Waschen wir uns die Hände. Reiben, reiben, reiben, reiben wir sie!“ Ob diese Worte, formuliert vom vietnamesischen Gesundheitsinstitut, gesungen von nationalen Popstars, untermalt von einem animierten Musikvideo und der Choreografie eines vietnamesischen Tänzers, den Ausschlag gegeben haben, dass Vietnam derart gut durch die Coronakrise kommt, ist nicht belegbar. Das Video wurde jedenfalls millionenfach angeklickt und die Kernaussage des Liedes – „Wir müssen unsere Wachsamkeit erhöhen, damit das Virus sich nicht ausbreitet“ – hat auf jeden Fall gegriffen.
Kurzum: Vietnam ist ein Corona-Musterknabe. Das 97-Millionen-Einwohner-Land hatte bis zum 1. Dezember insgesamt nur rund 1.300 Infektions- und 35 Todesfälle zu verzeichnen – Österreich hat 200 Mal so viele Infektionen, bei weniger als einem Zehntel der Einwohner. Doch der vietnamesische Erfolg kommt nicht von ungefähr: Bereits 2003 konnte das Land als erster asiatischer Staat die SARS-Epidemie erfolgreich eindämmen – und hat weiter aus den damaligen Erfahrungen gelernt. „Unter den 30 einwohnerstärksten Staaten der Erde ist Vietnam jenes mit den wenigsten Coronavirus-Infektionen, zudem steht das Land wirtschaftlich vergleichsweise gut da“, sagt Dietmar Schwank, WKÖ-Wirtschaftsdelegierter in Ho Chi Minh Stadt (siehe Interview).
Wirtschaft in Vietnam quasi im Normalmodus
Trotz Tourismusausfällen, globalen Nachfrageeinbruchs und Unterbrechungen von Lieferketten wird Vietnam heuer in keine Rezession schlittern. Für 2020 wird ein Wachstum von zwei bis drei Prozent und für 2021 ein starker Wiederaufschwung prognostiziert. Laut Schwank ist ein Hauptgrund für den vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Schaden, dass selbst während eines dreiwöchigen Lockdowns im März und April Unternehmen unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen produzieren konnten und die Bautätigkeit nicht ausgesetzt wurde. Mittlerweile befindet sich die vietnamesische Wirtschaft quasi im Normalmodus, die Konsumentenstimmung ist optimistisch.
Die weiterhin sehr restriktiven Einreisebestimmungen machen es für die rund 400 österreichischen Unternehmen, die in Vietnam aktiv sind, jedoch alles andere als einfach. „Derzeit ist es für unsere Teams fast unmöglich, in Vietnam einzureisen und an unseren in Bau befindlichen Anlagen weiterzuarbeiten. Kundenkontakte vor Ort sind überhaupt nicht möglich“, sagt etwa Julia Schwärzler, Unternehmenssprecherin des Vorarlberger Seilbahnherstellers Doppelmayr. Und Karin Palmetshofer-Hörschinger, Vertriebsleiterin für die Asien-Pazifik-Region beim oberösterreichischen Feuerwehrgerätehersteller Rosenbauer, baut zwar darauf, die Projekte des Unternehmens virtuell weiter zu verfolgen, gibt aber zu, dass es schwierig ist, „aus der Distanz den Partnern und Kunden alles bis ins Detail zu vermitteln“.
Interview mit Dietmar Schwank, Wirtschaftsdelegierter in Vietnam
Vietnam: Das neue China
Dabei hat der bilaterale Handel zwischen Österreich und Vietnam im Vorjahr neue Rekorde erzielt: Waren im Wert von 250 Mio. Euro wurden nach Vietnam exportiert und im Wert von einer Milliarde Euro importiert. Zwar brechen heuer die österreichischen Warenexporte nach Vietnam um ein Fünftel ein, doch sind die Aussichten für das kommende Jahr vielversprechend und sowohl Doppelmayr als auch Rosenbauer optimistisch. „Vietnam ist für uns ein absolut wichtiger und aufstrebender Markt“, sagt Palmetshofer-Hörschinger.
