corporAID: Das aktuelle „Nutrition for Growth“-Aktionsjahr sowie zwei große, internationale Ernährungsgipfel in der zweiten Jahreshälfte 2021 wollen auf das Problem der Mangelernährung aufmerksam machen. Wird denn das Problem unterschätzt?
Blüthner: Wir brauchen dieses Aktionsjahr, um die Aufmerksamkeit auf die zentrale Bedeutung der Ernährung für die Erreichung der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung zu lenken. Schlechte Ernährung ist nach wie vor die Hauptursache für fast die Hälfte aller Todesfälle bei Kindern weltweit, und dennoch konzentriert sich weniger als ein Prozent der Entwicklungszusammenarbeit auf das Thema Ernährung. Und wir sehen besorgniserregende Trends im Engagement der Geber, obwohl die Pandemie die Erfolge des vergangenen Jahrzehnts zunichte macht. Das heurige Jahr ist also entscheidend, um eine Dynamik zu erzeugen und konkrete Verpflichtungen einzugehen, um Hunger und Unterernährung in all ihren Formen bis 2030 zu beenden. Der UN Food Systems Summit in New York und der Nutrition for Growth Summit in Tokio sind zwei der bedeutendsten Ereignisse in diesem Jahr, weil sie wichtige Akteure aus allen Sektoren zusammenbringen.
Welche Folgen zeigt denn die Pandemie?
Blüthner: Die Auswirkungen auf die Ernährung sind verheerend und verschärfen die Defizite in den Gesundheits- und Ernährungssystemen auf der ganzen Welt. Anfällige Bevölkerungsgruppen haben einfach nicht das Einkommen und die Ressourcen, um sich gesund zu ernähren, geschweige denn eine hochwertige Gesundheitsversorgung zu erhalten. Schon jetzt gibt es so viele hungernde und unterernährte Menschen wie seit Jahren nicht mehr – Studien schätzen, dass zusätzlich 140 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben werden und 265 Millionen Menschen aufgrund der Pandemie in akute Ernährungsunsicherheit geraten werden, wenn nicht schnell gehandelt wird. Bis 2022 wird jedenfalls ein weiterer dramatischer Anstieg der Unterernährung erwartet. Schätzungsweise 168.000 Kinder unter fünf Jahren werden zusätzlich sterben, 9,3 Millionen Kinder werden ausgezehrt und 2,6 Millionen unterentwickelt sein. Das hat lebenslange, generationenübergreifende Konsequenzen. Zudem ist erwiesen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Ernährung und der Fähigkeit der Menschen gibt, Infektionskrankheiten wie Covid-19 gut zu überstehen. Nichtstun ist daher einfach keine Option.
Sie sind seit zwei Jahrzehnten im Ernährungssektor tätig. Haben sich die Herausforderungen und Lösungsansätze in dieser Zeit stark verändert?
Blüthner: Nun, eine Sache hat sich nicht verändert: Ernährung ist nach wie vor eine der wirkungsvollsten und kosteneffektivsten Investitionen in die menschliche Entwicklung. In den vergangenen zwanzig Jahren habe ich erlebt, wie isolierte Ansätze zu echten Hindernissen für den Fortschritt geworden sind. Wir können es uns nicht leisten, Ernährung nur als eine Frage des Gesundheits- oder des Nahrungsmittelsystems zu betrachten. Wir dürfen die Rolle der sozialen Sicherheitsnetze ebenso wenig vernachlässigen wie die Rolle der Märkte. Unser derzeitiges Ernährungssystem schafft es jedenfalls nicht, sichere, nahrhafte und erschwingliche Nahrung für Menschen aller Einkommensschichten zu liefern, was zu Mikronährstoffmangel und mehr führt. Indem wir bewährte Interventionen wie die Anreicherung von Nahrungsmitteln mit Maßnahmen des Gesundheitssystems koppeln, können wir Ernährung ganzheitlicher verbessern.
Ist Nahrungsmittelanreicherung die große „quick fix“-Maßnahme im Kampf gegen Mangelernährung oder hat sie auch ihre eigenen Herausforderungen?
Blüthner: Die Anreicherung von Lebensmitteln ist zweifellos eine der besten Investitionen, die man in der Mikronährstoffversorgung tätigen kann: Jeder investierte Dollar bringt im Schnitt einen 27-fachen Return, weil Krankheiten vermieden sowie Einkommen und Arbeitsproduktivität erhöht werden. Mit der Anreicherung von Lebensmitteln kann eine breite Bevölkerung zu geringen Kosten mit essenziellen Mikronährstoffen versorgt werden. Es ist auch deshalb eine einzigartige Intervention, da es sich um eine öffentliche Gesundheitsmaßnahme handelt, die vom privaten Sektor durchgeführt wird. Solange es Angebot und Nachfrage gibt, kann die Maßnahme aufrechterhalten und ausgeweitet werden. Obwohl der Nutzen hoch und die Kosten niedrig sind, gibt es immer noch Herausforderungen. Heute reichern zwar 80 Länder Weizen, Mais oder Reis an, aber nur 26 Prozent des Weizens, 68 Prozent des Maismehls und weniger als ein Prozent des Reises, der in industrialisierten Anlagen gemahlen wird, sind angereichert. Und nur die Hälfte der Standards entspricht den Qualitätsanforderungen der WHO. Auf nationaler Ebene sind die politischen Zuständigkeiten für die Ernährung oft zersplittert, und ein Drittel der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen schreibt die Anreicherung von Lebensmitteln in großem Maßstab überhaupt nicht vor. Wir haben also noch viel Arbeit vor uns.
