Zur Begrüßung gibt es alkoholfreie Cocktails und eine lange Liste mit vegetarischen Speisen. Ein warmes Abendessen wird auch noch nach 21 Uhr serviert. Im Zimmer wartet ein Wasserkocher für den Morgentee und das WC ist vom Bad getrennt und verfügt über einen Extra-Wasserzugang. Mit kleinen Details wie diesen sind Hoteliers gut aufgestellt, wenn sie Gäste einer aufstrebenden Reisenation glücklich machen wollen.
Gemeint sind einmal nicht Reisende aus China, auch wenn diese aufgrund ihrer Zahlen in aller Munde sind: Laut Welttourismusorganisation UNWTO haben Chinesen 2018 rekordverdächtige 149 Millionen Auslandsreisen unternommen und dabei 277 Mrd. Dollar ausgegeben. Von Hallstatt über den Nordpol bis Sydney ist die neue Reisegroßmacht heute omnipräsent (siehe auch corporAID Magazin 76).
Reisefreudig
Im Schatten Chinas wächst bereits der nächste asiatische Globetrotterriese heran, auf den sich die Tourismusbranche einstellt: Indien. In puncto Bevölkerungsgröße spielt das Land mit China schon in der gleichen Liga. Laut Statistiken des Population Reference Bureau zählt der Subkontinent derzeit 1,392 Milliarden Einwohner, China liegt mit 1,398 Milliarden Bewohnern nur knapp darüber.
Noch bewegen sich indische Bürger allerdings in deutlich geringerer Zahl über die Grenze als die chinesischen Counterparts: Heuer dürften es an die 28 Millionen Auslandsreisen (um circa 25,4 Mrd. Dollar) werden, schätzt Vivek Neb, Experte für Globalen Tourismus beim Berater Grail Insights in Singapur. „Der Unterschied erklärt sich durch die Größe der Mittelschichten beider Märkte“, so Neb. „Doch da Indiens Auslandsreisemarkt jährlich um zehn bis zwölf Prozent zulegt, werden es wohl bald an die 50 Millionen Trips im Jahr sein. Für Touristiker dürfte Indien in der kommenden Dekade ähnliche Chancen bieten wie China.“
Dass der indische Reisemarkt „reift und eine starke Zukunft hat“, erwartet auch Christine Mukharji, die diese Dynamik direkt vor Ort erlebt. Die Tourismusexpertin arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren für die Österreich Werbung in Neu-Delhi. „Auch wenn das Konsumverhalten der Inder aufgrund wirtschaftlicher Reformen immer wieder einmal kurzfristig abflaut, wird ihre Reisetätigkeit schon aufgrund der soziodemografischen Entwicklung immer bedeutender,“ erklärt sie. „Die Bevölkerung wächst stark, und steigende Einkommen sorgen für eine größere und wohlhabendere Mittelschicht, die sich das Reisen leisten kann und will.“
Interview mit Christine Mukharji, Österreich Werbung
Bergträume
Für Neb sind es mehrere Reisetypen, die gern die Koffer packen: „Es sind junge Menschen, die, wie wir annehmen, reisen, um ihren sozialen Status zu demonstrieren. Für sie ist wichtig, dass ihre Ferien Instagram-tauglich sind. Auch junge Familien und Gruppenreisende mittleren Alters, die aus ihrer Routine ausbrechen und sich erholen wollen, sind wichtige Marktteilnehmer“, meint Neb. Und gut jeder vierte Reisende sei aus geschäftlichen Gründen unterwegs.