Seit 30 Jahren liefert Rosenbauer in das Land, mehr als 200 Feuerwehrfahrzeuge sind dort bereits im Einsatz. Und für Doppelmayr ist Vietnam einer der wichtigsten Exportmärkte überhaupt, mit rund 25 Seilbahnen hat das Unternehmen zur Belebung des vietnamesischen Tourismus beigetragen. „Dazu zählen etwa die längste Dreiseilbahn der Welt, die die Inseln Hon Thom und Phu Quoc verbindet. Das zuletzt fertiggestellte Projekt ist eine Seilbahn, die auf die Ferieninsel Cat Ba im Norden Vietnams führt. Mit einer 215 Meter hohen Seilbahnstütze hat auch sie einen Weltrekord vorzuweisen“, berichtet Schwärzler.
Neuer Hafen
Hoch hinaus geht es für Vietnam nicht nur aufgrund des erfolgreichen Corona-Managements und der soliden makroökonomischen Rahmenbedingungen. Auch das durch die aktuelle Krise gestärkte Bewusstsein für die Notwendigkeit diversifizierter Lieferketten wird dem Land zugutekommen. Zudem veranlasst der Handelskonflikt zwischen den USA und China immer mehr Unternehmen dazu, sich weitere Standbeine in der Region aufzubauen. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage unter 260 führenden globalen Unternehmen aus verschiedenen Branchen und Regionen stellte das Beratungsunternehmen Gartner fest, dass 33 Prozent bereits ihre Tätigkeiten aus China verlagert haben oder dies innerhalb der nächsten drei Jahre planen.
Diesen Trend bestätigt auch Stefan Engleder, CEO des oberösterreichischen Kunststoffmaschinenherstellers Engel, der seit vielen Jahren Spritzgießlösungen vor allem für den Elektroniksektor liefert und mit einer eigenen Vertriebs- und Serviceniederlassung in Ho Chi Minh Stadt vertreten ist: „Viele Unternehmen ziehen sich aus China zurück und investieren in Vietnam. Vietnam spielt dadurch eine immer wichtigere Rolle in der Supply Chain für Gesamtasien“, sagt Engleder.
Vietnams märchenhafter Wirtschaftsaufstieg
Dass sich Vietnam heute in dieser Position befindet, ist angesichts der Zerstörungen des 1975 zu Ende gegangenen Kriegs beeindruckend. Zwischen 1990 und 2015 hat sich das BIP pro Person verdreifacht, der Anteil der Bevölkerung, der unter der absoluten Armutsgrenze (heute 1,90 Dollar pro Tag) lebt, ist von mehr als 60 Prozent in den 1980er Jahren auf weniger als fünf Prozent gesunken. Das ehemalige asiatische Armenhaus zählt heute zu den Ländern mit mittlerem Einkommen. Daran wird auch die aktuelle Krise nichts ändern.
Optimistisch für das zukünftige Vietnam-Geschäft stimmt zudem das Freihandelsabkommen zwischen Vietnam und der Europäischen Union, das am 1. August in Kraft trat und durch das 99 Prozent aller Zölle – teils sofort, teils stufenweise – gestrichen werden. Das Abkommen gilt als das ambitionierteste, das die EU jemals mit einem Schwellenland abgeschlossen hat. Es soll die Markteinstiegschancen für europäische Unternehmen deutlich verbessern und Vietnam strategisch in globale Wertschöpfungsketten integrieren. Zudem werden viele Handelshemmnisse, etwa hinsichtlich des Schutzes geistigen Eigentums, durch die neuen Regelungen abgebaut sowie Klima- und Arbeitsschutzstandards berücksichtigt.
