Was bedeutet für Sie Globalisierung? Und wie schätzen Sie die aktuelle wirtschaftliche Situation ein?
Stern: Ich verbinde mit Globalisierung Themen wie Innovation, Nachhaltigkeit, Wettbewerb und natürlich Wachstumschancen. Borealis ist dafür ein gutes Beispiel: Unsere Wachstumshistorie über die vergangenen zwanzig Jahre basiert sehr stark auf Innovation. Und ich rechne damit, dass diese ausgezeichnete Entwicklung auch so weitergehen wird. Warum? Ganz einfach: Weltweit leben heute 7,5 Milliarden Menschen, 2050 werden es zehn Milliarden sein. Glücklicherweise wächst mit der Weltbevölkerung der Wohlstand, damit wird auch der Konsum steigen. Wenn wir das in nachhaltige Bahnen lenken wollen, ist es wichtig, die effizientesten Materialen einzusetzen – und da gehören Kunststoffe in vielen Anwendungsbereichen einfach dazu. Die Nachfrage nach unseren Kunststoffen wird also wachsen. Allerdings wird dieses Wachstum nicht in Europa, sondern vor allem im asiatischen Raum und Mittleren Osten stattfinden. Dementsprechend wollen wir insbesondere in diesen Regionen mit unserem Joint Venture weiterwachsen.
Was bedeutet das für den Standort Österreich?
Stern: Wir haben in Schwechat einen Produktionsstandort für Polypropylen und Polyethylen, in Linz eine große Melamin- und Düngemittelproduktion sowie unser internationales Forschungsheadquarter. Kurz: Wir produzieren in Österreich Innovationen und Produkte. Die Kunststoffproduktionsanlagen, die wir weltweit errichten, basieren auf diesen Technologien. Bei Borealis in Österreich arbeiten Menschen aus mehr als dreißig verschiedenen Ländern, und da spielt die Attraktivität des Standorts in Bezug auf Lebensqualität natürlich auch eine Rolle. Dazu kommen persönliche Sicherheit und Rechtssicherheit, aber auch ein hoher Ausbildungsstand der Mitarbeiter. Angesichts der Lohnkosten müssen wir das Ausbildungsniveau der Mitarbeiter voll ausnutzen, um produktiv und wettbewerbsfähig zu arbeiten. Wo Österreich zulegen sollte, ist im Bereich Spitzenuniversitäten: Wir haben kaum Institutionen, die Weltklasse-Forscher anziehen.
„Ich bin überzeugt, dass man beim Klimaschutz mit Kunststoffen mehr erreichen kann als ohne Kunststoffe.“
Klimaschutz ist derzeit im Gespräch wie nie. Was bedeutet das für Borealis?
Stern: Wir stehen weltweit vor großen Herausforderungen im Zusammenhang mit unserem Energieverbrauch und CO2-Emissionen. Dabei wissen wir heute, dass Kunststoffe in Bezug auf den CO2-Abdruck die effizienteste Materialklasse sind und uns in ihrer Nutzungsphase dabei helfen, sehr viel CO2 einzusparen. Es wären etwa erneuerbare Energien ohne Kunststoffe nicht denkbar. Photovoltaik-Module können mit diesen Materialien effizienter gestaltet werden, und auch für die Energieverteilung leisten Kunststoffe einen wesentlichen Beitrag durch immer bessere Isolationsmaterialien für Hoch- und Höchstspannungskabel. In der Automobilindustrie ermöglichen Kunststoffe den Leichtbau und dadurch Fahrzeuge mit deutlich niedrigerem Energieverbrauch. Und wir haben unzählige Chancen, noch deutlich mehr zu bewegen – ich bin überzeugt, dass man beim Klimaschutz mit Kunststoffen mehr erreichen kann als ohne Kunststoffe.
Kunststoffe stehen massiv in der Kritik. Aktuell werden eher Verbote als neue Einsatzmöglichkeiten diskutiert.
Stern: Gerade bei Verboten muss man gut überlegen, womit wir Kunststofflösungen ersetzen. Ich hoffe, dass all die Plastiksackerln, die verboten werden, durch Sackerln ersetzt werden, die tatsächlich mehrmals wiederverwendet werden – wenn wir sie mit Wegwerfsackerln aus anderen Materialien ersetzen, ist das ganz sicher die schlechtere Lösung. Deswegen ist es wichtig, dass man versucht, Ziele zu erreichen anstatt mit Verboten zu arbeiten, denn diese sind immer eine Innovations- und Kreativitätsbremse. In diesem Zusammenhang sehe ich eine große Chance für Österreich als Land mit einer der weltweit höchsten Recyclingquoten und zahlreichen führenden Recycling-Unternehmen. Technologie und Know-how aus Österreich könnte man sicher verstärkt für die Internationalisierung nutzen, beispielsweise im Abfallmanagement, um dort Lösungen anzubieten, wo die größten Probleme auftreten.
