Vordenker: Clayton Christensen

Steve Jobs oder Jeff Bezos ließen sich von seiner Theorie der disruptiven Innovation inspirieren, laut dem Economist hat er mit „The Innovator’s Dilemma“ 1997 eines der wichtigsten Wirtschaftsbücher aller Zeiten verfasst: Clayton Christensen war ein Star der Managementtheorie und -praxis. Im Jänner ist der Harvard-Professor nach langer Krankheit 67-jährig verstorben. Christensens letztes Buch „Das Wohlstandsparadox“, das er im Vorjahr gemeinsam mit Efosa Ojomo (siehe Interview S. 42) herausgebracht hat, dreht sich im Kern um die Ausfaltung seiner Theorie der marktschaffenden Innovationen, welche, wie der Name schon sagt, neue Märkte kreieren statt lediglich die Effizienz eines Produkts verbessern (siehe Kasten rechts). Einfaches Beispiel: das erste iPhone, mit dem Hersteller Apple eine völlig neue Produktkategorie schuf und zahlreiche Funktionalitäten erstmals verfügbar machte. 

Christensen erkannte in marktschaffenden Innovationen in erster Linie einen Weg, um Entwicklungsländer wirksam aus der Armut zu heben. Und das nicht nur, weil sie den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen „demokratisieren“, so Ojomo, diese also möglichst allen zugänglich machen. Sondern auch, weil sie Arbeitsplätze schaffen, Gewinne abwerfen – die in Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen reinvestiert werden können – und kulturelle Veränderungen nach sich ziehen. 

Pionier: Das erste iPhone im Jahr 2007

Beispiele zeigen das Potenzial. So etwa stellte das Ford Modell T als erstes leistbares Auto ab 1908 die Basis für die Massenmotorisierung in den USA dar, so bieten die seit 15 Jahren erhältlichen kostengünstigen Polizzen des britischen Versicherungsanbieters MicroEnsure zig Millionen Menschen in Entwicklungsländern Schutz vor finanziellem Schaden bei Krankheit oder Ernteausfall. Und die nigerianische Filmindustrie, die als Nollywood internationale Bekanntheit erlangt hat, bietet Afrikanern erstmals Unterhaltung, die ihrem Leben und kulturellen Umfeld entspricht. In Nollywood werden mittlerweile rund tausend Filme jährlich – doppelt so viele wie in Hollywood – produziert, die Jahreseinnahmen haben eine Milliarde Dollar erreicht. Mehr als eine Million Menschen finden in der Produktion und in den unmittelbar vor- und nachgelagerten Unternehmen Arbeitsplätze. Als der nigerianischen Politik die Bedeutung Nollywoods für die Wirtschaft des Landes aufging, begann sie, die Filmindustrie etwa in Fragen des Urheberrechts aktiv zu unterstützen. 

Der Dominoeffekt im wirtschaftlichen Bereich und die Sogwirkung auf Politik und Institutionen sind typische Merkmale marktschaffender Innovationen. Zusätzlich zieht der Erfolg Konkurrenz auf den Plan. Den Wissenschaftern vom Christensen Institute zufolge ist genau diese Wechselwirkung aus Innovation und Imitation entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung. 

Interview mit Efosa Ojomo, Christensen Institute

Angelhaken reichen nicht

Efosa Ojomo glaubt daran, dass sein Heimatland Nigeria in den nächsten Jahrzehnten durch marktschaffende Innovationen den Sprung aus der Armut schaffen kann. Er selbst möchte den Weg seines Mentors Clayton Christensen fortsetzen.

Das letzte Glied

Auch die erste Photovoltaikzelle darf sich zu den marktschaffenden Innovationen zählen. Sie wurde erstmals in den 1970er Jahren zur Stromerzeugung eingesetzt, seither ist die Solartechnik laufend effizienter und kostengünstiger geworden, neue Märkte konnten entstehen. Heute werden rund 250 Millionen Menschen, die nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen sind, durch Solaranlagen mit Elektrizität versorgt. 

Leo Schiefermüller ist einer von jenen, die sich dafür einsetzen, dass diese Technologie neue Kunden erreicht – er selbst hat bereits zehntausende Menschen mit Strom versorgt. Seit mehr als 15 Jahren pendelt der Experte für dezentrale Energieversorgung zwischen Schörfling am Attersee und entlegenen Regionen in Afrika hin und her. 2014 wurde er Mitbegründer des tansanischen Unternehmens Jumeme Rural Power Supply, das mit Mini-Grid-Solarsystemen die ländliche Elektrifizierung in dem ostafrikanischen Land vorantreibt. Jumeme – ein Kofferwort aus Jua (Sonne) und Umeme (Strom) auf Suaheli – liefert dabei nicht nur den Strom, sondern sichert sich auch mittels Pay-per-use-Modellen einen steigenden Umsatz. 

