Um der Müllmassen Herr zu werden, die sich im Potpecko-Stausee im Südwesten Serbiens angesammelt hatten, musste im Februar mit schwerem Gerät angerückt werden. Zwei Lastkähne fuhren den See ab, um die dicke Abfallschicht zu heben, Kräne und Baumaschinen halfen vom Land aus mit. Starke Regenfälle hatten Anfang des Jahres dafür gesorgt, dass der zufließende Lim von wilden Deponien, die in Serbien, Montenegro und Bosnien am Ufer entstanden waren, Unmengen von Müll anschleppte.
Ein Umweltdesaster, das am Westbalkan leider keinen Einzelfall darstellt. Die gesamte Region hat ein immenses Müllproblem. Vielerorts landet der Müll in der freien Natur und die Erkenntnis, dass Abfälle als Wertstoffe betrachtet werden können, ist wenig verbreitet. So endete der Fang aus dem Stausee letztlich wiederum auf einer Deponie.
Ausgangspunkt eines Lab of Tomorrow: Problem mit Potenzial
Daran soll sich einiges ändern – auch dank einer neuen Initiative, die sich in erster Linie die Verwertung biologischer Abfälle auf die Fahnen schreibt und eine Win-win-Situation schaffen soll: für die Umwelt am Westbalkan und die beteiligten Unternehmen. Diese finden derzeit beim ersten österreichischen Lab of Tomorrow zueinander, einer aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit stammenden Methode, um innovative marktbasierte Lösungen für spezifische Herausforderungen in Entwicklungsländern zu suchen und in die Umsetzung zu bringen.
Der Kick-off für das österreichische Lab fand im Rahmen der corporAID Konferenz „Global Green Recovery“ im Jänner dieses Jahres statt. Der weitere Ablauf folgt der Struktur, die das 2016 in Deutschland gestartete Lab of Tomorrow bereits in 14 Projekten erprobt hat. Methodisch orientiert man sich am Design Thinking. Das heißt vor allem: Im Zentrum stehen die Bedarfe von Kunden und Endkonsumenten sowie Offenheit und Kreativität. „Wir wissen am Anfang nicht, was am Ende herauskommt. Im Design Thinking begegnet man dem mit der Haltung: Trust the Process“, sagt Hans Joachim Zinnkann, der bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ das vom deutschen Entwicklungsministerium beauftragte Projekt Lab of Tomorrow mitverantwortet.
Ausgangspunkt jedes Lab ist eine Entwicklungsherausforderung, deren kommerzielles Potenzial im Zuge von mehrmonatigen nutzerzentrierten Recherchen identifiziert wird. Dann geht es weiter in den so genannten Innovation Sprint. Hierbei handelt es sich um einen mehrtägigen interaktiven Workshop, bei dem sich Vertreter unterschiedlicher Unternehmen und Organisationen – vor allem auch aus der im Fokus stehenden Region – zusammentun, um Ideen zu entwickeln und nachhaltige Geschäftsmodelle herauszuarbeiten. Diese werden im letzten Schritt in einer dreimonatigen Test- und daran anschließenden Pilotphase verfeinert. „Es ist wichtig, dass diejenigen, die gute Ideen haben, auch kommerziell erfolgreich sind. Dafür bieten wir nach dem Innovation Sprint ein intensives Coaching und Pitches vor Experten an“, so Zinnkann. Ist der Prozess positiv gelaufen, bildet die Gründung marktreifer Joint Ventures den krönenden Abschluss.
Erfolgreiche Lab of Tomorrow-Prozesse
Als ein Erfolgsbeispiel nennt Zinnkann das Lab of Tomorrow Nummer sechs aus dem Jahr 2017, bei dem es um einen verbesserten Zugang zu leistbarer und verlässlicher Energie im ländlichen Uganda ging. In einem ersten Schritt wurde die Challenge in überschaubare Unterkategorien – wie etwa Off-Grid-Lösungen für die Landwirtschaft – unterteilt. Aufbauend auf den Rechercheergebnissen fand in München der mehrtägige Innovation Sprint statt, an dem 42 Vertreter aus 25 Unternehmen teilnahmen. Diese entwickelten sechs Geschäftsideen, von denen letztlich vier auf den Markt gelangten.