Kunststoff gilt im allgemeinen aber als Teil des Problems …
Stern: Man muss das im größeren Zusammenhang sehen. Als Gesellschaft haben wir insgesamt ein Müllproblem. Zwölf Prozent des Mülls sind Kunststoffabfälle, von denen wir nach wie vor zu viel in die Umwelt entlassen. Das verursacht enorme Schäden, die es zu begrenzen gilt. Dabei stammen nur zirka zwei Prozent des Plastikmülls in den Weltmeeren aus Europa und Nordamerika. Das Hauptproblem liegt anderswo, und dort muss man Lösungen aufzeigen. Zentral dabei ist die Erkenntnis, dass Kunststoffabfälle Wertstoffe sind, die dem Rohstoffkreislauf wieder zugeführt werden sollten.
Welche Lösungen schweben Ihnen hier vor?
Stern: Wir haben selbst ein sehr interessantes Projekt namens STOP in Indonesien laufen, mit dem wir zeigen, wie in einem Entwicklungsland ein Müllsammelsystem aufgebaut werden kann. Ziel ist, dass sich das System einmal wirtschaftlich selbst trägt. In einer ersten Stadt – Muncar – sind zehntausend Haushalte erstmals mit Mülltonnen ausgestattet und im Umgang damit geschult worden. Wir haben dort ein Sortierzentrum errichtet, wo fünfzig Mitarbeiter beschäftigt sind. Toll ist, dass das Projekt auch andere Unternehmen anzieht. Wir kooperieren mit der indonesischen Regierung, um das Modell auf das gesamte Land auszurollen – die Expansion in zwei weitere Städte steht bevor. Ein wichtiger Partner ist die norwegische Entwicklungszusammenarbeit, die das Projekt mitfinanziert. Das Budget liegt immerhin bei mehr als zehn Millionen Euro.
„Unsere Vision ist, dass Kunststoffabfall in Zukunft einfach nur eine weitere Rohstoffquelle darstellt.“
Was kann Borealis selbst zum Thema Recycling beitragen?
Stern: Natürlich ist die Kunststoffindustrie herausgefordert, für die Verwertung von Kunststoffabfällen wirtschaftlich tragfähige Lösungen zu finden. Borealis hat 2014 begonnen, Produkte mit Rezyklat-Anteilen herzustellen, und 2016 ein Recyclingunternehmen gekauft, um selbst in dieses Geschäftsfeld einzusteigen, vergangenes Jahr kam mit Ecoplast eine zweite Recyclingfirma dazu. Hier geht es um mechanisches Recycling: Post-Consumer-Abfälle werden zerkleinert, gewaschen, getrennt und schließlich wieder zu Kunststoffgranulat verarbeitet. Das ist der energieeffizienteste Recyclingprozess, den wir als große Wachstumschance für Borealis sehen.
Muss man nicht noch früher ansetzen?
Stern: Was das Design for Recyclability oder vielleicht sogar das Design for Circularity betrifft, stehen wir sicher vor großen Aufgaben. Wir haben in den vergangenen Jahren viel Forschungs- und Entwicklungsaufwand betrieben, um mit immer weniger Material das Gleiche leisten zu können. Wenn Sie etwa eine Wasserflasche hernehmen, sehen Sie, dass für den Verschluss aus Polyethylen heute weniger als die Hälfte des Materials verwendet wird als vor zehn Jahren. Auch Verpackungsfolien sind mittlerweile so dünn, dass man sie kaum noch sieht. Möglich ist das, weil sie aus unterschiedlichen Materialien bestehen, die jedoch nicht wieder trennbar sind und bei der Wiederaufbereitung nur ein minderwertigeres Rezyklat ergeben. Mit unserer Borstar-Technologie können wir mittlerweile Mehrschichtfolien mit den gewünschten Eigenschaften aus verschiedenen Polyethylen-Typen herstellen, die ein hochwertiges Rezyklat ergeben, das erneut für die Folienproduktion verwendet werden kann. Auch im Bereich des chemischen Recycling – der Aufspaltung von Kunststoffen in kurzkettige Kohlenwasserstoffe, die als Ölersatz verwendet werden können – sind wir schon weit und suchen nach Anwendungen für das ReOil-Verfahren, das die OMV entwickelt hat. Unsere Vision ist, dass Kunststoffabfall in der Zukunft einfach nur eine weitere Rohstoffquelle darstellt. Wir haben uns da einen guten Vorsprung erarbeitet, den wir gerne nutzen werden.
Wie wird das Thema Nachhaltigkeit bei Borealis allgemein gelebt?
