Für Blade Nzimade haben Ferienzeiten wohl etwas an Erholungswert eingebüßt, seitdem er 2018 den Job als Transportminister Südafrikas angetreten hat. Denn nach Festtagen zieht Nzimade regelmäßig Bilanz über die Verkehrsunfälle, die sich zuvor auf den Straßen des Landes abgespielt haben. Und es sind viele: Allein im Zeitraum 1. Dezember 2018 bis 8. Jänner 2019 forderten Verkehrsunfälle in Südafrika 1.612 Menschenleben. „Die Straßen unseres Landes sind ein Schlachthof“, wählt Nzimade harte Worte, Fahrzeuge bezeichnet er gar als „Tötungsmaschinen“.
Tod auf der Straße
In Südafrika kommen auf 100.000 Einwohner statistisch gesehen jährlich 25,9 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Damit liegt das Land am Kap knapp über dem gesamtafrikanischen Schnitt von 25,2 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohnern. Auf den Straßen der EU mit 5,5 Todesopfern pro 100.000 Einwohnern fährt und spaziert es sich hingegen mit dem weltweit geringsten Risiko.
Je ärmer ein Land, desto höher die Gefahr, nicht heil am Ziel anzukommen, zeigt jedenfalls der „Global Status Report on Road Safety 2018“ der Weltgesundheitsorganisation WHO, der sich auf Daten und Schätzungen für das Jahr 2016 aus 175 Ländern bezieht: Mehr als 90 Prozent der verkehrsbedingten Todesfälle entfallen auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, obwohl in diesen nur 60 Prozent aller motorisierten Fahrzeuge unterwegs sind. Und häufig sind es gar nicht Autoinsassen, die ihr Leben verlieren: Global gesehen ist zumindest jeder zweite Verkehrstote zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Motorrad unterwegs gewesen. Ins- gesamt lag die Zahl der Unfalltoten 2016 bei rund 1,35 Millionen, dazu kamen bis zu 50 Millionen Verletzte. Im Vergleich zu 2013 starben 2016 gleich 100.000 Menschen mehr im Straßenverkehr. Dennoch erkennt WHO-Verkehrsexperte Nhan Tran darin sogar einen Hoffnungsschimmer (siehe Interview): Berücksichtigt man die wachsende Weltbevölkerung und die weltweit steigende Zunahme an Autos, LKW und Motorrädern, so sei es in den vergangenen Jahren „zumindest gelungen, die Anzahl der Todesfälle zu stabilisieren“.
Allein, in manchen Ländern sind die Unfalldaten so unsicher wie die Straßen: Nicht alle Unfälle werden polizeilich erfasst, nationale Zählweisen zu Toten und Verletzten können voneinander abweichen oder, so erklärt Tran, komme es vor, dass Krankenhäuser als Todesursache innere Blutung notieren – der Verkehrsunfall als Ursache bleibe damit statistisch unberücksichtigt.
Interview mit Khan Tran, Weltgesundheitsorganisation WHO
Mehr Tempo für weniger Tote
Auch Luca Persia, Leiter des Forschungszentrums für Transport und Logistik an der Sapienza Universität in Rom, warnt vor vor Datenlücken. „Gerade in afrikanischen Ländern gibt es einen gravierenden Mangel an Verkehrssicherheitsdaten.“ Persia ist Projektverantwortlicher der EU-Initiative Safer Africa, die afrikanische Straßen sicherer machen möchte. Im November 2018 hat die Initiative daher das Projekt „African Road Safety Observatory“ präsentiert. Die neue Beobachtungsstelle soll afrikanischen Regierungen helfen, die Zahl der Verkehrstoten zu verringern, indem sie die Erhebung, Analyse und den Austausch zuverlässiger Daten über Verkehrsunfälle zentralisiert und eine Plattform für den Erfahrungsaustausch bietet. Persia ist überzeugt: „Zuverlässige Daten sind eine Grundvoraussetzung, damit das Ausmaß der Verkehrssicherheitsprobleme verstanden wird und Maßnahmen ergriffen werden.“
Fortschritte
Vielen reicheren Ländern ist es bereits gelungen, die Unfallstatistiken im Ergebnis zu verbessern: durch nationale Strategien und Gesetze, besseres Fahrzeug- und Straßendesign, durch Fahrschulungen und – nicht zuletzt – die Notfallmedizin. So ist die Zahl der Verkehrstoten seit 2010 EU-weit um 21 Prozent gesunken, in Österreich gar um 28 Prozent. Noch in den 1970er Jahren verunglückten jährlich an die 2.440 Menschen auf heimischen Straßen – 2018 waren es 400. Hingegen hat kein Land mit niedrigem Einkommen in den vergangenen Jahren die Zahl der Verkehrstoten verringern können.
