Die Corona-Pandemie hat viele globale Trends beschleunigt und so manches Thema in eine neue Perspektive gestellt. Wie können unternehmerische Lösungen zur Bewältigung von globalen Herausforderungen beitragen?
Markus Scholz: Was ich sehe, ist, dass sich Unternehmen heute stärker legitimieren müssen, sowohl in ihren Heimat- als auch in ihren Gastländern. Unternehmen haben einen instrumentellen Grund, sich um Nachhaltigkeitsfragen zu kümmern. Dazu müssen diese besser verstehen, welche konkreten Needs es auf ihren Märkten gibt. Das ist die Voraussetzung, um einen positiven Impact zu erzielen und auch Innovationen zu schaffen, die sie auf den Markt bringen können. Wenn Unternehmen darauf achten, was es an unbefriedigten ökologischen oder gesellschaftlichen Bedürfnissen gibt, können sie weit kommen.
Marcus Handl: In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt, da wir mit dem Verkehr einen Sektor bedienen, der sehr starken Veränderungen unterworfen ist. Wir beobachten, dass die Ansprüche an Verkehrssysteme in den vergangenen Jahren enorm gestiegen sind. Globale Entwicklungen und Trends tragen dazu bei, dass sich neben dem Nutzer- auch das Investitionsverhalten unserer Kunden verändert. Und neu ist, dass sich Technologien, Geschäftsmodelle, aber auch der Wettbewerb selbst in einer beispiellosen Geschwindigkeit verändern. Wir erleben gerade eine tiefgreifende Transformation, die bis hin zu einer Disruption ganzer Sektoren reicht.
Maria Seifert-Gasteiger: Bei weXelerate beschäftigen wir uns genau damit, wie Unternehmen innovativer werden können, und in diesem Zusammenhang ist die Kooperation mit Start-ups ein wichtiger Faktor. Einen Aspekt finde ich sehr spannend: Durch die zunehmende Monopolstellung gewisser Technologien und Technologieplattformen rückt die gesamte Welt viel, viel näher zusammen. Entschließt sich Facebook beispielsweise zu einer Änderung in den Nutzungsbedingungen, dann hat das heute weltweit Auswirkungen. Und Start-ups, egal ob sie in Kairo, in Amsterdam oder in Vancouver sitzen, haben überall die gleichen Chancen und Herausforderungen. Das beeinflusst die Art und Weise, wie unternehmerische Lösungen auf den Markt gebracht werden können.
Unternehmen müssen besser verstehen, was es für konkrete Needs auf ihren Märkten gibt.
Markus Scholz, IBES Tweet
Welche Voraussetzungen braucht es, damit Unternehmen Lösungen für gesellschaftliche Bedürfnisse schaffen können?
Scholz: Bevor ich mich auf Wirtschaftsethik spezialisiert habe, war mein Schwerpunkt Industrial Economics. Es gibt eine klassische Erklärung dafür, weshalb das Silicon Valley so stark ist und warum gerade Holland Tulpen produziert. Eine wichtige Rolle spielen dabei klare Rahmenbedingungen und Transparenz. Es gibt hier nämlich für bestimmte Cluster eine passende Finanzierung und Steuererleichterungen und außerdem Unterstützung durch Forschungseinrichtungen sowie eine entsprechend spezialisierte Zulieferindustrie. Und all diese Faktoren sind auf lange Sicht stabil. Zudem ist der Heimatmarkt einfach stark: Wenn man in den Niederlanden Tulpen verkaufen kann, dann kann man das überall. Unternehmen, die sich in solchen Clustern finden, sind hoch innovativ, weil sie sich gegenseitig befruchten. Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile.
Handl: Unternehmen brauchen passende Rahmenbedingungen, ganz klar. Und wir benötigen Innovation im Unternehmen, aber auch in unserem Umfeld. Eine funktionierende Start-up-Szene spielt daher auch für uns als Industrieunternehmen eine Rolle. Wir brauchen aber sicherlich auch dahingehend Unterstützung, dass wir innovative Lösungen ausprobieren können, idealerweise in Echtzeit. Und es ist wichtig, aus einem starken Heimmarkt zu kommen und dort Lösungen entwickeln und ausprobieren zu können, die man dann in die Welt exportieren kann.
