corporAID: Wie geht es Wienerberger in der neuen Realität?

Scheuch: Die neue Realität gibt es nicht. Es gibt eine alte Realität, und in die müssen wir schnell wieder zurückkommen. Jede Generation glaubt, dass ihre Herausforderungen eine neue Realität darstellen. Dabei ist die Menschheit seit Jahrtausenden evolutiv unterwegs. Es gibt nicht den einen Bruch. Daher zählt in dieser Welt eines: Wir müssen uns immer wieder erneuern. Gerade in einer Krise müssen wir neue Lösungen hervorbringen. Wienerberger – mit immerhin 200 Jahren Firmengeschichte im Rücken – hat schon viele Krisen durchgestanden. Wobei die wirtschaftliche Lage für Wienerberger gut ist: 2019 war das erfolgreichste Jahr des Unternehmens. Wir haben viele Hausaufgaben in der vergangenen Dekade erledigt. Wienerberger hat sich fundamental gewandelt von einem produktorientierten Unternehmen in eines, das den Kundennutzen in den Mittelpunkt stellt und sich fragt, welchen Wert es für die Gesellschaft schaffen kann. 

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die internationale Wirtschaft?

Scheuch: Wienerberger selbst ist nicht sehr abhängig von internationalen Wertschöpfungsketten, wir sind eher ein lokaler Player. Aber viele Industrien, die sich abgenabelt haben vom Lokalen und nur mehr auf international gesetzt haben, haben sich mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert gesehen: Lieferengpässe, Nichtverfügbarkeit von Produkten, mangelnder Kontakt zu Kunden. Sicherlich wird in der Zukunft die fortgeschrittene Globalisierung in vielen Bereichen überdacht werden. Es geht ja nicht nur um die Pandemie. Wir sehen seit einigen Jahren mit „America first“ und dem Brexit, der ja vor allem ein „UK first“ war, Schritte in Richtung wirtschaftlicher Nationalismus. Insgesamt führt das zu Verschiebungen und Diskussionen über Lieferketten, Produktionsstätten und integrative Ansätze bei Handelsbeziehungen. Die Auswirkungen werden wir erst in fünf bis zehn Jahren sehen, aber sie werden durchaus massiv sein.

Sie erwarten also eine Lokalisierung der Wirtschaft? 

Scheuch: Wir werden erleben, dass die Wertschöpfungsketten innerhalb von Regionen integrativer werden. Und ich hoffe, dass Europa eine solche Region werden wird, weil Europa nur dann Bestand hat. Das heißt, dass die Wirtschaft, die Industrie, die Dienstleistungen als Gesamtheit gesehen und die verlängerten Werkbänke, die wir in Mittelosteuropa haben und in Zukunft auch in Südeuropa haben werden, mittelfristig in unsere Wertschöpfungsregion integriert werden müssen. Die Auslagerung von ganzen Produktionsketten in andere Regionen der Welt wird eher in Frage zu stellen sein. Eine Regionalisierung hätte zudem eine gewaltige positive Auswirkung auf unsere CO2-Emissionen und unseren Rohstoffverbrauch. Das sind Themen, die nicht philosophischer, sondern ganz praktischer Natur sind. Und hier ist jeder aufgerufen, die Coronakrise zum Anlass zu nehmen, wirtschaftlich neu zu denken. Vor allem die Politik ist gefordert, über den Tellerrand hinauszuschauen. Jetzt wäre der Moment, die Wirtschaft nachhaltig auszurichten und wirklich industriepolitisch zu denken. 

Heimo Scheuch im Gespräch

Jetzt wäre der Moment, die Wirtschaft nachhaltig auszurichten und wirklich industrie-politisch zu denken.

Wie gestaltet sich die Internationalisierung bei Wienerberger?

Scheuch: Internationalisierung ist nichts Neues für Wienerberger. Wir waren im Jahr 1913 sehr international in der K.-u.-k.-Monarchie und haben dann fast 80 Jahre gebraucht, bis wir wieder dorthin gekommen sind, indem wir angefangen haben, unsere Positionen in jenen Ländern aufzubauen, in denen wir schon einmal stark waren. Das ist auch eine logische Entwicklung. Wo geht die Reise hin? Hier gibt es sicherlich einen Unterschied zur Strategie der 2000er Jahre, als man dem Zeitgeist folgend auf allen Kontinenten tätig sein wollte. Das ist heute nicht mehr so. Heute geht es uns darum, in der EU und in Nordamerika ein starker Player zu sein, denn hier finden wir fantastische Wachstumsmöglichkeiten vor, die wir auch nutzen werden. Für mich ist es relevant, dass wir in jenen Bereichen, in denen wir tätig sind, etwas voranbringen. Ich habe das Unternehmen 2009 in seiner größten Krise übernommen. Wir hatten 1,6 Mrd. Euro Umsatz, vergangenes Jahr waren es 3,5 Mrd. Euro. Wir haben also mit unserer Strategie in einer Dekade ein wesentliches Wachstum erzielt und auch die Profitabilität mehr als vervierfacht.

