Vier Zentimeter pro Stunde, fast einen Meter pro Tag: So rasant kann Bambus in die Höhe schießen. Der Eintrag als schnellst wachsende Pflanze im Guinness-Buch der Weltrekorde ist eindrucksvoll verdient. Allerdings gibt es den „einen“ Bambus gar nicht. Mehr als 1.500 Arten des Süßgrases wurden bereits entdeckt. Manche wachsen kniehoch, andere ragen 30 Meter und weiter in den Himmel. 

Zum Fressen gern: Riesenpandas verspeisen bis zu 40 Kilo Bambus pro Tag.

Doch nur bestimmte Arten legen unter idealen klimatischen Bedingungen ein derart hohes Tempo vor, dass man ihnen beim Wachsen regelrecht zusehen kann. Außergewöhnlich ist die Pflanze allemal, wie schon ihre zahlreichen Beinamen andeuten: Bambus wird Wundergewächs, Retter des Planeten, Gottespflanze oder auch Stahl des 21. Jahrhunderts genannt. 

 

Bauen mit Bambus

Markus Roselieb ist von Bambus längst überzeugt. Der nach Thailand ausgewanderte Österreicher betreibt in der Stadt Chiang Mai ein Architektur- und Baubüro und designt Gebäude, bei denen Bambus – neben anderen Naturmaterialien – eine prominente Rolle spielt: „Bambus ist schön, stark, leicht, langlebig und ein wirklich nachhaltiges Material“, begründet er seine Begeisterung. In den vergangenen zehn Jahren baute er mit Bambus an die 50 Schulen, Wohnhäuser, Forschungs- und Konferenzzentren.

Da Bambus aus Rohren mit dicken Außenwänden, Faserfüllungen und Kammern besteht, verfügt es über herausragende technische Eigenschaften: „Bambus hat beispielsweise eine höhere Druckfestigkeit als Beton, ein geringeres Gewicht als Glasfasern, eine höhere Zugfestigkeit als einige Stahllegierungen sowie gute Akustik- und Wärmedämmeigenschaften“, erklärt Walter Scheufele, Vorstandsmitglied des Kompetenzcenters Bamboo Technology Network Europe BTNE, das sich für die kommerzielle und industrielle Weiterentwicklung des Riesengrases stark macht. 

Unterm Bambusdach: Turnhalle in Thailand

Gebaut wird mit Bambus, das in tropischen, subtropischen und auch gemäßigten Zonen vorkommt, vielerorts. Richtig populär ist es deswegen nicht. „Bambus hat ein riesiges Imageproblem. Im Westen gilt es als Hippie-Material, in den Tropen als Baustoff der armen Leute, deren Hütten nicht länger als zwei bis drei Jahre halten“, erklärt Roselieb. Die Menschen in den Tropen träumten immer noch von Häusern aus Holz, Beton und Blechdach. Das Problem bei Bambus liege aber nicht am Material, sondern schlicht an Unkenntnis, erklärt er. Häufig werde das Gras zu früh geerntet. „In den ersten Jahren ist Bambus wie Spargel, grün, weich und sehr stärkehaltig. Davon ernähren sich Pandas, Elefanten und Insekten. Wer damit baut, erhält ein instabiles Zuckerhaus.“ Erst wenn die Pflanze etwa vier bis fünf Jahre alt ist, sind die Rohre ausreichend verholzt und die Fasern so verdichtet, dass sie – richtig ausgewählt und vorbehandelt – wie Stahl einsetzbar ist. Dann kann, so Roselieb, ein Bambushaus auch 80 Jahre und länger bestehen.

 

Interview mit Markus Roselieb, Chiangmai Life Architects

Grüner Stahl

Der Österreicher Markus Roselieb baut in Thailand Gebäude aus Bambus, einem für ihn „faszinierenden Baumaterial mit Imageproblem“.

Angesichts des hohen Bevölkerungswachstums in Entwicklungsregionen und des riesigen Bedarfs an Häusern, müsste der praktische und billige Bambus als Baumaterial eine größere Rolle spielen, sind sich Experten einig. Auch, weil sich Bambus speziell für erdbeben- und taifungefährdete Gebiete eignet, da er biegsam ist und mitschwingt.

