Zwei Jahre lang hatte sie das bunte Treiben mitangesehen. Die beiden Herren, die nach Feierabend und am Wochenende an den kleinen Fahrrädern schraubten. Erst für die eigenen Kinder, dann für hunderte weitere, die mit den taufrischen Rädern dann auch gleich vor der Garage ihre ersten Runden drehten. Deren Eltern, die mit den beiden Tüftlern jedes Detail besprachen. Die UPS-Fahrer, die einzelne Räder abholten. Und dann noch die LKW, die palettenweise Einzelteile anlieferten. All das in dieser sonst so ruhigen Einbahnstraße am Wolfersberg, draußen im 14. Wiener Gemeindebezirk. „Irgendwann hat die Vermieterin der Garage uns die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt: Ihr müsst jetzt hier raus“, erzählt Marcus Ihlenfeld. Sein Kollege Christian Bezdeka und er mussten also für sich und ihr gemeinsames Start-up Woom ein neues Zuhause suchen und wurden schließlich im Gewerbepark in Klosterneuburg fündig.

Mittlerweile, gerade einmal sechs Jahre nach dem ersten Umzug, verkauft Woom seine Fahrräder in 30 Ländern – und befindet sich erneut auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Aktuell beschäftigt der Kinderfahrradhersteller allein in Klosterneuburg 115 Mitarbeiter, in weniger als zwölf Monaten sollen es bereits doppelt so viele sein. Das korrespondiert mit Umsatzsteigerungen von mehr als 80 Prozent in den vergangenen Jahren. Nun braucht es laut CEO Guido Dohm neben der Erschließung neuer Produktionsstandorte und Absatzmärkte auch ein neues Bürogebäude: Rund 30 Immobilien hat er sich in den vergangenen Wochen angeschaut. Noch ist keine dabei, welche die besonderen Anforderungen des rasant wachsenden Unternehmens erfüllen kann.

Woom Management
Lenken die Geschicke von Woom: Marcus Ihlenfeld, Christian Bezdeka und Guido Dohm (v.l.)

CSR bei Woom im Fokus

Dohm wurde von den beiden Gründern kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie in die Geschäftsführung des Unternehmens geholt. Zuvor war er über Jahrzehnte bei großen Firmen aus der Bekleidungsindustrie im Topmanagement tätig. Ein Schwerpunkt seiner neuen Tätigkeit ist die Implementierung von Standards für soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit in allen Unternehmensbereichen. Das gilt vor allem auch für die Produktion in Asien, denn Woom lässt seine Kinderräder sowohl in Kambodscha als auch in Vietnam und Bangladesch herstellen. Und das war in der Vergangenheit nicht immer unumstritten: Ende 2019 publizierte die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Artikel über schlechte Arbeitsbedingungen in kambodschanischen Fabriken für Fahrradrahmen, auch in jenen, in denen Woom produzieren ließ. Auch als Reaktion darauf wurde viel getan, der Bereich Corporate Social Responsibility professionalisiert. Lieferanten in Asien müssen sich heute an den Prinzipien des UN Global Compact orientieren.

„Wir bezahlen mehr als andere, das Geld muss aber auch den Arbeitern zugutekommen und dient nicht dafür, dass sich der Fabriksbesitzer einen Porsche vor die Tür stellt. Das überprüfen wir über eine neue Software“, betont Dohm. Unter anderem wird speziell für Woom gerade ein neues Werk in Bangladesch gebaut, in dem zukünftig mehr als 300.000 Fahrräder jährlich hergestellt werden sollen. Dort habe das Unternehmen von vornherein ganz andere Möglichkeiten, auf die Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen: „Wir möchten, dass dort eine Krankenstation und eine Kantine eingerichtet werden. Und wir wollen eine thermische Solaranlage auf dem Dach. Das sind alles Dinge, mit welchen man sich leichter tut, wenn man sagt: Ich schließe mit dir einen Langfristvertrag ab, doch ist dieser an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden“, so Dohm. In den asiatischen Produktionsländern will Woom zukünftig auch in die Ausbildung neuer Mitarbeiter investieren. 

Wooms Erfolgsrezept

Seit der für ein Start-up quasi obligatorischen Garagen-Gründung im Jahr 2013 bis zum heutigen Tag, an dem Woom in Österreich mit mehr als 40 Prozent Marktanteilen das Kinderfahrradsegment anführt, ist also viel passiert – das Erfolgsrezept gilt aber seit Tag eins und bis heute: Fahrräder nah an den Bedürfnissen der Kinder zu bauen. „Bei den namhaften Marken fließt das gesamte Geld in die Entwicklung von Erwachsenenrädern. Kinderfahrräder sind ein Abfallprodukt, das dadurch entsteht, dass man die Erwachsenenräder schrumpft“, sagt Dohm. Ganz anders bei Woom: Die Fahrräder des Klosterneuburger Unternehmens wiegen dank des leichten Aluminiumrahmens durchschnittlich fast 40 Prozent weniger als gewöhnliche Kinderräder. 