Mukharji schätzt, dass sich potenziell schon heute 200 Millionen Inder eine Urlaubsreise ins Ausland leisten könnten – wobei sie in ihrer Hochrechnung auch budgetfreundliche, regionale Trips um wenige hundert Euro berücksichtigt. Günstige Ferien sind aufgrund laufend neuer Flugverbindungen und dem Aufkommen von Billigfluglinien für viele erschwinglich geworden. Und eine andere Reisehürde, nämlich fehlende Dokumente, beurteilt Neb als durchaus überwindbar: „Heute hat zwar erst ein Bruchteil der Bevölkerung, nämlich rund 68 Millionen Inder, einen Reisepass. Durch immer mehr Ausgabestellen und einfachere Prozesse wird es zunehmend leichter, einen solchen zu bekommen.“
Mobil seien Inder ohnehin, meinen die beiden Experten, und die Zahlen des Tourismusministeriums zum Inlandstourismus bestätigen dies: Demnach hat die Bevölkerung 2018 rund 1.800 Millionen Reisen im eigenen Land unternommen – im Jahr 2000 waren es noch 220 Millionen Trips.
„Inder machen gern Strandferien in Goa oder sind im nördlichen Rajasthan oder in Kerala im Südwesten unterwegs“, so Mukharji. Da das Land Anhängern aller großen Glaubensrichtungen zahlreiche Pilgerstätten und Heiligtümer bietet, sind spirituelle Reisen bedeutend. Und auch bekannte Sehenswürdigkeiten stehen auf der Must-See-Liste vieler Landsleute: Der Taj Mahal Palast wird etwa jährlich von rund 5,4 Millionen Einheimischen besucht.
Erst Indien, dann die Welt
Geht es nach Premier Narendra Modi, so sollen die Inder sowieso „zuerst das eigene Land gut kennen lernen, bevor sie ins Ausland gehen“. Mehrmals wandte er sich in den vergangenen Monaten mit einer Reiseempfehlung an die Bevölkerung: „Bis 2022, noch bevor Indien das 75. Jahr der Unabhängigkeit feiert, möchte ich Sie alle bitten, mindestens 15 lokale Reisedestinationen zu besuchen.“ Der indische Tourismus soll so einen kräftigen Entwicklungsimpuls erhalten. Modi forderte dazu auf, auch in Gegenden ohne gute touristische Infrastruktur zu reisen. „Manchmal bringen Schwierigkeiten neue Möglichkeiten mit sich“, erklärte er, „Menschen werden neue Einrichtungen bauen und damit Jobs schaffen.“ Und in der Folge würden, so die Hoffnung, auch ausländische Gäste kommen. Das riesige und facettenreiche Land zählte laut Regierung 2018 lediglich 10,5 Millionen internationale Ankünfte.
Trotz Direktive hin zum Heimaturlaub werden Auslandsreisen wohl nicht an Reiz verlieren. Besonders von April bis August, wenn es in vielen Regionen heiß und regenreich ist, besuchen Inder gerne Destinationen in gemäßigtem Klima. In Europa zieht es viele zu Berggipfeln und -seen. Die Szenerie gilt als Sehnsuchtslandschaft, befeuert durch indische Mythologie und Blockbusterfilme, die früher oft in der Himalaya-Region Kaschmir und später vielfach in der Schweiz – und auch in Österreich – gedreht wurden. „Österreich ist als Familiendestination mit reiner Luft und reich an Wasser bekannt“, so Mukharji. Indische Touristen besuchen besonders gerne Zell am See/Kaprun, Innsbruck, Salzburg und Wien. Und sie kommen immer öfter: 2018 zählte die Österreich Werbung fast 193.000 Ankünfte aus Indien, ein Plus von 400 Prozent gegenüber 2008.
Noch beliebter sind Frankreich, Italien, die Schweiz und traditionell Großbritannien: Dort lebt eine große Zahl indischstämmiger Einwohner, die Kontakt mit der Heimat halten. Rund 40 Prozent der 500.000 indischen Touristen in Großbritannien besuchen Familie und Freunde.
Ein Phänomen, das übrigens nun auch Australien erlebt: Weil sich mittlerweile rund 600.000 Inder in Down Under niedergelassen haben, wächst der Besuchstourismus von Jahr zu Jahr: Mehr als die Hälfte der rund 330.000 indischen Australientouristen reist vor allem zur persönlichen Kontaktpflege an. Auch Spiritualität ist ein Grund für weite Reisen: Saudi-Arabien als bedeutender Wallfahrtsort für Muslime soll für den alljährlichen Haddsch rund 200.000 Pilger aus Indien anlocken. „Diese Mekka-Reisen für indische Muslime sind oft stark subventioniert und werden mit eigenen Charterfliegern abgewickelt“, erzählt Mukharji, zu den klassischen Urlaubsreisen zählt sie den Haddsch daher nicht.