Neue Fragen stellen

Da Entwicklungs- und Schwellenländer zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften gehören, gewinnen ihre unterversorgten und nicht erschlossenen Märkte für europäische Unternehmen zunehmend an Bedeutung. Doch wenn es um den Eintritt in diese Märkte geht, halten die meisten Unternehmen aus Europa an bewährten Strategien fest, mit denen sie bisher Kunden auf etablierten Wettbewerbsmärkten bedienten. Ludovit Garzik, der als Geschäftsführer des Rates für Forschung und Technologieentwicklung die Bundesregierung berät, würde es gefallen, wenn mehr österreichische Unternehmer wie Schiefermüller neue Wege beschritten. 

Die entscheidende Rolle kommt aber der Industrie zu. Hier mangelt es laut Garzik in Österreich nicht an der Fähigkeit zur Innovation, doch er vermisst den Fokus auf neue Märkte mit großem Potenzial. „Sind wir bereit, in Kundenbedürfnissen zu denken? Sind wir bereit, über Märkte mit geringen Margen nachzudenken? Sind wir bereit, in Märkte mit schlechter Infrastruktur zu gehen?“, fragt er. „Die Antwort lautet dreimal: Nein!“ Denn während viele europäische Unternehmen die gesamte Klaviatur der Effizienzinnovationen beherrschen, erfordern marktschaffende Innovationen, dass sie etablierte Prozesse, Strategien und Geschäftsmodelle – und damit die Hauptpfeiler ihres vergangenen und gegenwärtigen Erfolgs – grundlegend hinterfragen. Österreich sei gut darin, Know-how zu schaffen, aber nicht darin, es effektiv zu implementieren, so Garzik. 

Laut Efosa Ojomo ist Österreich mit diesen Problemen aber nicht allein: „Nur wenige europäische Unternehmen sehen den Wert von Investitionen in marktschaffende Innovationen.“ Wie Garzik appelliert auch Ojomo an die Führungsetage von Unternehmen, entsprechende Strategien ins Leben zu rufen. Dafür sind allerdings passende Rahmenbedingungen nötig. In Deutschland wurde mit dem Lab of Tomorrow der deutschen Entwicklungsagentur GIZ ein Instrument für die Vorfeldarbeit geschaffen. Die Initiative bringt Unternehmensvertreter aus Entwicklungsländern und Europa an einen Tisch, damit sie mithilfe kreativer Verfahren gemeinsam neue und nachhaltige Geschäftsmodelle für Entwicklungslandmärkte entwickeln können. Die Kooperation ist dabei bereits ein erster wichtiger Schritt. 

Offenheit wagen

Clayton Christensen widmete sein Berufsleben dem Erkennen neuer Chancen, der Förderung neuer Impulse, dem Disruptiven. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte der geschätzte Harvard-Professor einen Essay, in dem er einige Kernthesen seines Lebenswerks nochmals aufrollt und dann mit folgenden Worten schließt: „Für die Lösung unserer schwierigsten Probleme reicht das Stellen besserer Fragen allein nicht aus, aber es ist sicherlich der richtige erste Schritt. Dazu müssen wir unsere Annahmen in Frage stellen, die Probleme mit neuen Augen sehen und uns für Ideen und Ansätze öffnen, die anfangs vielleicht schwierig sind.“

INNOVATION MAL DREI

Kontinuierliche Innovationen sind Verbesserungen von bereits auf dem Markt befindlichen Lösungen und zielen auf den bestehenden Konsum ab.

Beispiele: neues Smartphone- oder Automodell

Effizienzsteigernde Innovationen helfen insbesondere Unternehmen, mit weniger Mitteln mehr zu erreichen.

Beispiele: Automatisierung, Outsourcing

Marktschaffende Innovationen schaffen neue Märkte für Kunden, die zuvor nicht bedient wurden und lassen kostengünstige neue Produktkategorien in großen Mengen entstehen.

Beispiele: Mobile Money, Modulhäuser

Fotos: Michael Rank / Flickr, Kai T. Dragland / NTNU, Christensen Institute