Dazu beschäftigte sich Christian Bezdeka jahrelang intensiv mit der Anatomie des Kindes, sprach mit Orthopäden, Unfallchirurgen und kam so etwa zur Erkenntnis, dass der Bremshebel im Vergleich zum Erwachsenenrad nicht nur verkleinert werden müsse, sondern eine andere Form bräuchte, da bei Kindern das Verhältnis vom Handwurzelknochen zum Rest der Hand ein anderes ist. Gerade für Anfänger ist es dann auch viel leichter, die passgenauen Woom-Fahrräder zu bedienen als schwere und proportional unstimmige Fahrräder in Gang zu bringen. Das hat sich bis ins Silicon Valley herumgesprochen: So postete Mark Zuckerbergs Frau Priscilla Chan vor einigen Monaten ein Foto auf Facebook, das die dreijährige Tochter beim Erlernen des Radfahrens auf einem Woom-Bike zeigt. 

Woom-Räder gibt es heute in sieben Rahmengrößen, vom Laufrad für Zweijährige bis hin zum 26-Zoll-Rad für Teenager. Dazu kommen Mountainbikes sowie E-Mountainbikes. Und das Angebot entwickelt sich stetig weiter, wie Marcus Ihlenfeld berichtet: „Wir updaten unsere Produkte alle ein bis zwei Jahre. Das Rad, das wir vor acht Jahren in der Garage verkauft haben, hat mit dem Produkt, das wir heute anbieten, kaum mehr etwas zu tun.“

Über Stock und Stein: Woom-Mountainbikes

Auf Schock folgt Woom-Boom

Zum Boom des Unternehmens trug und trägt neben Idee und Produkt auch das richtige Timing bei. „Am Anfang mussten wir jedem Kunden erklären, warum er 300 Euro in ein Kinderfahrrad investieren sollte. Heute fragen die meisten nicht mehr nach, warum das so teuer ist“, berichtet Ihlenfeld. „Eltern wollen kein Fahrrad mehr für ihre Kinder, bei dem nach sechs Monaten die Bremse schleift.“ Zudem versuchten Eltern heute ihre Kinder viel aktiver an die frische Luft zu bringen: „Das Erlebnis in der Natur ist ein Trend, der durch Corona beschleunigt wurde. Davon profitiert die ganze Fahrradbranche“, sagt Ihlenfeld. Laut Wirtschaftskammer Österreich sind Fahrräder nach dem Rekordjahr 2020 auch diesen Sommer der große Renner. Weltweit sei die Nachfrage größer als des Angebot. 

Woom hat im Vorjahr 230.000 Räder verkauft, 70 Prozent mehr als zu Beginn der Corona-Pandemie prognostiziert. Denn laut Ihlenfeld war der Boom im Frühjahr 2020 ganz und gar nicht abzusehen gewesen: „Mitte März habe ich zu meiner Familie gesagt: Macht euch darauf gefasst, dass das, was wir die letzten sieben Jahre aufgebaut haben, den Bach runtergeht.“ Die wichtigste Zeit für Fahrradverkäufer sei das Frühjahr, die Container und Lager seien voll mit Rädern. Dann kam der erste Lockdown. Plötzlich wurden Häfen und Grenzen geschlossen, Händler mussten ihre Geschäfte zusperren. „Das war für mich die schlimmste berufliche Situation meines Lebens. Drei Monate haben wir uns irgendwie durchgewurschtelt, ein Problem nach dem anderen gelöst. Und dann kamen wir irgendwann in die Situation, dass wir gemerkt haben: Oh mein Gott, das schlägt ja komplett ins Gegenteil um“, berichtet Ihlenfeld.

Nicht, dass der Nachfrage-Boom der Geschäftsleitung nicht auch einige schlaflose Nächte bereitet hätte. Kunden mussten aufgrund von Lieferengpässen monatelang auf ihre Räder warten. Und über den Online-Marktplatz Willhaben wurden gebrauchte Woom-Räder über dem Neupreis verkauft. Mittlerweile ist der Megastau laut Ihlenfeld so gut wie aufgearbeitet, mehr als acht Wochen müsse kein Kunde mehr auf sein bestelltes Rad warten.

Um zukünftigen Engpässen vorzubeugen, investiert das Unternehmen aktuell verstärkt in die Digitalisierung und damit in die Stärkung der Resilienz der Lieferkette. Durch die anstehende Einführung einer cloudbasierten Supply-Chain-Management-Lösung mithilfe der die Einkäufer, Techniker, Fabrikbetreiber, Frachtführer, Reeder und alle weiteren Beteiligten in Echtzeit Informationen teilen können, soll der Ablauf deutlich schneller und effizienter gestaltet werden.

