Interview

Ende der Beweisbürde

Ausgabe 83 – September | Oktober 2019

Anit Mukherjee vom US-Think Tank Center for Global Development baute Aadhaar, die biometrische Datenbank Indiens, mit auf. Im Interview erzählt der Politexperte über Meilensteine, Herausforderungen – und Überraschungen.

Anit Mukherjee, Center for Global Development
Anit Mukherjee, Center for Global Development
Aadhaar wurde vor einem Jahrzehnt in Indien eingeführt. Wie hat es das Leben der Inder verändert 

Mukherjee: Vor der Einführung von Aadhaar herrschte in Indien keine Einigkeit darüber, wie eine vertrauenswürdige, zuverlässige und überprüfbare Form der Identifizierung eigentlich auszusehen hat. Die Datenbanken aller größeren Systeme – etwa für Wahlausweise, Lebensmittelkarten oder Führerscheine – wiesen doppelte oder unvollständige Einträge auf. Menschen mussten oft mühevoll beweisen, dass sie tatsächlich sind, wer sie vorgeben zu sein. Dazu mussten sie beglaubigte Kopien von Dokumenten und Verifizierungszertifikate von Strafverfolgungsbehörden vorlegen. Für ärmere Menschen, die beispielsweise ein Bankkonto eröffnen oder eine SIM-Karte registrieren wollten, bedeutete dies eine erhebliche finanzielle Belastung.

Jetzt können sie ihre Identität durch Vorlage eines Ausweises und ihrer Fingerabdrücke nachweisen und unkompliziert ein Konto eröffnen. Aadhaar zeigt große Wirkung: Im Jahr 2014 hatte erst die Hälfte der Inder über 15 ein Bankkonto, heute sind es mehr als 80 Prozent. Viele Sozialleistungen werden nun direkt an die Empfänger überwiesen. Außerdem gibt es in Indien heute mehr als 1,2 Mrd. Mobilfunkanschlüsse – auch dies wurde durch die Aadhaar-Verifizierung von SIM-Karten begünstigt.

Welche Herausforderungen haben sich bei der praktischen Umsetzung gezeigt

Mukherjee: Bei älteren Menschen oder Schwerstarbeitern kann die Möglichkeit der biometrischen Erfassung von Fingerabdrücken beeinträchtigt sein. Auch kulturell-traditionelle Barrieren können den Registrierungsprozess erschweren, etwa wenn es Frauen nicht erlaubt ist, fotografiert zu wer- den oder mit Männern außerhalb ihrer Familie in Kontakt zu treten. Und unter schwierigen klimatischen Bedingungen kann es schon mal vorkommen, dass die anspruchsvolle technische Ausrüstung streikt.

Was können andere Entwicklungsländer von Aadhaar lernen?

Mukherjee: Man kann einige Lehren daraus ziehen. Positiv an Aadhaar ist beispielsweise, dass es zwar eine hochtechnologische Lösung ist, diese aber tatsächlich darauf abzielt, echte Probleme von Menschen, insbesondere der Armen und Ausgegrenzten, zu lösen. Für den Erfolg von Aadhaar war außerdem eine starke Führung ausschlaggebend. Nicht nur vom technischen Team, sondern seitens der höchsten Regierungsebenen. Denn das Fehlen eines Identitätssystems ermöglicht Korruption auf allen Ebenen und schafft Eigeninteressen, die die besten Absichten zunichte machen können. Indien gelang es, diese einzudämmen, indem es Aadhaar rasch einführte, damit Governance und öffentliche Services verbesserte, Ergebnisse präsentierte und Menschen von den Vorteilen eines vertrauenswürdigen Identitätsnachweises überzeugte. Aadhaar hat aber auch Nachteile: Es setzt auf ein sehr ausgeklügeltes System der biometrischen Online-Authentifizierung. Da kann es schon zu Authentifizierungsfehlern aufgrund von Problemen mit der Datenkonnektivität, dem Netzwerk oder durch Probleme bei der Erfassung von Fingerabdrücken und Iris kommen. Digitale Systeme können außerdem Bedenken im Hinblick auf Datenschutz und Privatsphäre hervorrufen. Zudem verfügt nicht jeder Mensch über die digitale Kompetenz, um beispielsweise auf das Bankkonto via Handy zuzugreifen. Regierungen und Planer müssen bei der Entwicklung technologisch fortschrittlicher Anwendungen auf all diese Einschränkungen achten – das gilt aber nicht nur für Entwicklungsländer.

Hat sie etwas überrascht?

Mukherjee: Ich war erstaunt, wie viele Menschen ihr eigenes Geburtsdatum nicht kannten. So viele Einträge mit der Standard- Syntax „01.01./ca. Jahr“ habe ich nicht erwartet. Manchmal wunderte ich mich dann schon, wie eine Person so alt oder so jung sein kann.

Vielen Dank für das Gespräch!
Foto: Anit Mukherjee

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