Stern: Wir haben eine gute und pragmatische Nachhaltigkeitsstrategie mit den drei Säulen Kreislaufwirtschaft, Gesundheit und Sicherheit sowie Energie und CO2. Wir legen bei Borealis seit vielen Jahren sehr großen Wert auf Arbeitssicherheit. Vergangenes Jahr lagen wir bei 1,3 Verletzungen pro Million Arbeitsstunden – das ist ein tolles Niveau, reicht uns aber nicht: Wir verfolgen eine Goal-Zero-Strategie. Wir haben auch Programme zur Reduktion des unternehmensinternen Energieverbrauchs und CO2- Ausstoßes. Diese setzen einerseits auf die Optimierung unserer Prozesse und andererseits auf den Einsatz neuer Technologien. Nur ein Beispiel: Im Betrieb werden immer wieder brennbare Gase frei, die abgefackelt werden. Dies reduzieren wir kontinuierlich. Im Rahmen unserer Nachhaltigkeitsstrategie verfolgen wir zudem ein Corporate Social Responsibility-Programm mit drei Schwerpunktthemen. Zum einen fördern wir an unseren Standorten in Österreich das Thema Bildung. Der zweite Schwerpunkt ist Wasser. Im Rahmen von Water for the World arbeiten wir mit internationalen Organisationen zusammen – beispielsweise haben wir seit 2007 in Mosambik rund 800.000 Menschen Zugang zu sauberem Wasser ermöglicht. Wir stellen dazu unser Know-how und unsere Produkte zur Verfügung. Das dritte Schwerpunkthema ist Recycling, unser größtes Projekt ist hier STOP, das ich bereits beschrieben habe.
Was ist für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens entscheidend?
Stern: Für mich ist das zuvorderst eine Unternehmenskultur, die es dem Unternehmen ermöglicht, die Chancen am Markt bestmöglich zu nutzen. Immerhin praktizieren wir Hochleistungssport, und da muss man zu den Besten gehören, wenn man dauerhaft mitspielen will. Das können wir nur, wenn die Mitarbeiter eine entsprechende Unternehmenskultur auch mittragen. Dazu gehört, Prozesse kontinuierlich zu hinterfragen. Das ist wirklich der springende Punkt und Voraussetzung dafür, Innovation und nachhaltiges Wirtschaften auch langfristig durchzuhalten.
„Ich liebe die Effizienz: Die Natur lebt uns auf beeindruckende Weise vor, wie mit minimaler Verschwendung möglichst viel erreicht werden kann.“
Was macht einen Manager erfolgreich?
Stern: Ein erfolgreicher Manager muss sich vor allem einmal selbst kennen und mit sich im Einklang sein. Nur dann können Sie für etwas brennen und etwas erreichen. Ich liebe beispielsweise Effizienz: Die Natur lebt uns auf beeindruckende Weise vor, wie mit minimaler Verschwendung möglichst viel erreicht werden kann. In jedem Unternehmen ergeben sich unzählige Chancen, wo man mit Technologie und Innovationen gewaltige Effizienzgewinne erreichen und damit einen entscheidenden Unterschied machen kann. Und darum geht es doch letztlich: etwas zu schaffen, das einen echten Unterschied macht.
Vielen Dank für das Gespräch!
ZUR PERSON
Alfred Stern ist seit Mitte 2018 Vorstandsvorsitzender des Kunststoffherstellers Borealis. Stern kam 2008 nach mehrjähriger Tätigkeit für den amerikanischen Konzern Du Pont zu Borealis, leitete zunächst das Forschungszentrum in Linz und übernahm 2012 als Executive Vice President die Bereiche Polyolefine und Innovation. In dieser Funktion verantwortete er maßgeblich die strategische Neuorientierung der Borealis in Richtung Kreislaufwirtschaft und Recycling. Der gebürtige Steirer promovierte an der Montanuniversität Leoben, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
ZUM UNTERNEHMEN
Grundstofflieferant für vielerlei Sparten
Borealis ist als Chemie- und Kunststoffkonzern führend in den Bereichen Polyolefine, Basischemikalien und Düngemittel. Die Unternehmensgruppe steht zu 64 Prozent im Eigentum von Mubadala, einer Investmentgesellschaft aus Abu Dhabi, und zu 36 Prozent vom heimischem Öl- und Gaskonzern OMV AG. Gemeinsam mit Borouge, einem Joint Venture mit der Abu Dhabi National Oil Company ADNOC, versorgt Borealis Schlüsselindustrien auf der ganzen Welt mit einer breiten Palette von Anwendungen in den Bereichen, Energie, Automotive, Rohre, Konsumgüter, Gesundheitswesen und Verpackungen. Borealis beschäftigt rund 6.800 Mitarbeiter in mehr als 120 Ländern, davon 1.900 in Österreich. Im Geschäftsjahr 2018 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 8,3 Mrd. Euro.