Ein ambitioniertes Ziel rückt damit in die Ferne: 2015 haben die Vereinten Nationen die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung vereinbart. Eines zielt darauf ab, bereits „bis 2020 die weltweite Zahl der Todesfälle und Verletzungen durch Verkehrsunfälle zu halbieren“. Doch wenn im Februar 2020 die schwedische Regierung zur hochrangigen „Global Ministerial Conference on Road Safety“ lädt, wird wohl nicht das Erreichen des Ziels gefeiert, sondern eine neue Agenda mitsamt neuen Zielen zu beschließen sein.
Infobox: Bessere Kreuzungen für Mumbai
Detailarbeit
Bei Verkehrssicherheit geht es nicht nur um die Verhinderung persönlicher Tragödien, Tod oder Langzeitbehinderung betreffen vor allem die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Laut dem 2018 veröffentlichten Weltbankbericht „The High Toll of Traffic Injuries: Unacceptable and Preventable“ kann der Verlust eines arbeitenden Familienmitglieds durch Tod oder schwere Verletzungen Familien in die Armut stürzen und das Wirtschaftswachstum insgesamt beeinträchtigen. Auf Basis von Daten aus 130 Ländern schätzen die Studienautoren, dass eine durchschnittliche Verringerung der Todesfälle im Straßenverkehr um lediglich zehn Prozent das reale BIP pro Kopf über einen Zeitraum von 24 Jahren um 3,6 Prozent erhöht. Politische Entscheidungsträger seien daher gut beraten, der Verkehrssicherheit Priorität einzuräumen.
Darauf will auch die am 6. Mai 2019 beginnende „Straßensicherheitswoche“ der Vereinten Nationen aufmerksam machen, die heuer unter dem Slogan „Leadership for Road Safety“ steht. Diesem Motto kann Public-Health-Expertin Kelly Larson viel abgewinnen: „Wir wissen, wie man Menschenleben retten kann. Doch wir brauchen dringend Regierungen, die Verkehrssicherheit als Thema der öffentlichen Gesundheit priorisieren.“ Larson arbeitet für Bloomberg Philanthropies’ des US-amerikanischen Unternehmers und Politikers Michael Bloomberg. Die Charityorganisation hat mit ihrer Initiative für Globale Straßensicherheit laut eigenen Angaben seit 2007 rund 260 Mio. Dollar weltweit in Verkehrssicherheit investiert. Bloomberg arbeitet eng mit zehn Städten in Asien, Afrika und Lateinamerika zusammen und berät Bürgermeister, Städteplaner, Polizisten und andere Verkehrsverantwortliche – nicht nur, weil in Städten heute die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, sondern auch in der Hoffnung, dass Erfolge in einer Stadt zur landesweiten Einführung von Maßnahmen inspirieren könnten.
Auch Lobbying für legislative Änderungen zählt die Initiative zu ihren Aufgaben. Adäquate Gesetze sind nämlich nicht überall State-of-the-Art: Laut WHO gibt es zwar in 105 Ländern eine Gurtpflicht, aber nur 45 Länder haben strenge Gesetze gegen Alkohol am Steuer und in lediglich 46 Ländern werden allgemein empfohlene Tempolimits eingefordert. Kindersicherheitssysteme sind in gerade einmal 33 Ländern vorgeschrieben, und nur 49 Länder haben angemessene Helmgesetze. Auch die Sicherheit der Fahrzeuge selbst – wie Front- und Seitenaufprallschutz, elektronische Stabilitätskontrolle oder Verankerungsvorschriften für Sicherheitsgurte – wird nur in 40, und hier von vor allem reicheren Ländern, umfassend eingefordert.
Dass, wie Larson sagt, „Verkehrsgesetze und Strafverfolgung die Basis zur Erreichung der Verkehrssicherheit“ sind, ist naheliegend. Doch in der Umsetzung zeige sich dann oft, dass die Krux im Detail liege: So sei die Kontrolle von Geschwindigkeitsüberschreitungen oft schwierig: „Gerade in ärmeren Ländern, in denen es kaum Radarmessgeräte zur Geschwindigkeitserfassung gibt, kann die Polizei Tempolimits nur schwer durchsetzen.“
Und auch wenn die Einführung der Helmpflicht in Vietnam 2007 ein großer Erfolg gewesen sei, erledigt sei das Thema bis heute nicht: „Bis dahin trugen nur rund 40 Prozent der Motorradfahrer Helme, heute sind es schon mehr als 90 Prozent. Viele Helme sind aber qualitativ minderwertig oder werden zwar aufgesetzt, aber nicht verschlossen“, so Larson.