Mit welchen Ansätzen arbeitet die Gates Stiftung hier?
Blüthner: Wir verfolgen jedenfalls eine holistische Betrachtungsweise und sehen uns an, was nötig ist, um Menschen sowohl die qualitativ hochwertigen Lebensmittel als auch die hochwertige Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Wir müssen zum Beispiel sicherstellen, dass Frauen während der Schwangerschaft mehrere Mikronährstoffpräparate erhalten und dass sie außerdem Nahrungsmittel essen, die reich an Eisen und Folsäure sind. Es braucht beide Ansätze. Im Rahmen dieser umfassenden Betrachtung zielt unsere groß angelegte Strategie zur Anreicherung von Nahrungsmitteln, für die ich verantwortlich bin, darauf ab, dass Menschen aller Einkommensschichten Grundnahrungsmittel zu sich nehmen, die reich an Vitaminen und Mineralien sind. In reichen Ländern ist es oft selbstverständlich, dass unser Salz jodiert oder unsere Milch mit Vitamin D angereichert ist, in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ist das jedoch nicht der Fall.
Welche konkreten Projekte machen Sie?
Blüthner: Wir gehen eine Reihe von Herausforderungen bei der Anreicherung an – wie schwache nationale Standards, mangelnde Einhaltung von Standards, geringe technische Kapazitäten oder erhebliche Datenlücken. In Indien zum Beispiel sind die Standards für die Anreicherung von Lebensmitteln freiwillig. Wir arbeiten mit indischen Behörden zusammen, um die Standards und deren Einhaltung zu stärken, wir bauen Programme aus, um die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu erreichen und wir kümmern uns um die Verbreitung von doppelt angereichertem Salz und angereicherten Reis. In Nigeria, Kenia und Tansania arbeiten wir wiederum gemeinsam mit TechnoServe und Partners in Food Solutions, um afrikanische Verarbeiter mit internationalen Produzenten zu vernetzen. Damit sollen lokale Unternehmen bei der Herstellung und dem Verkauf von angereicherten Lebensmitteln auf den lokalen Märkten technisch unterstützt werden. Ob es sich um die Einführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen handelt, um sicherzustellen, dass den Lebensmitteln die richtigen Mengen an Mikronährstoffen zugesetzt werden, oder ob es sich um Hilfsmittel handelt, die sicherstellen, dass die Informationen transparent berichtet werden – die lokalen Hersteller freuen sich über diese Art der technischen Unterstützung. Letztendlich ist es aber der Verbraucher, der wirklich profitiert.
Wo sehen Sie die Rolle von Unternehmen im Kampf gegen Mangelernährung insbesondere in ärmeren Ländern?
Blüthner: Ohne das volle Engagement des Privatsektors sind Fortschritte nicht möglich. In den vergangenen Jahren wurde die Rolle und die Verantwortung des Privatsektors bei der Produktion von sicheren, erschwinglichen und nahrhaften Lebensmitteln auch zunehmend anerkannt – aber es muss eine gemeinsame Anstrengung im Rahmen von sektorübergreifenden Partnerschaften sein. Der Privatsektor wird gebraucht, um die Ziele der öffentlichen Gesundheit zu erfüllen, und der öffentliche Sektor kann die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize für integrative Lebensmittelsysteme setzen, die den Ernährungsbedürfnissen der Verbraucher entsprechen. Sektorübergreifende, sich ergänzende Partnerschaften ermöglichen es Lebensmittelherstellern, Teil einer systemischen Innovation zu sein, die die Ernährung ganzer Bevölkerungsgruppen nachhaltig verbessert.
Vielen Dank für das Gespräch!
ZUR PERSON: Dr. Andreas Blüthner ist Direktor für Ernährung bei der Bill & Melinda Gates Foundation. Er leitet derzeit die Überarbeitung der Ernährungsstrategie der Stiftung, die auf Innovationen, die Einbindung des Privatsektors und die großflächige Anreicherung von Lebensmitteln fokussiert. Zuvor war Blüthner als Director of Food Fortification & Partnerships für Chemiekonzern und Mikronährstoffhersteller BASF SE tätig. Der Ernährungsexperte arbeitete zudem für die Vereinten Nationen, die deutsche Regierung und die Global Alliance for Improved Nutrition GAIN.