Sein Name ist Toilet. Mister Toilet. Jack Sim ist sichtlich stolz auf diesen Spitznamen, der ihn schon zwanzig Jahre begleitet. Mit kindlicher Begeisterung spricht der 64-jährige Mann aus Singapur auch gern über „Poop“, „Shit“, „Loo“ und „Pee“, lässt sich mit Saugglocken, Klopapier und Nachttöpfen fotografieren oder schlüpft für öffentliche Auftritte schon einmal ins WC-Kostüm mit Wursthut. Für die Filmdoku „Mister Toilet“ (2019) ließ sich Sim gar bei einer Klositzung – dezent durchs Milchglas – filmen, während er über die Toilette als spirituellen Raum und als Entstehungsort guter Ideen sinnierte.

Mr. Toilet: The World’s # 2 Man ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2019 über Jack Sim

Sanitärkrise: Witzeln statt schweigen

Der humorvolle Umgang mit menschlicher Ausscheidung helfe, ein Tabu zu brechen, erklärt der ehemalige Bauunternehmer: „Den meisten Menschen ist das Thema peinlich. Man kann aber kein Problem lösen, wenn man nicht darüber spricht.“ Und dieses Problem ist ein ernstes: Zwei Milliarden Menschen leben laut Weltgesundheitsorganisation WHO und Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF ohne eigene Toilette. Sie müssen ein öffentlich zugängliches Klo aufsuchen oder, so wie es weltweit rund 670 Millionen Menschen tun, sich im Freien erleichtern. Diese Praktik, „offene Defäkation“ genannt, ist vor allem ein ländliches Phänomen und heute noch sehr stark beispielsweise in Laos, im Tschad oder in Namibia verbreitet. Für Frauen und Mädchen kann dies riskant sein: Wenn sie für etwas Privatsphäre in der Dunkelheit weitere Wege zurücklegen, sind sie gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden.

Interview mit Jack Sim, "Mister Toilet" und Gründer der Welttoilettenorganisation

Jack Sim

Viel Lärm um einen stillen Ort

Jack Sim wurde zu Mister Toilet, um auf den eklatanten Klomangel aufmerksam zu machen. In dieser Mission reist er seit 20 Jahren um die Welt.

Jack Sim geht es aber nicht nur um die Frage „Wohin, wenn es drängt?“, er thematisiert auch das „Wohin geht, was drängt?“, wohlwissend, dass die Antwort darauf nicht erfreulich ist. Rund 3,6 Milliarden Menschen nutzen laut Vereinten Nationen nämlich keine „sicheren“ WC-Lösungen: Das heißt, dass ihre Abwässer etwa aus offenen Gruben oder undichten Latrinen unbehandelt in der Umwelt landen.

Forscher der University of California in Santa Barbara haben erst kürzlich eine Weltkarte der Gewässerverschmutzung im Fachmagazin Plos One veröffentlicht. Sie bildet den Eintrag von Abwässern, die über 130.000 Wassereinzugsgebiete ins Meer gelangen, ab. Dabei zeigt sich, dass nahezu alle Küsten auf allen Kontinenten belastet sind. Hohe Mengen unbehandelter Abwässer fließen in Hot Spots wie Indien, China, Brasilien, Nigeria oder Bangladesch in die Meere. Doch auch mit Kläranlagen, die Mikroorganismen stark reduzieren, bleibt ein Problem: Erhöhte Stickstoffkonzentrationen gelangen dennoch ins Meer und bedrohen Forschern zufolge küstennahe Ökosysteme wie Korallenriffe und Seegraswiesen.

Sichere Sanitärversorgung

Sanitärkrise: Toiletten für alle

In Ländern, in denen Exkremente oft gänzlich unbehandelt in Flüsse oder auf Felder geraten, können sich Menschen über die Nahrung und das Trinkwasser Parasiten und Erreger einfangen. Schlechte sanitäre Verhältnisse stehen im Zusammenhang mit Krankheiten wie Cholera, Ruhr oder Hepatitis A. Das ist vor allem für Kinder gefährlich. An sanitärbedingten Krankheiten sollen alljährlich fast eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren sterben. 

Jack Sim kennt Klomangel, Durchfallerkrankungen und Wurmbefall aus der eigenen Kindheit. Er wuchs in den 1950er Jahren in einem Slum auf, zu Zeiten, als Singapur noch vergleichsweise arm war. Seiner Familie stand damals kein Klo, sondern lediglich ein Kübel zur Verfügung. Mit dem Einzug in eine Sozialwohnung erlebte der junge Jack dann die Freude einer Toilette mit Wasserspülung und Kanalanschluss – für ihn Luxus pur. Mit Anfang 40 beschloss er, sich für vernünftige Toiletten mit sicherer Entsorgung für die ganze Welt einzusetzen. Am 19. November 2001 gründete Sim die Welttoilettenorganisation WTO, um das Sanitärproblem in die Öffentlichkeit zu bringen. Die namentliche Ähnlichkeit zur Welthandelsorganisation mag dabei wie ein Zufall erscheinen, war aber nur ein weiterer, cleverer Gag Sims. Am WTO-Gründungstag rief er zudem den Welttoilettentag aus, der später als offizieller Tag der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und seither auch von prominenten Mitstreitern wie Matt Damon, Bill Clinton oder der Band Coldplay PR-wirksam unterstützt wurde.

