Welche Relevanz haben die Sustainable Development Goals SDG für Unternehmen?

Grafenhorst: Die Einordnung der SDG ist für Unternehmen nicht ganz einfach, weil sie auf den ersten Blick mit dem Kerngeschäft wenig zu tun haben. Auch wir haben uns anfangs schwer getan: Zum einen kann natürlich niemand etwas dagegen haben, Armut zu bekämpfen. Zum anderen war es eine große Herausforderung, die Themen der SDG auf das eigene Unternehmen herunterzubrechen und die Brücke vom großen Rahmen zum konkreten Beitrag zu schlagen. Wir haben das heuer ganz gut geschafft, indem wir für unseren Nachhaltigkeitsbericht erhoben haben, wie einzelne Aktivitäten von Greiner in den größeren Rahmen einzahlen. Auf diese Weise lässt sich darstellen, welchen SDG-Beitrag ein Unternehmen leisten kann. Die Verpackungsindustrie ist beispielsweise angesichts der Vermüllung der Meere hier besonders in der Pflicht.

Stettner: Bei Andritz Hydro haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht: Auf der abstrakten Ebene konnten wir mit den SDG erst einmal relativ wenig anfangen. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich aber, dass es eine Vielzahl von Schnittmengen gibt mit Bereichen, in denen wir schon lange tätig sind. Bei der Wasserkraftausrüstung sind das leistbare und saubere Energie, für unser Pumpengeschäft sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen. Bislang haben wir die SDG noch nicht im Nachhaltigkeitsreporting berücksichtigt, aber wie ich höre, soll dies nächstes Jahr passieren. Ich kann nur bestätigen, was gerade gesagt wurde: Dieses Anknüpfen und Hereinholen der SDG in die unternehmerische Realität ist nicht trivial, sondern eine ziemliche Challenge. Man muss seine Stärken und Schwächen identifizieren, Prioritäten setzen und – das ist der zentrale Punkt, der viel zu wenig beleuchtet wird – das Thema auch in einem Innovations- und nicht nur in einem Verantwortungskontext diskutieren, so wie das bei der Nachhaltigkeit lange der Fall war.

Tertschnig: Im Kern sind die SDG der globale Ordnungsrahmen für eine bessere Welt. Die einzelnen Ziele werden dabei als unterschiedlich dringlich und relevant betrachtet. Aber es gibt einen Grundkonsens, dass alle Bemühungen unternommen werden sollten, damit die Welt 2030 tatsächlich so aussieht, wie durch die 17 Ziele beschrieben. Dazu gibt es eine große, effektive, aufwändige und mit sehr viel Commitment ausgestattete globale Maschinerie. In Österreich haben wir den Ansatz gewählt, unsere SDG-Bemühungen nicht zentral zu steuern, sondern in die Verantwortung der einzelnen Akteure zu übertragen – die dabei unterschiedlich effektiv vorgehen. Aber im Wesentlichen sehe ich eine wachsende Dynamik in der politischen Auseinandersetzung mit den SDG. Wirklich überrascht hat mich die Sicht der Wirtschaft, und hier vor allem die Rhetorik der großen internationalen Unternehmensplattformen wie des Weltwirtschaftsrats für nachhaltige Entwicklung WBCSD, der von den SDG als Orientierungsrahmen nahezu schwärmt. Ich hätte erwartet, dass die Wirtschaft vielmehr auf eine Konkretisierung auf nationalstaatlicher Ebene drängen würde.

Peter Stettner, Andritz Hydro

„Der zentrale Punkt der SDG-Debatte ist, das Thema auch in einem Innovations-, nicht nur in einem Verantwortungskon-text zu diskutieren.“

Wie können die SDG mit Unternehmenszielen verknüpft werden?

Grafenhorst: Die Frage ist, auf welcher Ebene Sie ansetzen. Diskussionen in Unternehmen finden relativ selten auf der Metaebene statt, auf der die SDG angesiedelt sind – zumeist geht es um das Tagesgeschäft. Die meisten Unternehmen tragen dort zwar schon lange zu einzelnen SDG bei, es fehlt aber die Herstellung des Bezugs. Und jetzt beides zusammenzubringen, den großen Rahmen und den Beitrag als Unternehmen, ist noch nicht ausreichend gemacht worden.

