Das Gespräch führte Klaus Huhold.
Die wirtschaftliche Stimmung in Europa ist im Moment eher düster – gibt es auch positive Zeichen?
Emily Mansfield: Freilich besteht derzeit viel Unsicherheit und sind die Sorgen rund um die US-Politik groß. Aber es gibt definitiv auch Lichtblicke. Einer davon ist die Entwicklung der Inflation. In den vergangenen Jahren gab es einen enormen Druck auf die Lebenshaltungskosten, der durch die russische Invasion der Ukraine und den damit einhergehenden Anstieg der Energiepreise ausgelöst wurde. Das hat den Konsum stark belastet. Jetzt neigt sich diese Phase dem Ende zu. Dabei ist ein Nebeneffekt der Entwicklungen in den USA, dass die Preise weiter sinken werden. Ein schwacher Dollar hat nämlich Auswirkungen – auch deshalb, weil viele Rohstoffe, die wir importieren, in Dollar bewertet werden. All das dämpft die Inflation und ermöglicht den Zentralbanken, die Zinsen zu senken. Das erleichtert wiederum die Aufnahme von Krediten – etwa für Familien, die ein Haus bauen wollen, aber auch für Unternehmen, die Investitionen planen. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir trotz aller Unsicherheiten im Laufe des Jahres wieder eine stärkere Konsumnachfrage in Europa erleben werden.
Die aktuellen Entwicklungen zeigen einmal mehr, wie stark Europa von den USA abhängig ist. Auch ohne China geht es kaum noch. Doch wie stark ist Europa darüber hinaus mit anderen Teilen der Welt verflochten? Und welche wirtschaftlichen Chancen ergeben sich daraus?
Mansfield: Wenn man die wichtigsten Exportziele Europas betrachtet, stehen natürlich große Volkswirtschaften wie die USA und China an vorderster Stelle. Aber europäische Unternehmen sind global aktiv. Asien ist eine Region, in der es in den vergangenen Jahren sehr starkes Wachstum gegeben hat, und das wird sich voraussichtlich fortsetzen. Indien ist der am schnellsten wachsende Schwellenmarkt – nicht nur aktuell, sondern auch über die nächsten fünf Jahre. Auch Länder wie Indonesien haben eine stark wachsende Bevölkerung, ein steigendes Bruttoinlandsprodukt und eine wachsende Mittelschicht. In Südostasien tun sich wirklich interessante Chancen auf. Außerdem steht das Freihandelsabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten, dem südamerikanischen Wirtschaftsraum, nach 25 Jahren Verhandlung nun kurz vor der Ratifizierung. Der politische Widerstand lässt spürbar nach – ein Zeichen dafür, dass sich Europa auch strategisch stärker in anderen Weltregionen engagieren will. Und das just in dem Moment, in dem Trump gewählt wurde… Generell verhandelt die EU derzeit zahlreiche Freihandelsabkommen. Sie nähert sich den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch Australien, Indonesien und Indien an. Je protektionistischer sich der US-Markt entwickelt, desto stärker wächst weltweit das Interesse an alternativen Exportmärkten.
Wenn Unternehmen auch mit Blick auf den Protektionismus der USA nun diversifizieren, sind dann Entwicklungs- und Schwellenländer eher als Produktionsstandort oder als Exportmarkt interessant?
Mansfield: Es kommt darauf an, was man produziert und verkauft. Donald Trumps Strategie ist etwas bizarr, denn die USA übernehmen das Handbuch für Schwellenländer: Sie versuchen, ihre Wirtschaft zu schützen und junge Industrien wachsen zu lassen, ohne der harten Konkurrenz von weiter entwickelten Produzenten ausgesetzt zu sein. Das Problem ist nur: Die USA haben sehr hohe Lohnkosten. Hinzu kommt noch eine enorme politische Unsicherheit – niemand weiß, wie hoch die Zölle morgen oder nächste Woche sein werden, geschweige denn nächstes Jahr. Wenn man bedenkt, dass es gewöhnlich fünf Jahre braucht, um eine Fabrik zu errichten, dürfte der Erfolg von Trumps Zollstrategie überschaubar sein. Viel stärker gefragt sein werden Produktionsstandorte mit niedrigeren Lohnkosten, von denen aus man in andere Konsummärkte wie Europa exportieren kann. Gleichzeitig wächst in vielen asiatischen Ländern die Mittelschicht mit zunehmender Kaufkraft – dort entsteht also auch Nachfrage. Diese Länder werden also selbst zu interessanten Märkten.