Slumtoilette
Weltweit wird an Lösungen für die globale Sanitärkrise gearbeitet.

Sanitärkrise: Die Herausforderung wächst

Der Zugang zu sicherer Sanitärversorgung ist ein eigenständiges Menschenrecht. Er ist auch in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung enthalten: Bis zum Jahr 2030 soll, so lautet Ziel 6.2 der Sustainable Development Goals, eine „angemessene und gerechte Sanitärversorgung und Hygiene für alle erreicht und der Notdurftverrichtung im Freien ein Ende gesetzt sein“. 

Aus heutiger Sicht wird die Welt diese Deadline verfehlen. In vielen ärmeren Ländern fehlt es an Strategien, um das komplexe Problem ganzheitlich anzugehen, an klaren institutionellen Zuständigkeiten, mitunter selbst an der Vorstellung, wie eine ordentliche Sanitärversorgung für Menschen am Land oder in der Stadt aussehen kann. Klar ist: Der in den Städten reicherer Länder übliche „Goldstandard“ – ein Wasserklosett mit Anschluss ans Kanalsystem und an eine Kläranlage – erfordert hohe Investitionen. Doch gerade in ärmeren Ländern kämpfen schon jetzt Regierungen mit der Herausforderung, ihren Bewohnern die notwendige Infrastruktur an Straßen, Strom, Wasser – und eben auch Abwassersystemen – bereitzustellen. Und die Bedingungen werden nicht einfacher. Prognosen der Vereinten Nationen zufolge sollen im Jahr 2050 rund 6,5 Milliarden Menschen in Städten leben, das wären 2,2 Milliarden Städter mehr als heute. 90 Prozent der künftigen Urbanisierung dürfte dabei in Subsahara-Afrika und in Asien stattfinden. 

Hinzu kommen neue Risiken, auf die eine neue Studie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ hinweist. Demnach werde der Klimawandel auch die Sanitärkrise verschärfen: Denn einerseits können Überschwemmungen und steigende Wasserspiegel WCs, Latrinen und Abwasserinfrastruktur zerstören. Andererseits könnte aufgrund extremer Hitze und Trockenheit das Wasser für klassische Toilettenlösungen fehlen: Ein Spülgang erfordert immerhin sechs bis zehn Liter Wasser, ein Mensch geht an die sechs Mal pro Tag aufs Klo. 

Sanitärkrise: Erfolge gibt es

Die Welt braucht also nicht nur deutlich mehr Toiletten, sondern klimawandelresistente, nachhaltige und bezahlbare Systeme. Der globale Investitionsbedarf für eine angemessene Sanitärversorgung dürfte laut WHO bei 105 Mrd. Dollar pro Jahr liegen – aber jeder Dollar würde, so heißt es auch, mit einem fünffachen Return belohnt werden. Denn, wie es Sim knapp erklärt: „WCs sorgen für eine gesunde, produktive Bevölkerung und sind billiger als Spitäler und Medikamente.“ 

Angesichts des bis heute eklatanten Klomangels stellt sich die Frage: Hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren überhaupt etwas getan? Ja, das durchaus: 2001 zählte die Welt rund sechs Milliarden Menschen, von denen 2,6 Milliarden – also mehr als 40 Prozent – keine Toilette hatten, heute steht die Erde bei rund 7,9 Milliarden Bewohnern und zwei Milliarden (rund 25 Prozent) ohne WC. Und auch die Zahl der Menschen, die ihre Notdurft im Freien verrichten, wurde in etwa halbiert, ausgehend von 1,3 Milliarden im Jahr 2001. Der „State of the World‘s Sanitation“-Report, den WHO und UNICEF 2020 publizierten, hebt vor allem Verbesserungen in Ländern wie Äthiopien, Indonesien oder Nepal hervor, die dank politischem Willen und Partnerschaften gute Arbeit geleistet hätten. „Es ist einiges besser geworden“, sagt auch Mister Toilet, „am Ziel sind wir nur leider noch lange nicht.“ 

Ein kurze Reise um den Klo-Bus

Die Bilder stammen vom Fotoprojekt Dollar Street der Gapminder Stiftung, das die Besitztümer von Familien weltweit dokumentiert.

