corporAID: Die aktuelle Debatte um einen Covid-19-Impfstoff ist stark ideologisch aufgeladen. Wie sehen Sie die Rollenverteilung zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor?
Chalkidou: Gerade im Kontext von Covid-19 ist die entscheidende Bedeutung von öffentlich-privaten Partnerschaften deutlich geworden. Die aktuelle Debatte nimmt zum Teil beunruhigende Formen an. Nehmen wir das Beispiel der Operation Warp Speed: Hier ist die US-Regierung eingeschritten und hat gesagt, dass wir – komme was wolle – Ende des Jahres einen Impfstoff haben werden. Das suggeriert den Menschen, dass Regierungen den Privatsektor ersetzen können und umgekehrt. Klar, das finanzielle Engagement der Regierungen im Entwicklungsprozess von Impfstoffen oder der Erforschung neuer Behandlungsmethoden, so wie wir es aktuell erleben, ist beispiellos. Trotzdem lassen sich Produkte nicht in einem Vakuum entwickeln, es braucht das gesamte System: die Infrastruktur, Universitäten und Grundlagenforschung genauso wie gut regulierte Märkte. Pharmazeutische Unternehmen spielen mit all ihren Kapazitäten eine bedeutende Rolle im Entwicklungsprozess von der Forschung und Entwicklung bis zur Produktion und Kommerzialisierung von zugänglichen und innovativen medizinischen Gütern.
Was halten Sie von Forderungen, den künftigen Covid-19-Impfstoff zu einem globalen öffentlichen Gut zu machen, um einen gerechten Zugang zu gewährleisten?
Chalkidou: Diese Diskussion halte ich für irrelevant. Die Fragen des Zugangs und der Preisgestaltung sind natürlich wichtig, aber im Kern sollte es um mehr Transparenz und sorgfältige Prozesse gehen. Und es muss darum gehen, die Vergabe von Aufträgen und Abnahmegarantien an Unternehmen an die Wirksamkeit und Effektivität des Endprodukts zu koppeln. Das ist heute nicht der Fall: Was wir stattdessen erleben, ist eine Art Wettrüsten. Einzelne Länder versuchen, sich genug Impfdosen zu sichern, mit sehr wenig Rücksicht auf die Verteilung von Nutzen und Risiko. Die allgemeine Öffentlichkeit weiß nicht, welche Verträge in diesen Vorabkaufverpflichtungen von verschiedenen Ländern einschließlich der EU-Kommission unterzeichnet wurden. Viele Sorgfaltsprozesse werden aktuell komplett vernachlässigt, und das ist sehr problematisch
Wo müsste man konkret ansetzen?
Chalkidou: Zunächst müssen Staaten den Herstellern klar signalisieren, dass dies zwar eine Ausnahmesituation ist, sie aber letztlich an einem Produkt, das funktioniert, interessiert sind. Und dass eine behördliche Genehmigung als alleiniges Kriterium nicht ausreicht. Wenn ein Impfstoff auf den Markt kommt und die Regulierungsbehörden sagen, er sei sicher und wirksam, bedeutet das nicht automatisch, dass wir ihn alle bekommen sollten. Nationale Regierungen sind verpflichtet, Gesundheitstechnologien eingehend zu bewerten. Neben dem ordnungspolitischen Prozess, bei dem das Preis-Leistungs-Verhältnis eines Produkts geprüft wird, ist auch die vergleichende Wirksamkeit zu berücksichtigen, die das Produkt in einer bestimmten zukünftigen Situation bietet. Das ist unter den gegebenen Umständen natürlich schwierig, denn wir wissen nicht, wo wir in drei oder sechs Monaten stehen werden. Vielleicht gibt es bis dahin ein antivirales Wundermittel, sodass Menschen nicht mehr auf die Intensivstation kommen und tatsächlich gerettet werden. Vielleicht sind aber auch bereits 50 oder 60 Prozent der Menschen in irgendeiner Weise infiziert worden, sodass wir nur die gefährdete Bevölkerung schützen und die Krankenhäuser am Laufen halten, aber uns nicht alle impfen lassen müssen. Was es nun braucht, ist eine transparente Entscheidungsfindung, in deren Rahmen den Unternehmen und der Bevölkerung die Faktenlage und die Endverwendung des Impfstoffs und anderer Produkte klar signalisiert wird. Das bedarf eines ordnungsgemäßen Verfahrens, in dem auf nationaler Ebene evaluiert wird, was unter den gegebenen Umständen bei der Markteinführung dieser Produkte funktioniert. Und mittelfristig muss es darum gehen, funktionierende Märkte zu schaffen, anstatt sich auf bestimmte Produkte festzulegen.
Inwieweit berücksichtigt der Covax-Mechanismus diese Punkte?
Chalkidou: Der Covax-Mechanismus erwähnt diese doppelte Verpflichtung – in einem frühen Stadium für bestimmte Produkte und dann mittelfristig für die Gestaltung eines Marktes für jedes Produkt, das vorab definierte Eigenschaften erfüllt. Aber es fehlt an Details, wie eine Bewertung über die Präqualifikation durch die WHO hinaus aussehen wird. Die WHO-Präqualifikation ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, wie wir 2017 am Beispiel des Dengue-Impfstoffs gesehen haben. Dieser wurde nach WHO-Kriterien vorqualifiziert und dann in Ländern mit einem Dengue-Problem, z.B. auf den Philippinen, beworben. Es stellte sich aber heraus, dass Menschen, die zuvor bereits Dengueviren ausgesetzt waren, eine verstärkte Reaktion entwickeln, was nebenbei bemerkt auch eine Sorge beim Covid-19-Impfstoff ist. Dies hat einige Todesopfer und einen großen Skandal im ganzen Land verursacht. Der Hersteller musste alle Impfstoffe vom Markt nehmen, und in der Bevölkerung wurden allgemein Zweifel hinsichtlich der Sicherheit von Impfstoffen geschürt. Letztlich war es neben dem Verlust von Menschenleben und Vertrauen auch eine Geldverschwendung.
Was sollten wir daraus lernen?
Chalkidou: Dass ein einziger Prozess, der die Wirksamkeit und Sicherheit eines Impfstoffes eng betrachtet, also die kontextspezifischen Alternativen und Unsicherheiten nicht mit einbezieht, nicht ausreicht. Die nationalen Regierungen und die Europäische Kommission müssen über regulatorische Schutzmaßnahmen nachdenken, die über die Marktzulassung hinausgehen. Das Zielprofil der WHO für eine Impfung gegen Covid-19 liegt bei einer Wirksamkeit von mindestens 50 Prozent oder sogar noch darunter. 50 Prozent Wirksamkeit ist wie das Werfen einer Münze. Ich denke, wir brauchen einen unabhängigen Prozess, der die Realitäten berücksichtigt. Das ist nichts Neues! Aber aus irgendeinem Grund wurde angesichts des Notstands alles beschleunigt und auf viele ordnungsgemäße Test- und Evaluierungsinstanzen verzichtet. Jetzt ist es daran, sie wieder einzuführen, denn es wird einen Impfstoff nicht morgen geben. Wir haben also genug Zeit, diese Kompromisse zu überdenken.