Sie sind auch in Indien und Russland mit Werken vertreten. Wie sehen Sie diese Märkte?

Scheuch: In Indien haben wir es geschafft, mit einem ganz neuen Produkt in einen ganz neuen Markt einzusteigen. Das ist nach gängiger Lehrmeinung genau das, was man nicht tun soll. Aber wir haben das damals gewagt und es hat auch entsprechend lange gedauert. In Russland war es ähnlich. Aber um auf einem Markt wie Indien in unserer Branche eine relevante Größe zu erreichen, bräuchten wir Investitionsvolumina von 300 bis 400 Mio. Euro und zehn Jahre Zeit. Und jetzt habe ich die Alternative, das Geld und die zehn Jahre zu verwenden, um mein Business digitaler und nachhaltiger auszurichten, und in Nordamerika und Europa dreimal so schnell zu wachsen. Da ist die Zielrichtung relativ klar: Hier wird die Reise hingehen. Ich sage Ihnen ganz entspannt, dass Wienerberger in den kommenden fünf bis zehn Jahren in Asien nicht tätig werden wird. Natürlich werden wir unser indisches Werk und unsere drei russischen Werke weiter betreiben, denn die laufen ja zufriedenstellend, aber wir haben keine Ambitionen, in diesen Regionen über das Bestehende hinaus stark zu wachsen.

Wie spielen Wachstum und Nachhaltigkeit zusammen? Sind das konträre Begriffe?

Scheuch: Vielleicht ein philosophisches Wort am Anfang. Ein sehr bekannter österreichischer Volkswirt, der leider hierzulande ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, hat etwas sehr Richtiges gesagt: Es gibt kein stetiges Wachstum. Denn auf jede Wachstumsphase folgt eine kreative Zerstörung, dann gibt es wieder Wachstum. Joseph Schumpeter hat absolut Recht. Wir müssen eine wachsende Weltbevölkerung ernähren, ihr Möglichkeiten geben zu wohnen, zu arbeiten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, und da gilt es, Ressourcen entsprechend nachhaltig einzusetzen. Und es geht nicht ums Reden – die westliche Welt doziert ja gerne, aber sie tut zu wenig. Ganz im Gegenteil, hier müssen wir mit gutem Vorbild vorangehen. Wachstum und Nachhaltigkeit sind für mich eins, das kann und darf man nicht auseinanderdividieren. Und bei der Frage geht es letztlich auch um den Zweck dieses Unternehmens. Es geht nicht allein ums Geldverdienen. Es geht auch um das, was wir beitragen in den Gesellschaften, in denen wir tätig sind.

Heimo Scheuch im Gespräch

Wachstum und Nachhaltigkeit sind für mich eins, das kann und darf man nicht auseinanderdividieren.

Ist das Thema Werteorientierung über die Jahre stärker geworden?

Scheuch: Werte entwickeln sich natürlich auch je nach Zeitgeist. Gehen Sie einmal 150 Jahre zurück, als die Themen Arbeiterrechte und Soziales Bedeutung gewannen – Wienerberger hat das damals implementiert. Diese DNA des Unternehmens prägt uns über viele Jahre und zeigt, dass wir immer wieder ein Wegbereiter für Neuentwicklungen waren. Es ist für mich wichtig, dass wir diese Verantwortlichkeit, ethische Prinzipien und Werte haben, die langfristig orientiert sind. Wenn wir heute ganz klar und deutlich sagen, unsere Strategie basiert auf Kreislaufwirtschaft, dann wollen wir in der Tat ein Portfolio haben, in dem 100 Prozent der Produkte rezyklierbar sind und einen positiven Carbon Footprint haben. Das ist ein klares Commitment und ein großer Auftrag, den wir ernst nehmen. Ich sehe auch zunehmend ein Umdenken am Finanzmarkt, der zwar immer noch kurzfristig und an Profit orientiert ist. Aber Nachhaltigkeitsthemen etablieren sich immer mehr, und sie werden auch dazu führen, dass unternehmerische Entscheidungen in Zukunft viel stärker nachhaltig geprägt sein werden.

Heimo Scheuch im Gespräch

Unternehmerische Entscheidungen werden in Zukunft viel stärker nachhaltig geprägt sein.

Welche Maßnahmen setzen Sie in puncto Emissionsreduktion und Kreislaufwirtschaft? 

