Der Kugelschreiber, mit dem am 26. September 2016 Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos und der Anführer der linksextremistischen FARC-Rebellen Rodrigo Londoño alias Timochenko nach jahrzehntelangem Konflikt einen Friedensvertrag unterzeichneten, war aus einer Gewehrkugel gefertigt. Waffen sollten zukünftig zu Schreibgeräten werden, der Vertrag den Beginn einer neuen Ära markieren – nach Jahrzehnten der Gewalt, die große Teile des Landes lahmgelegt hatte.
Der Friedensprozess, der in den späten 2010er Jahren seinen Anfang nahm, stellte für den 50-Millionen-Einwohner-Staat eine entscheidende Wende dar. „Er hat Kolumbien eine Öffnung gebracht, die den Aufschwung befeuerte“, sagt der österreichische Wirtschaftsdelegierte in Bogotá, Andreas Schmid. Die Direktinvestitionen aus dem Ausland spiegeln die durchzogene Entwicklung wieder. Im Jahr 2010 lagen sie noch bei 6,4 Milliarden US-Dollar, bis 2023 kletterten sie auf einen Rekordwert von 17,5 Milliarden US-Dollar. Allerdings flossen die Gelder – vor allem aus den USA und Spanien – zuletzt primär in den Rohstoffsektor. Bei Anlageinvestitionen kam es zu einem massiven Einbruch. Was das Land dabei vor allem bräuchte, wären Impulse für die industrielle Entwicklung. „Weil Kolumbien so lange abgeschottet war, konnte es keine wettbewerbsfähige Industrie entwickeln“, sagt Schmid.
Kolumbien präsentiert sich heute als ein Land, das nach jahrzehntelanger Stagnation verlorene Zeit aufholen will. Ein ambitionierter Masterplan für die Infrastruktur mit einem Volumen von mehr als 60 Mrd. USD bis 2035 stellt Akteuren aus dem Ingenieurs- und Bauwesen interessante Betätigungsfelder in Aussicht. Unter anderem sollte eine bessere Anbindung der Metropolen im Landesinneren, Bogotá und Medellín, an die Häfen am Atlantik und Pazifik geschaffen werden. 7.000 Kilometer neue Autobahnen sind geplant. Gustavo Petro, der seit August 2022 als erstes linkes Staatsoberhaupt in der Geschichte Kolumbiens die Geschicke des Landes leitet, setzt zusätzlich neue Akzente: Er will nicht nur den Auto- und Lastwagenverkehr fördern, sondern auch den Schienenverkehr ausbauen. Sehr am Herzen liegt ihm zudem der neue Klimaplan, demgemäß die Emissionen bis 2030 um 51 Prozent gesenkt werden sollen. Kolumbien soll grüner und dazu etwa in den Amazonas-Regionen die Abholzung sowie die Erdöl- und Kohleförderung gestoppt werden. Dabei machen Erdöl und Steinkohle derzeit etwa die Hälfte der kolumbianischen Exporte aus.
Schmid kann diesen Trends Einiges abgewinnen, er sieht Anknüpfungspunkte für die österreichische Wirtschaft und betont: „In Bereichen wie Mülltrennung, Recycling oder Abwasserbehandlung gibt es in Kolumbien enormen Handlungsbedarf. Hier sind unsere Firmen sehr gut aufgestellt.“ Seit zehn Jahren erleichtert ein Freihandelsabkommen mit der EU Unternehmen aus Europa den Markteintritt in Kolumbien. Dazu können sich Exporteure aus Österreich ihr Exportgeschäft von der Oesterreichischen Kontrollbank aktuell vollständig absichern lassen.