Tertschnig: Wir haben das erste Mal eine Situation, wo Unternehmen nicht nur gefordert sind, Rechenschaft abzulegen, dass sie keinen Schaden anrichten, sondern eingeladen sind, darzustellen, welche positiven gesellschaftlichen Beiträge sie leisten. Ersteres war ja ein Dilemma der Nachhaltigkeitsdebatte der vergangenen 20 Jahre, die sich im Wesentlichen darauf beschränkt hat, dass Unternehmen entlang sehr unklarer Orientierungslinien argumentiert haben, wie sie Schaden vermeiden. Jetzt haben wir mit den SDG ein attraktives Portfolio, das für faktisch jede unternehmerische Tätigkeit in dem einen oder anderen Punkt relevant ist – sei es als Herausforderung oder als Beitrag, den das Unternehmen leistet. Was ich mich frage, ist: Was bedeutet das für die Strategieentwicklung eines Unternehmens? Wie können sie sich durch die Auseinandersetzung mit den SDG am Markt auszeichnen?

Stettner: Wir begrüßen, dass es mit den SDG einen Rahmen gibt, anhand dessen von den Regierungen bis zu Unternehmen die gleichen Ziele verfolgt werden. Ein solches gemeinsames Handeln kommt einem Unternehmen wie Andritz Hydro in jedem Fall zugute. Lassen Sie mich das an einem Beispiel festmachen: Als Lieferant von Ausrüstung werden wir erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt in Wasserkraftprojekte involviert. Wenn sich dann herausstellt, dass ein Projekt nicht ganz sauber zustande gekommen ist, haben wir als einzelnes Unternehmen nur eingeschränkte Möglichkeiten, dieses in eine nachhaltige Richtung zu bringen. Darum haben wir schon früh auf branchenweite Zusammenarbeit gesetzt, um einen für die gesamte Industrie einheitlichen Rahmen zu Nachhaltigkeit und Antikorruption zu schaffen. Die SDG bilden dafür ein noch breiteres Dach.

Grafenhorst: Als Kunststoffunternehmen müssen wir hier einen Schritt weiter gehen, denn unsere Branche steht vor einem fundamentalen Umbruch. Und wenn man diesen Umbruch nicht als Chance begreift, dann kann das kritisch werden. Es geht also darum, uns so neu aufzustellen, dass wir unsere Produkte positiv besetzen und noch klarer herausarbeiten können, welche zukunftsfähigen Möglichkeiten sich durch Kunststoff ergeben. Natürlich haben wir uns auch in der Vergangenheit tagtäglich mit Themen wie Emissionen oder Ressourceneffizienz auseinandergesetzt. Neu ist, dass eine holistische Perspektive gefordert ist, und wenn man als Unternehmen hier keine Antworten findet, wird es schwierig. Die Kunst liegt darin, nicht mehr punktuell Aktivitäten zu setzen, sondern wirklich alte Entscheidungsmuster zu überdenken.

Stefan Grafenhorst, Greiner

„Die Kunst liegt darin, nicht mehr punktuell Aktivitäten zu setzen, sondern wirklich Ent-scheidungsmuster zu überdenken.“

Welche Rolle kommt hier der Politik zu?