Seifert-Gasteiger: Ich bemühe jetzt ein klassisches Klischee von Start-ups: Auch die Fehlerkultur – wobei ich lieber von einer Kultur des Scheiterns spreche – ist ganz zentral. Es ist ja bekannt, dass gerade in den kontinental-europäischen Ländern anders mit Scheitern umgegangen wird als in skandinavischen Ländern oder in den USA. Und was den weiteren wichtigen Faktor Transparenz anlangt – auch da gibt es Bruchlinien innerhalb Europas: Welche Einblicke und Informationen sind verfügbar, wie transparent laufen Entscheidungsprozesse ab? Und auch das Mindset abseits der harten unternehmerischen Rahmenbedingungen ist wichtig.
Was bringen Start-ups in die Lösung globaler Herausforderungen ein?
Seifert-Gasteiger: Ich habe den Eindruck, dass Start-ups nicht unbedingt in ganzen Wertschöpfungsketten denken. Darum kann nicht erwartet werden, dass sie globale Lösungen bieten. Aber viele Start-ups bringen wichtige Puzzlesteine an unterschiedlichsten Stellen in Wertschöpfungsketten ein, die extrem hohe globale Implikationen haben können. Und da gibt es auch spannende Lösungen in Österreich. Das reicht von Fairfashion Labels über Go Student, die einen Beitrag zu Chancengleichheit im Bildungsbereich leisten, bis zu Bitpanda, die das Banking revolutionieren. Man muss nur ein bisschen genauer hinschauen, um die Beitrage von Start-ups zu global wirksamen Entwicklungen sichtbar zu machen.
Handl: Damit berühren Sie einen wunden Punkt. Denn einerseits hat das relativ kleine Österreich gerade bei Verkehrssystemen eine unglaubliche Dichte an weltweit führenden Unternehmen. Dennoch schafft man es andererseits nicht, so miteinander zu arbeiten, dass wir hier global einsetzbare Lösungen entwickeln können. Das scheitert teilweise daran, dass wir keine Genehmigungen bekommen, um Dinge im Echtbetrieb auszutesten. Und dadurch, dass wir alle im selben, kleinen Markt tätig sind, wetteifern wir natürlich auch um die selben wesentlichen Dinge: Das sind Ressourcen, Mitarbeiter, Start-ups, Förderungen. Also nochmals: Wir haben hier in Österreich eine großartige Chance, globale Lösungen zu entwickeln. Wenn Sie mich aber heute fragen, ob das gut funktioniert, muss ich Ihnen leider sagen: Nein.
Wir erleben gerade eine tiefgreifende Transformation, die bis hin zu einer Disruption ganzer Sektoren reicht.
Marcus Handl, Kapsch TrafficCom Tweet
Scholz: Etwas, das wir aus starken Clustern kennen, ist, dass alle Player, vom Weltkonzern über die Universität bis zum Start-up, einen Shared Purpose, eine gemeinsame große Idee, teilen. Herr Handl, Sie haben gesagt, dass es im Verkehrsbereich ganz spannende Player gibt, die gemeinsam einen globalen Impact erzielen könnten. Woran liegt es, dass sie es nicht schaffen, sich miteinander zu verbinden?
Handl: Österreich müsste für sich definieren: „Wir wollen das weltweit innovativste Land im Bereich Mobilität werden.“ Und um das umzusetzen, wäre eine Bündelung von unterschiedlichen Kräften erforderlich. Dazu brauchen Sie Industrieunternehmen genauso wie Start-ups, Universitäten oder Forschungseinrichtungen. Das Traurige an der Sache ist: Wir haben all die Voraussetzungen dafür. Nur müssen wir heute leider in andere Märkte gehen, um weiterzukommen, weil wir dort mehr Bereitschaft vorfinden, innovative Lösungen zu generieren. Es braucht eben eine Initialzündung.
Seifert-Gasteiger: Ich habe einige Jahre im öffentlichen Verkehrsbereich gearbeitet und den Eindruck gewonnen, dass das Konkurrenzdenken sehr groß ist. Das ist oft kein Miteinander, sondern ein Gegeneinander. Und das hat viel mit Transparenz und ganz besonders mit öffentlichen Aufträgen und Förderungen zu tun. Das hat viele Implikationen in der Praxis. Unternehmen wollen zwar Open Innovation, aber das bedeutet auch die Öffnung des Innovationsprozesses nach außen. Und da gilt oft: Bitte ja nicht mit dem Mitbewerb. Dass das Konkurrenzdenken viel zu groß ist, stellt eine absolute Hürde für Innovation dar. Dazu kommt oft auch das Gefühl, man sei einzigartig mit dem, was man kann und tut, und alle anderen zögen nur Wissen ab. Das erleben wir täglich.