Ein innovatives, soziales Wohnbauprogramm auf den Philippinen, das seit 2013 von der Hilti Stiftung gefördert wird, setzt jedenfalls auf das Naturmaterial. Für das Projekt „Base Bahay“ suchte man eine praktikable Baulösung, die leistbares und katastrophensicheres Wohnen vereint. Entwickelt wurde ein kleines Haus mit zwei Zimmern, Bad und Außenküche. Für die stabile und feuerfeste Konstruktion kombinieren die Entwickler Bambusrohre mit Zement. Mehr als 600 dieser Bambus-Häuser wurden im Inselstaat bereits gebaut. Für die nächsten fünf Jahre sind sogar 12.000 Häuser geplant. Davon profitieren nicht nur die Bewohner: Von der Ernte des Bambus über den Transport bis zur Verarbeitung bleibt die Wertschöpfung im Land.

Das andere Holz

Auch in europäischen Häusern und Büros trifft man hin und wieder auf Bambus. Etwa als Bodenbelag: Im Mercedes Museum Stuttgart etwa wurden 7.000 Quadratmeter Bambusparkett verlegt, erzählt Scheufele. „Da Bambusparkett härter ist als Holz, ist es für Fußböden und Dielen im Innen- und auch im Außenbereich geeignet.“ Richtig viel Bambus am Stück können Besucher des Madrider Barajas Flughafen bewundern: Dort wurde die Bambusart Moso für eine Deckenkonstruktion von 200.000 Quadratmeter Fläche verwendet.

Hin und wieder taucht der gräserne Rohstoff auch im Straßenverkehr auf: Das Kieler Unternehmen My Boo ist auf Bambusräder spezialisiert, die es auch in Österreich verkauft. Als My Boo vor fünf Jahren frisch auf den europäischen Markt kam, war man aufgrund des exotischen Materials „noch mit viel Skepsis“ konfrontiert, erzählt der Marketingverantwortliche Felix Habke, „wir mussten damals viel Aufklärungsarbeit bei Händlern und Kunden leisten.“ Mittlerweile sei Bambus in der Branche anerkannt, denn es überzeuge mit der Stabilität von Stahl und der Leichtigkeit von Aluminium. Die Kunden würden auch den sozialen Mehrwert schätzen: My Boo kooperiert mit einem Sozialunternehmen in Ghana, das die Rahmen aus lokalem Bambus herstellt.

Exklusives Bambusrad

40 junge Männer kleben, schleifen und lackieren die Rahmen, haben dadurch „fair bezahlte Jobs mit Perspektive“, so Habke, zusätzlich fließen Erlöse in Schulbau- und Bildungsprojekte. In Deutschland werden die Rahmen zu Edelfahrrädern (ab 1.499 Euro) montiert. Mit der Verkaufszahl im vierstelligen Bereich pro Jahr sei man zufrieden, so Habke, Bambusräder seien zwar eine Alternative zu einem konventionell produzierten Fahrrad, aber eben ein Nischenprodukt.

Im Trend

Wer genauer hinsieht, wird eine ganze Reihe von Produkten aus Bambusholz, -extrakten oder -fasern in Super- und Drogeriemärkten sowie Reformhäusern finden. Dazu zählen Schneidbretter und Wattestäbchen, Pflaster und Spültücher, Socken, Duschgels und Stilleinlagen. Erst kürzlich hat der Colgate-Konzern eine Zahnbürste aus Bambus vorgestellt – bislang war dies ein Produkt eher kleinerer Anbieter.

Zahnbürsten, Pflaster, Helme: Neue Produkte aus Bambus

Bambus wird dabei als umweltfreundliche Alternative zu Baumholz und auch zu Kunststoff vermarktet. Es spricht einiges dafür: Bambushalme sind in längstens sieben Jahren erntereif, während Laubhölzer mehrere Jahrzehnte benötigen. Und während für einen abgeholzten Baum erst einmal ein neuer gesetzt werden muss, können in nachhaltig bewirtschafteten Wäldern und Plantagen jedes Jahr gut ein Viertel der Bambushalme geschlägert werden – ohne dass sich der Bestand verkleinert. „Hinzu kommt, dass Bambus deutlich mehr Kohlendioxid speichert und mehr Sauerstoff produziert als ein junger Wald“, so Scheufele.

Zurück zur Natur

Wattestäbchen, Pflaster und Zahnbürsten aus Bambus seien zudem so rasch biologisch abbaubar, dass sie sogar im Biomüll oder am Komposthaufen entsorgt werden dürfen, behaupten einige Hersteller. Wobei bei den Zahnbürsten meist gilt, nur den Griff, nicht aber den Borstenkopf der Natur zu überlassen.

