbrezeln bis zu Konfekt mehr als 20 Varianten im Sortiment.

In den meisten Lakritzprodukten liegt der Anteil des Süßholzsafts bei nur rund fünf Prozent, ergänzt durch Zucker, Stärke und Gelatine sowie Farb- und Aromastoffe. In geschmacksintensiven Varianten wird Salmiaksalz hinzugefügt. Der Extrakt wird auch in Kaugummis, Sirupen, Likören, Gin und einigen Biersorten verwendet. In der Kulinarik wird Lakritz mitunter für die Marinaden von Fleischgerichten genutzt. In Ägypten und Syrien sind Lakritz-Aufgüsse beliebte Erfrischungsgetränke. 

Süßholzwurzel
Für einen Kilo Rohlakritz braucht es rund zehn Kilo Süßholzwurzel.

Für Zigarette und Haut

Süßholz wird seit mindestens dreitausend Jahren auch als Heilpflanze eingesetzt. Es spielt eine wichtige Rolle in der indischen Ayurveda-Medizin, der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), ist fest in der iranischen Kultur verankert und ein Bestandteil der Volksmedizin Nordafrikas, besonders in Ägypten und Marokko. Die Anwendungsgebiete reichen von Magen-Darm-Leiden bis hin zu Atemwegserkrankungen. In Österreich ist Süßholz in Tees, Magenmitteln und Hustenbonbons verbreitet. „Lakritz ist heute ein beliebter Bestandteil pflanzlicher Heilmittel. Während der Pandemie stieg die Nachfrage danach deutlich“, berichtet Bryony Morgan, Lakritzexpertin der Schweizer FairWild Stiftung, die Zertifizierungen für wild wachsende Pflanzenarten vergibt. Übermäßiger Konsum kann allerdings zu hohem Blutdruck und erhöhter Kaliumausscheidung führen.

Ein vielleicht weniger bekannter Lakritzkunde ist die Tabakindustrie. „Vor allem in den USA wird Lakritz als Geschmacksverstärker eingesetzt. Allerdings ist der Zigarettenkonsum rückläufig, daher auch der Lakritzeinsatz“, erklärt Jens Milt, der sich seit 17 Jahren beim Hamburger Familienunternehmen Norevo als Leiter der Lakritzabteilung mit dem pflanzlichen Rohstoff beschäftigt. Norevo beliefert unter anderem die globale Süßwaren- und Tabakindustrie mit Lakritz in Form von Pulver, Pasten und Blöcken.

Interview mit Jens Milt, Norevo

Jens Milt, Norevo

Tausendsassa Lakritz

Jens Milt leitet beim Hamburger Familienunternehmen Norevo die Lakritzabteilung. Norevo beliefert Kunden auf der ganzen Welt mit dem Rohstoff.

Wachstumschancen

Der globale Lakritzextraktmarkt wird auf rund 15.000 Tonnen im Jahr und ein Volumen von rund zwei Mrd. US-Dollar geschätzt. Künftiges Wachstums-potenzial sehen Lakritzexperten vor allem in den Bereichen Arzneimittel und Kosmetik. Süßholz wird aufgrund seiner beruhigenden Wirkung auf gereizte Haut, der Reduzierung von Rötungen und Hyperpigmentierung sowie seines antioxidativen Schutzes gegen Umweltschäden geschätzt. „In asiatischen und zunehmend auch in europäischen Kosmetik- und Wellnessprodukten liegt Lakritz im Trend“, sagt Morgan. Ein genauerer Blick in den österreichischen Handel zeigt: Auch hierzulande sind vereinzelt Zahnpasta, Lippenpflege, Bartbalsam, Waschgel, Deo, Körperlotion, Augen- und Handcreme mit dem Inhaltsstoff Süßholz zu finden. 

Der steigende Einsatz von Lakritz biete Chancen für Lakritzlieferanten in Entwicklungsregionen, wie ein Branchenbericht des niederländischen Zentrums zur Förderung von Importen aus Entwicklungsländern (CBI) darlegt. Doch wo sind heute die Lakritzproduzenten zuhause? „Diese sind gar nicht so einfach zu identifizieren“, erklärt Morgan. „Der Rohstoff kann in Usbekistan geerntet, in China vorverarbeitet und in den USA veredelt werden“. Daher gelten einige Länder als große Player, ohne selbst signifikante Mengen an Süßholz zu ernten. 

Lakritz
Lakritz wird in Form von Pulvern, Granulaten, Pasten und Blöcken gehandelt, der süße Rohstoff hält mehrere Jahre.

Lakritz: Von Kalabrien bis Kasachstan

Zu den Hauptherkunftsländern für den europäischen Markt gehören China und der Iran, die in der Lage sind, große Mengen an Extrakt zu liefern. Norevo unterhält in diesen Ländern Joint-Venture-Fabriken und versorgt Süßwarenhersteller wie Haribo und Katjes mit Rohstoffen. Auch die Süßholzvorkommen in Usbekistan und Aserbaidschan sind gemäß der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO bedeutend, in geringerem Ausmaß auch jene in Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Kasachstan, Kirgistan, Armenien, Georgien oder Syrien. Italienisches Lakritz, insbesondere aus Kalabrien, ist in Europa beliebt, obwohl die Produktion mit maximal 20 bis 30 Tonnen jährlich für die globale Industrie eine untergeordnete Rolle spielt, sagt Milt. 