Lohnende Ausdauer
Derzeit gibt es 37 Niederlassungen österreichischer Unternehmen in Kolumbien. Einige mischen bei Projekten der öffentlichen Hand mit. Die Strabag etwa errichtet und betreibt als Teil eines Konsortiums eine Autobahn, die Medellín besser mit dem Umland verbindet. Bei Wasserkraft ist der Großkonzern Andritz Marktführer. Die Doppelmayr Gruppe, seit 2005 in Kolumbien tätig, hat in Bogotá bereits eine Seilbahn errichtet und baut derzeit zwei weitere Gondelbahnen, um schwer zugängliche Stadtteile besser an den öffentlichen Verkehr anzubinden. „Es ist deutlich zu erkennen, dass Kolumbien konsequent das Ziel verfolgt, abgelegene Stadtteile besser an das Zentrum anzubinden, um die Lebensqualität für die Bewohner zu erhöhen“, sagt Unternehmenssprecherin Julia Schwärzler.
Zu den jüngeren Ansiedlungen zählt die Wietersdorfer Gruppe aus Klagenfurt, sie übernahm im August 2023 den Produktionsstandort der O-tek Internacional S.A.S. in Kolumbien. Die Firma stellt glasfaserverstärkte Kunststoffrohre her, die bei Infrastrukturprojekten im Trink- und Abwasserbereich eingesetzt werden. Wietersdorfer hat auch Standorte in Mexiko und Argentinien ganz oder teilweise übernommen. „Im Trink- und Abwasserbereich, aber auch im Bereich der Wasserkraft bietet der lateinamerikanische Markt ein riesiges Potenzial“, sagt Michael Junghans, CEO des Unternehmens. „Nur die Hälfte der lateinamerikanischen Haushalte sind an entsprechende Kanal- und Abwassersysteme angeschlossen, und 30 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Große Infrastrukturprojekte sind die Folge. Hinzu kommt, dass sich durch die Verlagerung der Produktionskapazitäten von China zurück nach Nord- und Südamerika weitere Marktpotenziale auftun.“
Der Wirtschaftsdelegierte Schmid sieht in dem Schritt, über den Kauf lokaler Firmen an die Märkte in Süd- und Mittelamerika heranzurücken, ein erfolgversprechendes Vorgehen: Kolumbien ist aufgrund seiner zentralen Lage und seinen Zugängen zum Atlantik und Pazifik ein gutes Absprungbrett.
Sprungbrett in die Region
Doppelmayr ist ein Beispiel hierfür. Sprecherin Schwärzler bestätigt, dass für ihren Konzern „Referenzanlagen, die den erfolgreichen Betrieb von Seilbahnen erlebbar machen, neben anderen Komponenten wie Know-How und Kundenbetreuung Treiber für neue Projekte“ sind, auch in der weiteren Umgebung. So errichtet Doppelmayr auf der Karibikinsel Dominica derzeit eine Umlaufseilbahn, mit einer Länge von 6,6 Kilometern die weltlängste ihrer Art. Bei der Erarbeitung des Konzepts waren aus Österreich die Input Projektentwicklungs GmbH und das Ingenieurbüro Outdoors Engineers AG mit an Bord. Die 10er Gondelbahn führt in einem Nationalpark zur zweitgrößten Thermalquelle der Welt. Bisher war der „Boiling Lake“ nur über eine siebenstündige Wanderung erreichbar, die kuppelbare Gondelbahn verkürzt die Anreise auf schlanke 20 Minuten.
Der Wirtschaftsdelegierte Schmid, der seitens der Wirtschaftskammer auch Ansprechpartner für die Karibikregion ist, sieht im Tourismussektor generell gute Chancen für österreichische Unternehmen: „Für die Dominikanische Republik ist der Sektor schon lange eine stabile Einnahmequelle, und auch in Jamaika steigen die Ankünfte.“ Damit einher gehe etwa auch ein wachsender Bedarf im weiteren Umfeld, von effizienter Abfallwirtschaft bis zu umweltfreundlicher Energiegewinnung.