Dass das Konkurrenzdenken viel zu groß ist, stellt eine absolute Hürde für Innovation dar.
Maria Seifert-Gasteiger, weXelerate Tweet
Neues Thema: Welche Relevanz sehen Sie in den Sustainable Development Goals?
Scholz: Die SDG sind zuerst einmal eine politische Vorgabe. Unter den 17 Zielen kann sich ein Unternehmen aussuchen, wo es was am besten beitragen kann oder wo es am wenigsten schädlich sein will. Schafft das bereits einen echten Shared Purpose? Das glaube ich nicht. Nachhaltigkeit wird heute von Unternehmen aber nicht mehr nur als Compliance-, sondern als strategisches Thema wahrgenommen. Was vor dem Hintergrund der SDG, vor allem aber auch der realen Entwicklung klar wird, ist, dass wir nicht mehr wie bisher weiterwirtschaften können. Und dass die notwendige Transformation mit Sicherheit nicht ohne Unternehmen passiert. Wir brauchen diese als aktive Player. Und dieser Verantwortung werden sich die Unternehmen zunehmend bewusst. Wichtig ist die Erkenntnis, dass das eine genuine Verantwortung ist, weil wir ansonsten den sprichwörtlichen Karren an die Wand fahren.
Seifert-Gasteiger: Es gibt viele Start-ups, für welche die SDG selbst der Purpose sind. Und ich habe den Eindruck, dass dies aus voller Überzeugung geschieht. Ich sehe bei den großen etablierten Unternehmen hingegen, dass die SDG noch nicht wirklich verinnerlicht sind. Es gibt zwar mittlerweile fast überall entsprechende Ziele und Berichte, ich sehe aber noch nicht so stark, dass es in den Unternehmen eine wirkliche Transformation auslöst. Wir bei weXelerate wollen mit der Circular Economy Allianz einen Beitrag leisten, dass die Unternehmen hier schneller vorankommen. Ich würde mir wünschen, dass Unternehmen öfter den Blick auf die nächsten zehn Jahre richten und schauen, wie sich die Rahmenbedingungen verändern, die das Geschäftsmodell unter Druck bringen können. Damit würde man viel schneller ein neues Problembewusstsein entwickeln und entsprechend viel Energie in Richtung Innovation lenken.
Handl: Als Unternehmen im Verkehrssektor haben wir keine andere Wahl, als in diese Richtung zu gehen. Die ganze Branche zielt mittlerweile auf Nachhaltigkeit ab. Auch unsere Mitarbeiter erwarten von uns ein entsprechendes Engagement – es entsteht also auch intern Druck. Menschen arbeiten nun einmal gern in Unternehmen, die sich diesen Themen widmen. Können wir es noch besser tun? Natürlich, das ist ein Entwicklungsprozess. Speziell unser Unternehmen ist heute viel stärker gefordert, in die Zukunft zu blicken und sich auch immer wieder neu zu erfinden. Eine Rolle spielt sicher auch die Pandemie. Wir stehen alle vor einer globalen Herausforderung, und wenn wir uns an der Nase nehmen, dann haben wir uns in den vergangenen Monaten mehr auf uns selbst zurückgezogen und weniger vernetzt. Dabei muss diese Kultur des Miteinanders und der Zusammenarbeit neu entstehen, und dafür braucht es auch wieder ein Stück Normalität. Und dann müssen wir durchstarten, keine Frage.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Teilnehmer
Marcus Handl ist Head of Corporate Development beim Mauttechnik- und Telematik-Anbieter Kapsch TrafficCom.
Markus Scholz ist Gründer und Leiter des Institute for Business Ethics and Sustainable Strategy (IBES) und Inhaber der Stiftungsprofessur für Corporate Governance & Business Ethics.
Maria Seifert-Gasteiger ist Chief Innovation Officer bei weXelerate, einem in Wien ansässigen Innovation Hub und Netzwerk für große Unternehmen. Zuvor war Seifert-Gasteiger bei den ÖBB für die Innovationsagenden zuständig.