Leitartikel

5 vor 12

Christoph Eder, corporAID

Ausgabe 101 – Winter 2023/24

Angesichts des steigenden Fachkräftemangels setzt Österreich auf qualifizierte Zuwanderung. Im internationalen Wettbewerb um die richtigen Hände und Köpfe sind wir allerdings nur überschaubar gut aufgestellt.

Eder
Christoph Eder, Chefredakteur

Mit dem demografischen Wandel ist es ein wenig wie mit dem Klimawandel. Das Phänomen als solches ist seit Jahrzehnten bekannt, Ursachen und Auswirkungen sind weitgehend erforscht, das Thema hat es vom Expertendiskurs in das allgemeine Bewusstsein geschafft – und doch hat man den Eindruck, dass die auf dem Tisch liegenden Antworten und Strategien der Situation nur bedingt angemessen sind. Das verwundert, denn bei beiden Themen haben kleinere und größere Folgen mittlerweile den Alltag der Menschen in Österreich erreicht. Und man kann konstatieren: Der Leidensdruck nimmt zu.

Während der Klimawandel inzwischen vielfältig und unmittelbar greifbar ist, gilt das für den demografischen Wandel erst seit kurzem. Bislang trat letzterer eher abstrakt in Erscheinung, beispielsweise als Diskussion zur langfristigen Finanzierbarkeit des Pensionssystems. Mittlerweile manifestiert er sich aber als handfester Fachkräftemangel, der immer mehr Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft immer fester im Griff hat. In Österreich gelten heute rund 200.000 Stellen als unbesetzt. Und ein Blick in die Zukunft zeigt, dass die Situation nicht besser werden wird. Denn laut Statistik Austria wird die Anzahl der erwerbsfähigen Personen in Österreich bis 2040 um fast 250.000 sinken.

Die Lücke zwischen Arbeitskräfteangebot und -bedarf wird also immer größer. Die Experten sind sich einig: Die Lösung liegt in qualifizierter Zuwanderung. Österreich ist hier nicht allein. Die meisten europäischen Staaten stehen vor einer ähnlich gelagerten Herausforderung. Das mag einerseits beruhigen, weil gemeinsame europäische Lösungen eine relevante Rolle spielen werden. Andererseits steht Österreich damit in einem Wettbewerb um die richtigen Hände und Köpfe. Und für diese sind wir nur überschaubar gut aufgestellt.

Denn auch wenn in den vergangenen Jahren von der Austrian Business Agency bis zur Wirtschaftskammer Österreich einschlägige Initiativen gestartet wurden – es gibt viel Luft nach oben: Vergangenes Jahr kamen rund 6.200 Fachkräfte mit einer Rot-Weiß-Rot-Karte nach Österreich. Ein aktuelles Abkommen mit den Philippinen strebt die Rekrutierung von 400 Personen pro Jahr an. Das ist nur ein Bruchteil des Bedarfs. 

Um diesen zumindest mittelfristig zu decken, benötigt Österreich einen größeren Wurf – eine echte Strategie. In einer solchen muss die Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle spielen. Denn diese kann international zur systemischen Weiterentwicklung von Berufsbildung beitragen und damit Qualifizierungsangebote skalieren, was sowohl das Fachkräftepotenzial erweitert als auch einem Brain Drain vorbeugt. Diese Rolle der Entwicklungszusammenarbeit wird in Österreich heute – anders als in anderen europäischen Ländern – zu wenig gesehen. Das sollten wir schleunigst ändern, denn wie beim Klimawandel ist es auch beim demografischen Wandel fünf vor zwölf.

Foto: Mihai Mitrea