Infobox: Sichere Schulwege in Afrika
Tausende Kinder in Afrika sterben jedes Jahr auf dem Schulweg. Sarsai, ein Verkehrsicherheitsprojekt der NGO Amend, geht dagegen vor und hat dafür im April 2019 den mit 250.000 Dollar dotierten Ross Prize für städtische Transformation gewonnen. Die NGO arbeitet mit Schulen in den ärmsten Stadtgebieten zusammen, analysiert Gefahren und setzt bauliche Maßnahmen zur Sicherung des Schulwegs um. Hinzu kommen Schulungen für Kinder und Lehrer. Das Projekt begann in Tansania und läuft nun schon in neun Ländern. Schätzungsweise bewahrt es jedes Jahr rund 500 Kinder vor leichten bis tödlichen Verletzungen.
Gefährlicher Trend
Der Fokus auf Motorradfahrer scheint übrigens nicht nur in Vietnam lohnend: Kleine, preiswerte Motorräder und Roller prägen heute das Straßenbild in Südostasien und in vielen anderen Entwicklungsregionen. Laut MotorCyclesData wurden allein 2018 weltweit an die 62 Mio. Motorräder verkauft. Der Großteil ging an Besitzer in Asien und Südamerika, die auf den zwei Rädern zu ihren Jobs pendeln, Essen ausliefern, Waren und Menschen transportieren. Doch die schnelle und billige Mobilität hat ihren Preis: Motorradfahrer fallen in den Unfallstatistiken – und Notaufnahmen – vieler Entwicklungsregionen besonders stark auf.
Wie beispielsweise in der brasilianischen Küstenstadt Fortaleza. Als Roberto Cláudio im Jahr 2013 Bürgermeister der Stadt wurde, entschloss er sich, Fortaleza zur „Avantgarde der Verkehrssicherheit“ zu machen (siehe Infobox). Bei Besuchen in den städtischen Spitälern bemerkte er, dass der Großteil der Verletzten einer Beschreibung entsprach: männlich, zwischen 18 und 30 Jahre alt, auf dem Motorrad und ohne Helm unterwegs. Auch mehr als die Hälfte der Verkehrstoten fiel in diese Gruppe. Daher startete er eine auf junge Männer zugeschnittene Multimedia-Kampagne zur Helmnutzung sowie verstärkte Polizeikontrollen. Zusammen mit zahlreichen anderen Maßnahmen gelang es in Fortaleza schließlich, die Zahl der Verkehrstoten in nur vier Jahren um ein Drittel zu reduzieren.
Infobox: Fortschritt in Fortaleza
Die Küstenstadt Fortaleza mit ihren 2,6 Mio. Einwohnern galt lange als Brasiliens Hotspot für Verkehrstaus und -unfälle. Der 2013 gewählte Bürgermeister Roberto Cláudio setzte das Thema Verkehr ganz oben auf seine Agenda und initiierte zahlreiche Maßnahmen für sicheren sowie Fußgänger- und Radfahrer-freundlichen Straßenverkehr. Dazu zählen Aufklärungskampagnen, Tempolimits, Polizeikontrollen, Fahrspurverengungen, eigene Fahrbahnen für Busse und Räder, erhöhte Zebrastreifen oder die Neugestaltung unsicherer Kreuzungen. Die Statistik bestätigt Cláudios Weg: Die Anzahl der Verkehrstoten reduzierte sich im Zeitraum 2014 bis 2017 von 14,66 auf 9,71 pro 100.000 Einwohner.
Puzzleteile
Für sicherere Straßen haben Verkehrsexperten viele Vorschläge parat: Sie gestalten gefährliche Kreuzungen um, schalten emotionale Kampagnen und empfehlen Massentransportmittel zur Reduktion des gefährlicheren Individualverkehrs. WHO-Experte Tran plädiert gleich für einen Paradigmenwechsel. „Es gibt viele sinnvolle Maßnahmen“, sagt er, doch könne es „nicht sein, dass wir ex-post reparieren, was vorher falsch konzipiert wurde.“ Er wünscht sich, dass Sicherheit so wie in der Flugbranche immer mitgedacht wird. „Regierungen müssen beginnen, in allen relevanten Entscheidungen Sicherheit vorab zu integrieren.“ Eine Denkweise, die wohl auch so manchem Verkehrsteilnehmer zu empfehlen wäre.