Die Macht der Gewohnheit

Selbst in Ländern, die sich enorm anstrengen, bleiben Schwierigkeiten. Das zeigt Indien. Der Subkontinent hat in der vergangenen Dekade große Fortschritte gemacht, seit Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 eine gewaltige WC-Offensive ausrief. In nur fünf Jahren sollen im Rahmen des weltgrößten Sanitärprogramms rund 110 Millionen öffentliche und private Toiletten errichtet worden sein. Das Problem war damit aber nicht erledigt. Ein Beispiel: Es war vorgesehen, dass Menschen im ländlichen Raum vorzugsweise Latrinen mit doppelter Sickergrube bauen, die eine Gülleproduktion möglich machen. Dann wird jeweils eine Grube genutzt, während sich der Inhalt der anderen in Gülle umwandeln kann, der sich auf die Felder ausbringen lässt – eine sichere und autarke Lösung, die den Abtransport und die Weiterbehandlung der Abwässer unnötig macht. Allerdings, so stellten Forscher der School of Public Health in Odisha fest, ist diese Variante oft nicht umgesetzt worden. Viele Haushalte hätten lieber Toiletten gebaut, die Fäkalien nur lagern, aber nicht behandeln, und dabei auch nicht immer den empfohlenen Abstand zu Wasserquellen eingehalten – wodurch Umweltrisiken entstehen.

Und auch nicht jeder, der eine Toilette hat, will sie tatsächlich benützen. Bis heute rufen WCs bei manchen Menschen negative Assoziationen hervor, manch einer fürchtet etwa, die Götter zu beleidigen. „Tausende Jahre sagte man den Menschen, sie sollten ihre Notdurft nicht in Hausnähe verrichten. Und jetzt sollen sie plötzlich ein WC im eigenen Haus verwenden“, erklärt Sozialunternehmer Bindeshwar Pathak – er gilt als Toilettenguru Indiens – den kulturell bedingten Widerstand. Indien gilt zwar seit Oktober 2019 offiziell als „ODF“, also frei von offener Defäkation, doch laut heuer veröffentlichter Zahlen von WHO und UNICEF erleichtern sich immer noch rund 15 Prozent der indischen Bevölkerung im Freien: Ein Prozent der Städter und 22 Prozent der am Land Lebenden.

Sanitärkrise: Mehr Dynamik notwendig

Funktionierende Sanitärversorgung ist ein komplexes Puzzle, das viele Player weltweit beschäftigt – unter anderem die Entwicklungszusammenarbeit. Die Austrian Development Agency etwa unterstützt die sanitäre Infrastruktur in Flüchtlingcamps in Uganda und im Libanon und investiert in Kläranlagen in Moldau. Und zum breiten Portfolio der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation USAID zählt die Förderung des Sanitärbusiness: So werden in Uganda und Haiti lokale Unternehmen im Toilettenbau trainiert und professionalisiert. In einem anderen Projekt werden Frauen zu Verkäuferinnen ausgebildet, die Menschen dazu bewegen sollen, erschwingliche Toiletten anzuschaffen. Die deutsche Entwicklungsagentur GIZ fördert wiederum die Verbreitung von Sanitärsystemen, die auf „Waste to Resource“ setzen. Das sind Anlagen, die aus Abwasser und Fäkalien Biogas, Bewässerungswasser und Dünger gewinnen. Daneben gibt es auch Bündnisse wie die Sustainable Sanitation Alliance, die Experten aus fast 400 Mitgliedsorganisationen zum Austausch von Best Practice einlädt, oder die Toilet Board Coalition, die das Engagement von Social Start-ups und Unternehmen in der Sanitärwirtschaft fördert. Auch die Bill und Melinda Gates Stiftung ist mit dabei: Seit zehn Jahren unterstützt sie die Entwicklung neuer Toilettenlösungen für ärmere Regionen, die ganz ohne Wasseranschluss funktionieren und Exkremente aufbereiten. (Mehr zu Innovationen im Sanitärbusiness lesen Sie im corporAID-Artikel „Kleine Geschäfte, große Geschäfte„)

Es tut sich also viel – doch braucht es deutlich mehr Dynamik im Geschehen. Zur Erreichung von Ziel 6.2 der Agenda 2030 müsse sich „die Geschwindigkeit, mit der die sichere sanitäre Versorgung zunimmt, vervierfachen“, heißt es warnend im „State of the World‘s Sanitation“-Report. Mister Toilet, der, wie er sagt, seit mehr als zwanzig Jahren „pro Bono auf Vollzeitbasis“ an der globalen Kloversorgung mitwirkt, wird wohl noch ein paar Jahre dranhängen. Mehr als nur kurze Pausen am geliebten Ort der Stille sind vorerst nicht drinnen.

Fotos: Jim Orca, EOOS NEXT/EAWAG, Dollar Street,