Unter ihnen war das ugandisch-deutsche Joint Venture Wamala Energy, das mobile Kühllösungen – solarbetriebene Maschinen zur Eiswürfelproduktion – für den Transport und die Lagerung von Milch verleiht. Durch die höhere Haltbarkeit der Milch können die Bauern ihr Einkommen steigern, die Kunden profitieren von besseren Hygienestandards. Mit zwei Milchbauern ging es im Sommer 2019 los, mittlerweile wurden zehntausende Liter Milch gekühlt – und derzeit wird an einer Kooperation mit einem Netzwerk von hunderten bäuerlichen Verbänden gearbeitet. „Das Business funktioniert“, sagt Zinnkann. Was ihn zusätzlich freut: „Der Konsortialgedanke – also der Zusammenschluss mehrerer Unternehmen aus verschiedenen Ländern – gelang hier ebenfalls erfolgreich.“
Als vielversprechend ließ sich auch das Lab of Tomorrow Nummer acht aus dem Jahr 2019 an. Die große Herausforderung galt dem überbordenden Plastikmüll in Thailand und der Frage, wie man Einwegverpackungen reduzieren oder wiederverwerten kann. Beim Innovation Sprint in Bangkok feilten 63 Teilnehmende aus 22 Unternehmen an Lösungen, entwickelten sechs Geschäftsmodelle – und dann kam Corona. Die Pandemie verlieh dem Thema aufgrund der zusätzlichen Plastikberge, die aus Hygienegründen, aber auch wegen der vielen Essenslieferungen entstehen, einerseits noch mehr Gewicht. Andererseits befinden sich die in Bangkok entwickelten Ideen in der Schwebe, das Geschäftsmodell eines wiederverwendbaren Bechers wird aufgrund coronabedingter Hygienevorschriften vorerst nicht weiterverfolgt. Zusätzlich erschweren Reiserestriktionen nächste Schritte, laut Zinnkann ist die Motivation der Teams aber weiterhin groß.
Der jüngste Innovation Sprint, bei dem es um Gesundheitslösungen für Ghana ging, fand Anfang März gezwungenermaßen online statt. „Diese Workshops leben stark von der direkten Zusammenarbeit auf Augenhöhe, also davon, dass Menschen aus unterschiedlichen Branchen zusammenkommen und Grenzen fallen“, bedauert Zinnkann die Schwierigkeiten, die der Online-Austausch mit sich bringt. Gleichzeitig sei es aber auch digital gelungen, die nötige Lebendigkeit und Kreativität zu fördern, damit der Prozess erfolgreich weitergeführt werden kann.
Lab of Tomorrow für den Westbalkan
Das erste österreichische Lab of Tomorrow wird seinen mehrtägigen Workshop voraussichtlich im Juni abhalten, ob physisch oder online hängt von der Corona-Situation ab. Was aber bereits klar ist: Der oberösterreichische Cleantech Cluster trägt dank seiner Fachexpertise und seiner Brückenfunktion frühzeitig das Interesse der österreichischen Wirtschaft in den Prozess hinein. Darüber hinaus sind die Austrian Development Agency ADA, die Österreichische Forschungförderungsgesellschaft FFG, corporAID und das Lab of Tomorrow-Team aus Berlin bereits jetzt in den Prozess eingebunden.
Für ihre erste Aufgabe – die Benennung der konkreten Herausforderung mitsamt ihrer Potenziale – gaben die Diskussionen beim Auftaktevent bereits wesentliche Anhaltspunkte: Am Westbalkan wird der Müll zwar in den meisten Städten gesammelt, in ländlichen Regionen aber selten. Im Kosovo kann etwa nur die Hälfte der Haushalte auf eine Müllabfuhr zählen. Der gesammelte Abfall wird hauptsächlich auf kommunalen – mitunter auch illegalen – Deponien abgeladen. Eine getrennte Sammlung und Verwertung gibt es kaum, und wenn, dann nur für Glas, Plastik oder Papier. Bioabfälle werden in der Regel weder behandelt noch kompostiert.