Neue Absatzmärkte

Schließlich ist selbst am aktuellen Kernmarkt – Europa und Nordamerika – für Woom das Marktpotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. In Deutschland liegt der Marktanteil bei rund zehn Prozent, in Spanien oder Frankreich etwa ist Woom noch kaum präsent. Das soll sich in den nächsten fünf Jahren ändern. Aber auch Asien stellt einen Wachstumsmarkt dar. „Allein in China gibt es inzwischen 400 Millionen Menschen, die ein Einkommen haben, mit dem sie sich ein solches Rad leisten können. Das wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen. Diese wachsende Schicht ist für uns natürlich eine Zielgruppe“, sagt Dohm. 

Während der asiatische Markt auch zukünftig mit Rädern, die in Kambodscha, Vietnam und Bangladesch gefertig wurden, beliefert werden soll, fahren die Kinder in Österreich oder Skandinavien bald vor allem auf Fahrrädern aus der Nachbarschaft: Im polnischen Swiebodzin werden seit Anfang dieses Jahres Woom-Kinderräder für den europäischen Markt hergestellt, mehr als 100.000 Stück sollen dort heuer vom Band gehen. „Die Lohnkosten in Polen sind viermal höher als in Asien. Aber unser Konzept ist einfach: Für die europäischen Absatzmärkte wollen wir in der Nähe produzieren und uns die 35 Tage Seefracht sparen. Als Kinderprodukthersteller haben wir ein eminentes Interesse daran, den CO2-Ausstoß zu minimieren“, sagt Dohm. Möglich mache dies ein hoher Grad an Automatisierung. „Zu diesem Zweck setzt sich mittlerweile sogar die Luft- und Raumfahrtindustrie mit Leuten wie uns an einen Tisch“, so Dohm. 

Nearshoring: Seit diesem Jahr lässt Woom nicht mehr nur in Asien, sondern auch in einem neuen Werk in Polen produzieren.

Wahre Experten

Um weiterhin hoch hinaus zu kommen, bedient sich die Forschungs- und Entwicklungsabteilung aber nicht nur der Luftfahrt, sondern auch ganz erdverbunden der Meinungen der Kinder von Woom-Mitarbeitern. Und plötzlich weht doch wieder der Start-up-Geist durch die Flure des Klosterneuburger Unternehmens, wenn die eigenen Kinder zu Besuch kommen und die Prototypen testen – auf dem Hof vor dem Firmensitz oder teilweise auch in eigens angemieteten Turnhallen. „Die kommen, fahren und erzählen schonungslos, ob das was taugt oder ein Schmarrn ist. Wir machen das Produkt für Kinder, also fragen wir natürlich auch unsere Kinder, was sie über die Produkte in der Entwicklungspipeline denken“, erklärt Dohm.

Noch in diesem Jahr bringt das Unternehmen ein Kinderfahrrad in neuem Design auf den Markt. Dohm erwartet, dass es „die Gemüter spalten“ werde: „Einige werden sagen: Das sieht gefühlt nicht nach Fahrrad aus.“ Mit Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der eigenen Ideen kennt sich die Unternehmensführung aber bestens aus. „Damals, vor acht Jahren, haben uns alle aus der Industrie gesagt, dass Woom eine Schwachsinnsidee sei und dass es keinen Markt für qualitativ hochwertige Kinderräder gebe“, berichtet Gründer Marcus Ihlenfeld. Fünf Jahre lang haben Christian Bezdeka und er sich kein Gehalt ausgezahlt. Heute erzählt CEO Guido Dohm, dass ihm kürzlich ein Kunde schrieb, Woom sei „das neue Bitcoin“. Dabei dürfte der Hype um die Klosterneuburger Kinderräder aber auf deutlich stabileren Rädern stehen.


Von Klosterneuburg in die Welt

Aufstieg: Von der Garage zum Marktführer

Im Jahr 2017 – also vier Jahre nach der Gründung des Start-ups durch den Industriedesigner Christian Bezdeka und den Marketingmanager Marcus Ihlenfeld – gestaltete sich das Geschäft von Woom erstmals profitabel; dann steigerten sich die Umsätze und Gewinne rasant: 2020 verkaufte Woom rund 230.000 Kinderfahrräder (sowie Zubehör und Accessoires) in 30 Ländern und generierte damit einen Umsatz von 55 Mio. Euro. Zudem holte Woom im Vorjahr neue Investoren wie den Runtastic-Gründer Florian Gschwandtner an Bord. Die Zwei-Drittel-Mehrheit verbleibt aber bei den beiden Gründern. Anfang Juli 2021 bündelte Woom seine Aktivitäten in Europa und in den USA. Das Mutterunternehmen mit Sitz in Klosterneuburg und der US-Generalimporteur werden von nun an in einem Unternehmen zusammengefasst. Aktuell beschäftigt Woom rund 200 Mitarbeiter, davon 115 in Klosterneuburg, der Rest arbeitet in den USA. Der Name Woom steht übrigens für das Geräusch eines vorbeizischenden Fahrrads.

Fotos: Woom