Tertschnig: Die staatliche Herausforderung bei der Umsetzung der SDG liegt darin, Rahmenbedingungen zu setzen, und nicht darin, den einzelnen Zielgruppen konkret vorzuschreiben, was sie tun sollen. Das deckt sich mit dem Grundverständnis der Agenda 2030, dass es zwar ein Commitment der Staaten gibt, dieses aber alle Akteure einer Gesellschaft mit einschließt. Was kann der Staat tun? Er kann Schwerpunkte setzen, weil er Opportunities sieht oder weil Lücken geschlossen werden sollen. Hier sollten Politik und Verwaltung sowohl Orientierung als auch Sicherheit schaffen. Und ein Narrativ entwickeln, das die Komplexität des Themas herunterbricht und erklärt, warum dieses für bestimmte Anspruchsgruppen relevant ist und wie sich das mit ihrer Lebens- und Businessrealität in Einklang bringen lässt. Da passiert zu wenig. Das ist eigentlich paradox angesichts einer Agenda, die heute jedem in weiten Strecken als selbstverständlich erscheint und mit der man sich ohne viel Nachdenken gerne und auch authentisch identifiziert. Unternehmen sind im Kontext der SDG-Umsetzung nicht diejenigen, die es zu überzeugen gilt oder die Probleme bereiten, sondern Partner.

Grafenhorst: Einerseits könnte die Politik eine stärkere aktive Rolle spielen. Andererseits sollten wir vorsichtig sein mit Forderungen an die Politik, solange wir als Unternehmen noch unsere Hausaufgaben zu erledigen haben, etwa – wie gesagt – bei der Integration der SDG in Unternehmensentscheidungen oder bei der Zusammenarbeit innerhalb der Branche. Hier rücken wir in der Industrie gerade zusammen und arbeiten viel stärker in Wertschöpfungsketten, um Probleme zu lösen. Das ist ein großer Schritt, denn früher hat jeder vor sich hin gewerkelt. Natürlich kann smarte Regulierung Unternehmen helfen, in die richtige Richtung zu gehen. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass es durchaus Regulierungsrahmen gibt, die aber aus den 1970er Jahren stammen, als Themen wie Kreislaufwirtschaft keine Rolle spielten.

Stettner: Für mich steht hier nicht die unmittelbare Interaktion zwischen Politik und dem einzelnen Unternehmen im Vordergrund. Vielmehr geht es um politische Signale und Stabilität auf der Makroebene. Gerade im Bereich Wasserkraft ist das ein großes Thema, weil der Return on Investment von Kraftwerken langfristig ist. Der Ausbau von Erneuerbarer Energie ist stark subventionsgetrieben, und die europäischen Staaten haben hier, jeder für sich, ganz Unterschiedliches in unterschiedlicher Geschwindigkeit gemacht, und ständig etwas anderes. Das ist für unsere Branche Gift. Bis 2050 CO2-neutral werden zu wollen, ist ein starkes Statement, um dieses Ziel aber effizient zu erreichen muss man klären, wo die Reise hingeht. Und darauf muss man sich dann auch verlassen können.

Wolfram Tertschnig, BMNT

„Unternehmen sind im Kontext der SDG-Umsetzung nicht diejenigen, die es zu überzeugen gilt oder Probleme bereiten, sondern Partner.“

Tertschnig: Es ist sicher eine große Herausforderung, und mitunter liegt noch ein gewisser Weg vor uns, politische Entscheidungen mit langfristiger und transformativer Wirkung zu fällen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Förderpolitik, wo nachhaltigere Ansätze in fast allen Bereichen quantitativ immer den Kürzeren gezogen haben. Die Relationen sind zum Teil ziemlich krass. Förderungen sind aber immer nur das zweitbeste Mittel, denn sie kompensieren ein Versagen in einem anderen Bereich. Und dementsprechend ist eine reichhaltige Förderlandschaft eine Überbrückungshilfe, um eine Entwicklung in eine bestimmte Richtung zu begleiten, sollte aber kein dauerhafter Zugang sein.

Vielen Dank für das Gespräch!


DIE GESPRÄCHSTEILNEHMER

Wolfram Tertschnig, Stefan Grafenhorst und Peter Stettner (v.l.n.r.)

Wolfram Tertschnig leitet die Abteilung für Nachhaltige Entwicklung und natürliche Ressourcen im Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus.

Stefan Grafenhorst ist Nachhaltigkeitsverantwortlicher beim Kunststoffverarbeiter und Schaumstoffproduzenten Greiner.

Peter Stettner ist seit 25 Jahren für den Turbinenhersteller Andritz Hydro tätig und verantwortet den Bereich Marktstrategie.

Fotos: Mihai M. Mitrea