Das Bewusstsein für die Problematik steigt jedoch, auch bei den politischen Entscheidungsträgern. Denn im Rahmen der EU-Beitrittsprozesse müssen die Kandidaten auch im Bereich der Abfallwirtschaft gewisse Standards erfüllen. Ihrerseits hat die EU den Staaten im Rahmen des Europäischen Grünen Deals Förderungen in Aussicht gestellt. Nun werden Systeme zur Sammlung und Trennung von Abfällen entworfen, insbesondere die Menge an biogenen Abfällen auf den Deponien soll deutlich reduziert werden. Und Serbien hat im Vorjahr mit Unterstützung des österreichischen Umweltbundesamtes eine neue, umfassende Abfallstrategie verabschiedet.
Interview mit Hans Joachim Zinnkann, Senior-Projektmanager beim Lab of Tomorrow
Neue Netzwerke
Auf Erfahrungen aufbauen
Aus lokaler Sicht bekundete Sofija Bogeva beim Kick-off hohes Interesse am Lab of Tomorrow. Sie leitet das Skopje Lab, ein Innovationshub in der nordmazedonischen Hauptstadt, der sich unter anderem der Abfallthematik widmet. „Neue Lösungen für das Abfallmanagement am Westbalkan können erheblich zur Emissionsreduktion beitragen, aber auch grüne Arbeitsplätze und lokale Entwicklung schaffen“, sagt sie. Bogeva hofft, dass durch das Lab „die Zusammenarbeit zwischen österreichischen Firmen und Unternehmen vom Westbalkan ausgebaut, der Wissenstransfer intensiviert und hier auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden“.
Die österreichischen Unternehmen starten dabei aus einer guten Ausgangsposition. Bereits heute ist Österreich ein führender Investor am Westbalkan, zudem sind heimische Betriebe international als Spezialisten im Bereich der Abfalltechnologien anerkannt. „Österreichische Firmen sollten ihre gute Reputation, das angesammelte Wissen und ihre Netzwerkvorteile am Balkan nutzen“, brachte Arnold Schuh, Leiter des Center for Emerging Markets and CEE an der WU Wien, beim Eröffnungsevent ein.
Dafür setzt sich als Mitveranstalter des Lab auch Christian Maurer, verantwortlich für den Bereich Umwelttechnik beim Cleantech Cluster, ein. Er sieht die Initiative als „starken Treiber für unsere Bestrebungen, Innovationsprozesse im Bereich nachhaltige Energie- und Umwelttechnologien zu fördern und die Position unserer Cluster-Unternehmen auszubauen.“
Visionen für das Lab of Tomorrow: vom Balkan bis nach Afrika
Und auch seitens der ADA ist die Region bestens bekannt. „Der Westbalkan ist für uns eine Schwerpunktregion. Im vergangenen Jahr haben wir dort gemeinsam mit der FFG ein Pilotprojekt zu frugaler Innovation durchgeführt“, sagt Edith Mychalewicz, die für die ADA das Thema betreut. Sie betont darüber hinaus, dass die bestehenden Angebote für die Startförderung von Projekten im Prozess von Anfang an mitgedacht und kommuniziert werden sollen, und erklärt: „Mit dem Instrument der Wirtschaftspartnerschaften fördern wir seit Jahren entwicklungspolitisch relevante Vorhaben am Westbalkan. Auch beim Lab of Tomorrow rechnen wir fest mit einigen Anträgen.“ Längerfristig sei es das Ziel der ADA, auch ein Lab of Tomorrow für eine Herausforderung in einem afrikanischen Land umzusetzen. Hans Joachim Zinnkann begrüßt den Elan und wünscht sich, dass das erste österreichische Lab auch bei der Skalierung des gesamten Konzeptes hilft.
Für österreichische Unternehmen besteht bis zum Innovation Sprint die Möglichkeit, sich der Initiative anzuschließen – und damit die Chance, neue Märkte zu erschließen und mithilfe neuer Kooperationen das eigene Geschäftsmodell innovativ weiterzuentwickeln. Darüber hinaus gilt einfach: Trust the Process.