Scheuch: Wir haben in den vergangenen Jahren unser Produktportfolio enorm weiterentwickelt. Wienerberger dreht sich nicht nur um Bauen, sondern in zunehmendem Maße auch um Wasser. Über das sprechen die wenigsten. Wir sind heute ein Unternehmen, das Rohre und Systeme für die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung herstellt und hier smarte Lösungen bietet. Wir sind von einem sehr klassischen Ziegelhersteller zu einem lösungsorientierten Systemanbieter mutiert. Das heißt, die Kunden arbeiten mit uns, weil sie nicht nur einen Ziegel kaufen wollen, sondern eine Wand-, Fassaden-, Dach- oder Wasserlösung suchen. Bei Bauvorhaben sind unglaubliche Effizienzsteigerungen von bis zu 50 Prozent möglich – sowohl was die Kosten, als auch was den Ressourceneinsatz betrifft. Hier einen neuen Zugang zu finden, ist klar die Zielrichtung von Wienerberger. Als Systemanbieter haben wir hier einen deutlich größeren Hebel. Wir wollen aber auch selbst in Sachen Energie- und Rohstoffverbrauch signifikant nach unten kommen – mit neuen Technologien, die wir im Haus entwickelt haben. 

Wer sind die Treiber für Nachhaltigkeitsambitionen in Ihrem Unternehmen?

Scheuch: Der Treiber ist vor allem unsere Eigenverantwortung. Wir sind in unserer Branche bei Weitem der größte Player, unsere Mitbewerber sind meist Familienunternehmen mit einem oder zwei Standorten. Die folgen eher. Beim Thema Nachhaltigkeit geht es ja nicht allein um Treibhausgasemissionen und Rohstoffverbrauch, es geht auch um den Umgang mit Menschen und der Umwelt. Nachhaltigkeitsziele haben zudem eine große Relevanz, weil sie sich auch in der Bonifikation von uns allen widerspiegeln. Wir hatten eine Roadmap bis 2020, von der wir fast alle Ziele erreicht haben. Wir sagen aber auch deutlich, warum wir einzelne Ziele nicht erreicht haben und was noch zu tun ist. Zu unserem Engagement gehört seit mittlerweile mehr als 15 Jahren auch eine transparente Kommunikation. Derzeit arbeiten wir an einer neuen Vision des Unternehmens, zu deren Grundprinzipien auch Kreislaufwirtschaft, Dekarbonisierung und die Erhaltung der Biodiversität gehören. Diese Prinzipien werden mit klaren Zielen verknüpft, die im Dreijahresrhythmus evaluiert werden. Ein weiterer wichtiger Treiber sind heute Investoren aus dem angloamerikanischen Raum. Wir haben in Mitteleuropa ein relativ stringentes Regelwerk. Weil wir schon lange in diesen Strukturen arbeiten, ist es für uns ein Selbstverständnis, im angloamerikanischen Raum ist es das nicht. Müssen wir jeden Aspekt unseres Selbstverständnisses in einer Policy abbilden? Der Angloamerikaner sagt: Ja. Und deshalb tun wir es. 

Was macht ein Unternehmen in Ihren Augen zukunftsfähig? 

Scheuch: Dazu gibt es eigentlich eine ganz klare Antwort: Zukunftsfähig ist man als Unternehmen nur dann, wenn man starke, innovative Produkte hat und in kontinuierliche Innovation investiert. Der zweite Kernpunkt sind die Menschen. Das ist die Unternehmenskultur, denn wir sind immer nur so stark wie unsere Mannschaft. Und hier spielt die Sinnfrage eine zunehmend wichtige Rolle. Warum arbeiten wir an etwas? Junge Leute kommen deshalb zu uns, weil wir an Lösungen der Zukunft arbeiten. Das interessiert die Menschen.

Vielen Dank für das Gespräch.
 

ZUR PERSON

Heimo Scheuch ist seit 2009 CEO des Baustoffkonzerns Wienerberger AG.
Er ist seit 1996 im Konzern tätig und hatte verschiedene leitende Funktionen inne. Der 54-jährige Kärntner studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und Paris und war unter anderem als Anwalt im Bereich Corporate Finance in Mailand und London tätig.

ZUM UNTERNEHMEN

Vom Ziegelhersteller zum Systemanbieter

Neue Unternehmenszentrale am Wienerberg
Neue Unternehmenszentrale am Wienerberg

Die Wienerberger AG ist ein internationaler Baustoffkonzern mit Hauptsitz in Wien. Gegründet wurde Wienerberger im Jahr 1819, 50 Jahre später ging das Unternehmen bereits an die Börse. Seither entwickelte sich Wienerberger vom reinen Ziegelhersteller zu einem führenden Anbieter von Baustoff- und Infrastrukturlösungen in den drei Geschäftsbereichen Ziegel, Rohrsysteme und Flächenbefestigungen. Bei Tondachziegeln ist Wienerberger in Europa Marktführer und mit seinen 195 Werken in 30 Ländern (Europa, Nordamerika, Indien, Russland) der größte Ziegelproduzent weltweit. Seit der Übernahme von Pipelife, einem Hersteller von Kunststoffrohren und Rohrsystemen, im Jahr 2012 hat sich Wienerberger zudem als Player in der Wasserversorgung etabliert. Im Geschäftsjahr 2019 erwirtschaftete der Wienerberger-Konzern mit aktuell rund 16.000 Mitarbeitern einen Umsatz von knapp 3,5 Mrd. Euro und ein positives Nettoergebnis von 249 Mio. Euro.

Fotos: Mihai M. Mitrea, Wienerberger