Besondere Chancen durch das Abkommen erwarten sich Anbieter von Maschinen und Kraftfahrzeugen sowie Agrarwaren. Schließlich ist Vietnam nach wie vor stark agrarisch geprägt – das Land ist der zweitgrößte Kaffee- und fünftgrößte Reisproduzent der Welt. Doch während Landwirtschaft und Fischerei noch immer 60 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung beschäftigen, wird der größte Anteil der Wertschöpfung im Bau- und Industriesektor (38 Prozent) sowie mit Dienstleistungen (46 Prozent) erzielt. Besonders die Textil- und Schuherzeugung sowie die Elektronikproduktion sind stark ausgebaut, multinationale Konzerne spielen hier die Hauptrolle.
Österreichische Unternehmen liefern bislang vor allem Anlagen, Maschinen und Komponenten für Vietnams Industrie. Aktuell wird – auch abseits von Corona – die Gesundheitsbranche Vietnams immer wichtiger. So werden heuer deutlich mehr Pharmazeutika und medizintechnische Geräte wie Computertomografen nach Vietnam geliefert als in den Jahren zuvor. Alles in allem setzen nicht nur die großen Player auf Vietnam: „Neben Firmen wie Andritz, AVL List oder Vamed gibt es eine ganze Reihe an österreichischen KMU und Start-ups, die in Vietnam erfolgreich tätig sind“, sagt Schwank, der selbst regelmäßig zwischen Ho Chi Minh Stadt und Hanoi hin- und herpendelt.
Daten und Fakten
Staat mit zwei Zentren
Starker Staat
Während das im Süden gelegene Ho Chi Minh Stadt der kommerzielle Hub Vietnams ist, laufen im mehr als tausend Kilometer entfernten nordvietnamesischen Hanoi die Regierungsgeschäfte zusammen. Von dort regiert die Kommunistische Partei das Land mit harter Hand, politische Freiheiten gibt es kaum. Wer etwa auf Facebook das Regime kritisiert, riskiert eine Haftstrafe. Wirtschaftlich fährt die Regierung hingegen einen pragmatischen Kurs mit einer offenen Handelspolitik. Das führt bisweilen zu Skurrilitäten, etwa wenn im Fünfjahresplan auf das Manifest des Marxismus-Leninismus ein von der Weltbank mitverfasster wirtschaftspolitischer Abschnitt folgt, der die Vorzüge der Marktwirtschaft herausstreicht.
Österreichische Unternehmen, die in Vietnam Geschäfte machen wollen, müssen sich mit solchen Widersprüchen arrangieren, vor allem wenn sie im Infrastrukturbereich oder in den Sektoren Gesundheit und Sicherheit aktiv sind, in welchen der vietnamesische Staat die Fäden in der Hand hat. Vietnam zeigt sich aber bestrebt, einige der häufig ineffizienten Staatsbetriebe, die etwa ein Drittel des BIP erwirtschaften, teilweise zu privatisieren. Dabei ist es mittlerweile auch für ausländische Investoren möglich, Mehrheitsbeteiligungen an Unternehmen zu erwerben.
Dass sich aus Regierungsgeschäften privatwirtschaftliche Chancen auftun können, zeigt Rosenbauer. „Wir sehen, dass die Regierungsprojekte tatsächlich weiteren Bedarf an hochwertigen Feuerwehrfahrzeugen kreieren, und wir hoffen, in Vietnam bald vermehrt auf kommerziellem Weg größere Projekte umsetzen zu können“, sagt Palmetshofer-Hörschinger. Vor allem die Sicherheitsausrüstung der vietnamesischen Flughäfen ist fest anvisiert.
