Leitartikel

Zeitenwende

Christoph Eder, corporAID

Ausgabe 94 – Frühjahr 2022

Christoph Eder, Chefredakteur des corporAID Magazin
Christoph Eder, Chefredakteur

Von einer Zeitenwende sprach der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Ob wir wirklich gerade einen epochalen Umbruch quasi live miterleben, werden wir erst rückblickend wissen. In jedem Fall hat das Wort selbst unmittelbar Eingang in die englische Sprache gefunden, was dann doch auf eine gewisse historische Tragweite schließen lässt.

Auch wenn bei Zeitenwende zumeist an Sicherheits- und Energiepolitik gedacht wird, sind die aktuellen Entwicklungen und deren Folgen weit fundamentaler. Faktisch steht die Globalisierung selbst, die darauf beruht, immer kleinere Produktionsschritte jeweils dort auszuführen, wo das am günstigsten ist, auf dem Prüfstand. Denn diese basiert auf zwei zentralen Voraussetzungen: einer regelbasierten Weltordnung und einer immer effizienteren Logistik. Beide stehen nunmehr zur Disposition.

Für die Industrieländer – also all jene Staaten, die man jetzt wieder den Westen nennt – gehen damit drei Dekaden der Bequemlichkeit abrupt zu Ende. Von Weltordnung bis Klimawandel haben sich unsere demokratischen Gesellschaften mit einer Saturiertheit durchzuschummeln versucht, die Diktaturen weltweit als westliche Dekadenz interpretiert haben. Missinterpretiert haben, wie die geeinte und harte Reaktion auf den fundamentalen Regelbruch durch Putins Russland nun zeigt. Bei letzterer darf es aber nicht bleiben.

Der Westen ist nunmehr gefordert, nicht nur in manchen Politikfeldern lange Versäumtes kurzfristig nachzuholen, wie das im Rüstungs- und Gasbereich angekündigt wurde. Vielmehr braucht es eine umfassende Vision für eine Welt in Frieden, Freiheit und Wohlstand, die auf globale nachhaltige Entwicklung setzt. Dazu gehören nicht nur eine Energiewende, die Klimaschutz mit Sicherheit verbindet, sondern auch neue Partnerschaften, die werte- und gleichzeitig interessengeleitet sind. Mit Entwicklungsländern, nicht zuletzt mit solchen in Afrika. Und mit Unternehmen. Die Zeitenwende wird zu einer Globalisierung führen, die nicht mehr nur wie selbstverständlich passiert und für deren Funktionieren niemand Verantwortung übernehmen möchte, sondern die wo notwendig, beispielsweise bei Energie und Klima, aktiv gestaltet und letztlich auch verteidigt wird – auch wenn das mitunter anstrengend ist.

Österreich ist hier besonders gefordert. Ob bei Sicherheitspolitik, Energieversorgung der Zukunft oder globaler Entwicklung – wir haben uns bislang eher im Trittbrettfahren als am Steuer geübt. Handfeste Partnerschaften mit afrikanischen Ländern gibt es faktisch kaum, und im Bereich der Zusammenarbeit mit afrikanischen Unternehmen steht der neue Kofi Annan Award des Bundeskanzleramts allein auf weiter Flur. Um bei der Logik zu bleiben: Für die Herausforderungen der Zukunft wird ein österreichischer Boutros Boutros-Ghali Preis für grünen Wasserstoff in Nordafrika nicht reichen.

Foto: Mihai M. Mitrea