Neuer Stern
Auf ein Land in der Region möchte Schmid aber besonders verweisen: auf Guyana. „Das ist ein Shootingstar, der durch die Decke geht“, betont er. Ölfunde lassen das einstige Armenhaus des Kontinents, das zu 85 Prozent mit Regenwald bedeckt ist, gerade neuen Wohlstand verkosten. Guyana erreichte im Jahr 2022 ein Wirtschaftswachstum von 62,3 Prozent und im Jahr 2023 waren es immer noch 37,2. Im vergangenen Jahr förderte Guyana rund 642.000 Barrel Öl pro Tag. Zu den Abnehmern zählt auch Österreich. 2023 importierte Österreich Öl aus Guyana im Wert von 382 Millionen Euro.
Das kleine Land ist derzeit stark umworben. Mit dem US-Konzern ExxonMobil, der die Reserven gefunden hat, ist die USA im Spiel. Großbritannien hat als ehemalige Kolonialmacht ebenfalls einen Fuß in der Tür, und wegen einer großen indischstämmigen Bevölkerung unter den rund 800.000 Einwohnern bestehen auch nach Indien viele Verbindungen. „Bei den EU-Ländern habe ich den Eindruck, dass sie noch gar nicht mitbekommen haben, was sich da abspielt“, sagt Schmid. Bisher sei nur eine EU-Delegation im Land vertreten, ansonsten gebe es bei der diplomatischen Präsenz der Mitgliedstaaten reichlich Luft nach oben.
Die Wirtschaftskammer arbeitet nun daran, österreichische Firmen nach Guyana zu lotsen. „Das Land weiß, dass sowohl Angebot wie Nachfrage von Öl begrenzt sind. Deshalb sollen massive Investitionen in Erneuerbare Energien fließen. Im Bereich Wasserkraft gibt es ein enormes Potenzial“, berichtet Schmid. „Und auch die Landwirtschaft, die Guyana bisher geprägt hat, will man weiter fördern.“
Eine österreichische Firma ist im Boomland bereits tätig: Vamed errichtet hier zwei große Spitäler. Andere Projekte sind in Vorbereitung und noch nicht spruchreif, so Schmid. „Wir waren letztes Jahr mit einer Wirtschaftsdelegation vor Ort und bleiben am Ball.“
Unbequeme Lage
Mit Venezuela haben allerdings sowohl Guyana als auch Kolumbien einen mehr als unbequemen Nachbarn. Machthaber Nicolás Maduro, der das ölreiche, aber fast vollkommen abgewirtschaftete Land mit eiserner Hand führt, bedrängt das erfolgreiche Guyana nun mit Gebietsansprüchen, Kolumbien hat er fast drei von insgesamt sieben Millionen venezolanischen Flüchtlingen beschert.
Darüber hinaus weist Kolumbien trotz reicher Ressourcen und geschäftiger Städte noch immer eine hohe Armutsquote auf. Laut den zuletzt verfügbaren Zahlen der Weltbank für das Jahr 2022 sind 34,8 Prozent der Kolumbianer als arm einzustufen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor, schlägt sich als Tagelöhner, Straßenhändler oder mit kleinen Lebensmittelgeschäften durch. Präsident Gustavo Petro, Ex-Guerrillero und ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, will nun umverteilen und hat gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft eine Steuerreform verabschiedet. Für Firmen wurde die Körperschaftssteuer auf 35 Prozent angehoben und für Dividenden müssen 20 Prozent Abgaben gezahlt werden. Allerdings ist Petros Koalition und damit seine Parlamentsmehrheit mittlerweile zerbrochen. Die Mitte-rechts Parteien, die viele große Städte regieren, stellen sich gegen den Linkskurs.
Viel wird davon abhängen, inwieweit das linke und rechte politische Lager es schaffen, künftig zusammenzuarbeiten. Verglichen mit den Nachbarn sind die Sorgen Kolumbiens aber gering – neben dem verfallenden Venezuela im Osten wird im Westen Ecuador unter der Gewalt der ausufernden Drogenkriminalität zerrieben. Kolumbien, einst der gefährlichste Brennpunkt in der Region, zeigt sich nun bei allem politischen Hader relativ stabil.
Kolumbien ist nach Brasilien das bevölkerungsreichste Land Südamerikas, das dünn besiedelte Guyana hingegen ist wirtschaftlich der Überflieger.
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