Weitere beliebte Auslandsdestinationen für Inder liegen quasi vor der Haustür: Malaysia und Singapur sind wichtige Stützpunkte für die indische Diaspora in Asien und verfügen über stetig steigende Flugverbindungen mit kleineren und größeren indischen Städten. Singapur mit rund 1,4 Millionen indischen Gästen im Jahr 2018 gilt als Topziel, Malaysia hinkt mit rund 600.000 Gästen etwas hinterher.
Inder am Radar
Die neuen Touristen werden mittlerweile von vielen Destinationen umworben. „Mehr als 70 Länder haben Tourismusbüros in Indien eröffnet“, so Neb. Angst vor dem oft diskutierten „Overtourism“-Phänomen dürfte aktuell nur ein Land haben: Bhutan. Das auf High-End-Tourismus setzende Königreich verlangt von internationalen Gästen Mindestumsätze und Gebühren von 250 Dollar pro Tag. Bis jetzt sind die indischen Nachbarn davon befreit, Bhutan gilt daher als preisgünstige Kurztrip-Option vieler Familien. Doch weil indische Gäste mittlerweile zwei Drittel der rund 275.000 Ankünfte (2018) ausmachen, dürfte Bhutan nun die Bremse ziehen – und der indische Tourist für seine Auszeit in Bhutan bald deutlich tiefer in die Tasche greifen müssen.
Andere Länder rollen den indischen Touristen, die als überdurchschnittlich spendabel gelten und auch in der Zwischensaison anreisen, den Teppich aus. Eine Willkommensstrategie sind beispielsweise Einreiseerleichterungen. Kürzlich kündigte etwa der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro an, dass indische Bürger künftig ohne Visa nach Brasilien einreisen können. Für diese nicht selbstverständlich: Laut Henley Passport Index können sie nur 59 Länder ohne Visa-Anträge besuchen. Zum Vergleich: Für Besitzer eines österreichischen Pass sind 185 Destinationen visafrei zugänglich.
Kricket und Curry
Malaysia wiederum lockt Inder mit rasch bearbeiteten Online-Visaanträgen und positioniert sich in Kampagnen als ideale Destination für Reiseneulinge: Das Land bietet als kultureller Schmelztiegel eine vertraute Kultur und – für viele der neuen Touristen elementar – ein reiches kulinarisches Angebot, das der eigenen Lebensweise und religiösen Überzeugung entspricht. So schätzen es Inder, wenn sie auch im Urlaub eine große Auswahl an vegetarischen Speisen und indischen Restaurants vorfinden und ihnen Rind- oder Schweinefleisch nicht aktiv angeboten werden, erklärt Mukharji.
Australien betont in aktuellen Kampagnen die gemeinsame Liebe zum Kricketsport: Wenn 2020 in sieben australischen Städten Kricket-Weltmeisterschaften ausgetragen werden, sollen viele Inder vor Ort mitjubeln – und dann gleich länger bleiben und sich beim Skydiven und Heißluftballonfahren vergnügen.
Auch zwei von Indern schon erkorene Top-Destinationen strengen sich weiter an: Das Shoppingparadies Dubai mit zwei Millionen Ankünften pro Jahr lockt mit Bollywood-Testimonials und wirbt auch in kleineren Städten um neue Gäste. Und Trendziel Thailand will die neuen Globetrotter für touristisch noch unterentwickelte Gebiete im Norden und Osten begeistern – und verstärkt indische Hochzeiten ausrichten: Für solche fliegen oft hunderte Gäste ein, die in Fünf-Sterne-Hotels beherbergt werden – ein besonders lukratives Segment.
Indischen Reisenden wird man wohl immer öfter begegnen. Der Reiseriese, der hier heranwächst, ist nicht mehr aufzuhalten.