Ein echter Gamechanger wäre, wenn es die EU schaffen würde, eine Kapitalmarktunion aufzustellen.
E.Mansfield
Gleichzeitig kommen aus aufstrebenden Ländern immer mehr starke Firmen, die international konkurrieren. Was müssen europäische Unternehmen mitbringen, um in diesem Umfeld erfolgreich zu sein?
Mansfield: Das ist eine knifflige Herausforderung, denn wir können nicht über die Kosten konkurrieren – die Lohnkosten sind in Europa einfach höher. Darüber hinaus sind bei bestimmten Produkten wie Solarpaneelen oder Elektroautos China und andere asiatische Anbieter voraus. Dafür aber hat Europa in allen Bereichen, in denen mit niedrigen Emissionen produziert wird, einen klaren Wettbewerbsvorteil. Mit dem bevorstehenden CO₂-Grenzausgleichsmechanismus der EU dürfte sich dieser Trend noch verstärken. Künftig werden Importe aus Drittstaaten mit einem CO₂-Aufschlag belegt, sofern sie nicht unter vergleichbare Klimaschutzstandards fallen – de facto so, als unterlägen sie dem europäischen Emissionshandel. Das wird die Nachfrage nach emissionsarmen Produkten steigern – in der EU und anderswo. Und da ist Europa deutlich besser aufgestellt als viele asiatische Schwellenländer.
Gibt es andere Sektoren, in denen Europa eine große globale Wirkung hat oder haben könnte?
Mansfield: Ja, Europa hat den Vorteil, dass es eine hochdiversifizierte Wirtschaft besitzt. Im Bereich Hightech-Produktion besitzen viele Länder extrem starke Firmen, darunter auch Österreich. Außerdem sind 70 bis 80 Prozent der europäischen Wirtschaft Dienstleistungen. Der Tourismus ist dafür ein Beispiel – Europa ist hier Weltmarktführer, und dieser Sektor boomt gerade.
Braucht es auch noch zusätzliche Initiativen der Europäischen Union, damit europäische Unternehmen stärker international auftreten können?
Mansfield: Ein echter Gamechanger wäre, wenn es die EU schaffen würde, eine Kapitalmarktunion aufzustellen. Europäische Firmen haben viel weniger Zugang zu Finanzierungen als US-Unternehmen. Unsere Risikokapitalmärkte sind viel weniger entwickelt, der Markt ist zersplittert. Eine Kapitalmarktunion könnte das verbessern. Aber selbst wenn das nicht möglich ist, wäre alles, was zu einer besseren Finanzierung von Innovation, Forschung und Entwicklung beiträgt und den kleinen, aber innovativen Unternehmen hilft, sich zu vergrößern, sehr hilfreich.
Muss Europa generell zukunftsfähiger werden? Wir haben die Digitalisierung ein wenig verschlafen, jetzt auch die Künstliche Intelligenz.
Mansfield: Ja, definitiv. Bei Künstlicher Intelligenz und E-Mobilität sind wir nicht führend. Die deutsche Autoindustrie wurde von China überholt, das wird wohl schwer aufzuholen sein. Aber im High-End-Bereich – etwa bei Luxusautos – ist Deutschland weiterhin stark, samt den Lieferketten durch Österreich und Zentraleuropa. Die Künstliche Intelligenz ist strategisch so wichtig, dass Europa hier viel mehr investieren muss. Wirkungsvoll wäre es auch, wenn das grundlegende Niveau der Digitalisierung angehoben werden könnte, sodass die Verwaltung auf dem neuesten Stand ist. Wenn hier die Flut steigt, hebt sie alle Boote.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Emily Mansfield: Emily Mansfield studierte zunächst Literatur an der Universität Cambridge, danach schloss sie ein Wirtschaftsstudium an der Universität London ab. Seit 2011 leitet die Britin die Analyse wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen in Europa bei der Economist Intelligence Unit, der Forschungs- und Analyseabteilung der Economist Group, die auch das Magazin „The Economist“ herausgibt. Sie ist gefragte Rednerin bei Institutionen wie Chatham House und dem Europäischen Parlament. In Wien war sie im Rahmen des Exporttages der Österreichischen Wirtschaftskammer zu Gast und teilte dort ihre Expertise.