Allerdings halten Bambusprodukte nicht immer das Versprechen der heilen Welt: Ein Test der Verbraucherschutzorganisation Stiftung Warentest im Sommer 2019 zeigte, dass wieder verwendbare Bambuskaffeebecher nicht das reine und nachhaltige Produkt sind, das sich umweltbewusste Verbraucher wünschen: Die meisten getesteten Becher enthielten Schad-stoffe, die bei Temperaturen ab 70 Grad Celsius freigesetzt wurden. „Hier waren Anfänger am Werk. Diese Unternehmen haben herkömmliche Chemieprodukte eingesetzt, die sich bei Temperaturen, wie sie Kaffee hat, auflösen“, erklärt Scheufele. „Weil Bambusbecher ein neues Produkt ohne Spezifikationen waren, kommt es dann zu solchen Schlagzeilen“, bedauert er den entstandenen Imageschaden.

Grüne Zukunft

Das Material aufgrund einzelner Vorfälle abzuschreiben, wäre wohl kurzsichtig. Denn Bambus könnte eine vielversprechende Zukunft vor sich haben. Es sei an der Zeit, meint Scheufele, Bambus als Rohstoff für Massenmärkte zu entwickeln und kommerziell besser zu vermarkten. Davon könnten auch viele Ursprungsländer profitieren, in denen Bambus heute meist „wild“ wächst und von Kleinbauern abgeerntet wird. Insbesondere wünscht sich Scheufele, dass Investoren Geld in die Hand nehmen, um auch „schwierigere Produkte“ zu entwickeln – damit beispielsweise Bambus als Ersatz zu technischen Geweben aus Glasfasern verwendet werden kann und auch öfter als Alternative zu erdölbasierten Kunststoffen eingesetzt wird.

Es braucht also noch etwas Bewegung in der Bambusbranche, damit die Pflanze ihrem Beinamen als „Retter des Planeten“ gerecht werden kann. Rasch nach oben wächst sie ohnehin von ganz allein.


Mehr als Pandafutter

Bambus wächst weltweit auf schätzungsweise 32 Millionen Hektar Land. Von den 1.500 bekannten Arten werden rund hundert kommerziell genutzt, darunter Moso aus China und Guadua aus Südamerika. Ein Großteil des in Europa verkauften Bambus kommt aus China. Weitere große Anbauländer sind Indien, Brasilien und Indonesien. In Ländern wie den Philippinen, in Kenia oder in Äthiopien wird Bambus übrigens auch gepflanzt, um karge Böden rasch aufzuforsten und um Ufer und Hänge zu festigen, da die weitreichenden Wurzeln der Pflanze vor Erosionen schützt.

Für das baumähnliche Gras gibt es die unterschiedlichsten Anwendungsbereiche: Bambus wird als Holzersatz für Böden und Möbel, für Sportartikel wie Skateboards und Schistöcke oder für Dekorationsartikel verwendet. Auch Windräder, Baugerüste und die Innenausstattung von Autos und Yachten gibt es in der leichten Bambusvariante. Die Pflanze lässt sich außerdem in Form von Pellets oder Holzkohle energetisch nutzen. Mit Bambuskohle können zudem Wasser gereinigt und Gerüche beseitigt werden. Eingelegte oder gekochte Bambussprossen sind in weiten Teilen der Welt beliebtes „Waldgemüse“, während Bambusblätter für Tee aufbereitet werden. Aus Sprossen und Halmen werden ayurvedische und TCM-Produkte hergestellt. Bambusextrakte finden sich auch in Deodorants, Duschgels und Cremen. Aus Fasern werden Socken, Unterwäsche und auch Pflaster produziert. Die Marktforschungsfirma Grand View Research schätzt den Bambusmarkt auf rund 69 Mrd. Dollar (2018) und rechnet bis 2025 mit jährlichen Wachstumsraten von fünf Prozent.

Baugerüst aus Bambus
Waldgemüse: Bambussprossen
Fotos: Nathan Rupert/Flickr, Hector de Pereda/Flickr, My Boo, Chiangmai Life Architects, Colgate, Patch, Roof, David Boté Estrada/Flickr, Toshiyuki Imai/Flickr