Wirtschaft in Vietnam wird grüner
Trotz all dieser positiven Entwicklungen gibt es in Vietnam auch im übertragenen Sinne weiterhin viele Baustellen – eine große ist das Thema Umweltschutz. Die Abfallwirtschaft ist völlig überfordert und vielerorts leidet die Wasserqualität an der fortschreitenden Industrialisierung. Die positive Nachricht: Auch in Vietnam werden grüne Technologien von Tag zu Tag wichtiger. Bei einem Online-Event des AußenwirtschaftsCenters Anfang Dezember stießen österreichische Unternehmen aus dem Wasser- und Abfalltechnikbereich auf reges vietnamesisches Interesse.
Dieses wird auch von der europäischen Entwicklungszusammenarbeit stark gefördert – Umweltthemen liegen hier im Fokus. So arbeitet die deutsche Entwicklungsagentur GIZ gemeinsam mit den vietnamesischen Partnern daran, Hemmnisse für Investoren im Bereich der erneuerbaren Energie abzubauen. Hier dürften auch österreichische Unternehmen, vor allem mit Blick auf Wasserkraft als wichtige Energiequelle Vietnams, hellhörig werden.
Und wenn der Fokus bereits dort ist, lohnt ein Blick auf Vietnams Nachbarn. Auch Laos und Kambodscha weisen seit Jahren Wachstumsraten zwischen sechs und acht Prozent auf. Und erste österreichische Unternehmen weiten ihr Geschäftsfeld dorthin aus: So hat das Tiroler Ingenieurbüro ILF Consulting Engineers gemeinsam mit der Oesterreichischen Entwicklungsbank OeEB – und aufbauend auf eine ADA-Wirtschaftspartnerschaft – die Projektentwicklungsgesellschaft Rendcor gegründet. In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern setzt man nun kleine Wasserkraftprojekte nach höchsten Umwelt- und Sozialstandards in Laos um – und stemmt sich damit gegen die chinesische Konkurrenz.
Vietnam als Brücke in die Region
Zukünftig könnte Vietnam für österreichische Unternehmen also durchaus eine Brücke in weitere Länder der Region sein, auch weil sich der ASEAN-Wirtschaftsraum, der zehn südostasiatische Länder von Myanmar bis Indonesien umfasst, immer mehr in Richtung eines gemeinsamen Binnenmarktes entwickelt.
Eine langjährige Initiative der ASEAN-Staaten führte zudem kürzlich zu einem spektakulären Vertragsabschluss. 15 Staaten aus dem asiatisch-pazifischen Raum, von Australien über Japan und Südkorea bis China und eben auch Vietnam haben Mitte November das Freihandelsabkommen RCEP unterzeichnet. Mehr als zwei Milliarden Menschen leben in dem neuen Handelsblock, ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung wird dort produziert. Europäische Exporteure, die selbst nicht in Asien produzieren, fürchten nun, dass ihnen dadurch der Zugang zu den asiatischen Wachstumsmärkten erschwert wird. Dabei reicht das Abkommen, was den Abbau von Handelsbarrieren angeht, aber nicht annähernd so weit wie jene, die die EU mit Vietnam oder auch mit Japan geschlossen hat. Zudem führt RCEP Dietmar Schwank zufolge neben der Erhöhung lokaler Produktions- und Qualitätsstandards dazu, dass österreichische Unternehmen in der Region nun von Vietnam oder China aus zu besseren Konditionen in die anderen RCEP-Mitgliedsstaaten exportieren können.
Die Exporte nach Vietnam werden jedenfalls nach dem Krisenjahr wieder deutlich zulegen. Und Engel-CEO Engleder sagt stellvertretend für viele österreichische Unternehmen: „Wir wollen in Vietnam weiterwachsen!“ Dabei sei es sein Ziel, „neben internationalen Unternehmen, die Standorte in Vietnam haben, auch mehr und mehr lokale Unternehmen als Kunden zu gewinnen“. Gewinnend endet übrigens auch das eingangs beschriebene Corona-Awareness-Video: Die beiden Protagonisten, die zuvor eindringlich vor den Gefahren des Virus gewarnt haben, geben sich einen Kuss – mit Mundschutz natürlich.