Hauptsächlich gelangen wild geerntete Wurzeln in den Handel, obwohl die Pflanze auch gezielt angebaut wird, insbesondere in China für Anwendungen in der TCM. Anbauflächen sind zudem von Spanien und Italien bis hin zu Brasilien, Kalifornien, Südafrika und Neuseeland zu finden. Indien hat 2023 ein ambitioniertes Anbauprojekt im Bundesstaat Himachal Pradesh gestartet, um die große Abhängigkeit von Lieferungen aus Afghanistan, Nepal und China zu verringern.

Schonende Ernten

Traditionell wird die Wurzel händisch geerntet, und dafür muss sie erst mühsam ausgegraben werden. Die Erntesaison ist meist im Frühjahr oder Herbst, in manchen Ländern wird zwei Mal im Jahr geerntet. „Die Wurzeln sollten in nicht mehr als einem Meter Tiefe abgeschnitten werden, um ein Nachwachsen der Pflanze zu ermöglichen. Nach vier Jahren kann dann erneut geerntet werden“, so Milt. In einigen Gebieten wird die Ernte durch den Einsatz von Traktoren erleichtert. 

Informationen über jene Menschen, die die Süßholzwurzeln einsammeln, sind meist nicht existent, merkt die FAO in ihrem „Wildcheck“-Report (2022) an. Zumindest aus Kasachstan weiß man, dass die meisten Sammler aus abgelegenen Dörfern stammen und die Ernte der Wurzeln ihre einzige stabile Einkommensquelle ist. Das führt mitunter zu einer Übernutzung der Pflanze. Jens Milt betont, dass die Kleinbauern, die den Rohstoff an die Norevo-Fabriken liefern, über schonende Ernten gut informiert seien. „Nur wer nachhaltig erntet, kann sich auf ein langfristiges Einkommen verlassen“, sagt er. 

Das Thema Nachhaltigkeit gewinnt jedenfalls auch im Lakritzbusiness an Bedeutung, sagt Morgan: „Obgleich Süßholz allgemein nicht als bedroht angesehen wird, erleben einige wilde Vorkommen, insbesondere in Kasachstan und China, einen Rückgang. Die steigende Nachfrage nach Süßholz wirft somit ernsthafte Fragen hinsichtlich der Nachhaltigkeit auf. Darauf muss die Branche reagieren.“ Dies betrifft nicht nur die künftige Verfügbarkeit von Produkten wie Süßigkeiten, Tees und Cremes. Süßholz ist auch eine wichtige Pionierpflanze, die in kargen, sogar salzigen Böden gedeiht und helfen kann, übernutztes Land wiederaufzubauen. Zudem stabilisiert ihr Wurzelsystem erosionsgefährdete Böden. Süßholz besitzt daher auch einen hohen ökologischen Wert.

Nützen und Schützen

Seit ihrer Gründung im Jahr 2008 setzt sich die FairWild Stiftung für eine umweltschonende und sozial verantwortliche Nutzung von heute etwa 50 zertifizierten Wildpflanzenarten ein. Im Bereich Süßholz ist die Stiftung besonders in Usbekistan und Kasachstan tätig und bemüht sich, trotz politischer Schwierigkeiten, ihr Engagement auch in Afghanistan weiterzuführen. In Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und Partnern, wie der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, engagiert sich FairWild entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das Team leistet Unterstützung bei der Suche nach nachhaltigen Bezugsquellen und bei der Implementierung von Standards, bietet Schulungen für Sammler an, fördert nachhaltige Praktiken bei lokalen Produzenten und hilft beim Direktexport nach Europa. „Das beinhaltet auch Qualitätskontrollen durch Laboranalysen und Beratung zur Preisgestaltung, um eine gerechte Bezahlung der Sammler zu gewährleisten“, sagt Morgan. „Unser Hauptanliegen ist es, mit einem breiten Spektrum von Unternehmen zusammenzuarbeiten und ihnen dabei zu helfen, ihre Erntemethoden und ihre soziale Verantwortung zu verbessern und den Zertifizierungsstandard zu erreichen.“ Auf der Käuferseite arbeitet FairWild in erster Linie mit rohstoffverarbeitenden Unternehmen aus den USA und Europa zusammen – darunter zum Beispiel die deutsche Martin Bauer Group -, obwohl Morgan hofft, dass in Zukunft eine Vielzahl von Unternehmen mit FairWild zusammenarbeiten wird, darunter auch Käufer aus China und anderen wichtigen Märkten.

Es gibt also einiges zu tun in der Branche, doch solange die Pflanze in ausreichender Menge gedeiht, können Lakritzliebhaber beruhigt sein: Ihre Leidenschaft für die schwarze Delikatesse scheint vorerst nicht gefährdet. 

 

Fotos: Pikaluk Wikimedia, Norevo, Esindeniz Envato, Vvoennyy Envato