Reinhard Wolf, Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor der RWA Raiffeisen Ware Austria AG.
Angesichts der Bauernproteste zu Jahresbeginn stellt sich die Frage: Ist Europa wirklich so ein schwieriges Pflaster für die Landwirtschaft?
Wolf: Ja und nein. Europa ist von den Bedingungen her eine sehr fruchtbare Region, unsere Landwirtschaft ist technologisch sehr hoch entwickelt. Wir haben die bestausgebildeten Landwirte der ganzen Welt. Wir sind hier schon auf einem sehr, sehr hohen Niveau. Was die Landwirte in der letzten Zeit zunehmend geärgert hat – und da waren sie vielleicht die Speerspitze für einen guten Teil der Bevölkerung –, ist die Art der Überregulierung, die in Europa Platz gegriffen hat. Man darf nicht vergessen: Landwirtschaft ist das einzige Politikfeld, das auf Ebene der Europäischen Union geregelt wird. Soziales, Gesundheit, Sicherheit, Pensionen sind nationale Hoheitsthemen. Deshalb hat die EU hier sehr viel Einfluss, und es gibt eine Reihe von Rechtsakten, beispielsweise die Farm-to-Fork-Strategie oder den Green Deal, die speziell die Landwirtschaft immer mehr unter Druck setzen. Die Landwirte wollen nichts anderes als eine faire Behandlung – auch mit Blick auf den internationalen Wettbewerb.
Angesichts der multiplen Krisen von der Pandemie bis zum Ukrainekrieg: Wie hat die RWA die vergangenen Jahre überstanden, und ist das Unternehmen für die nächsten Jahre gut aufgestellt?
WolfWir haben die Pandemie gut überstanden. Gemeinsam mit den Lagerhausgenossenschaften ist die RWA ein systemrelevantes Unternehmen. Wir haben das oberste Augenmerk darauf gelegt, die Versorgungssicherheit sicherzustellen, sowohl im Lebensmitteleinzelhandel als auch in der Landwirtschaft, wo es um Futter- und Betriebsmittel und Saatgut ging. Das ist uns gut gelungen. Natürlich hat der russische Angriffskrieg die Energiemärkte durcheinandergebracht, nur normalisiert sich das mittlerweile wieder. Ich glaube aber, dass wir für die Zukunft gut aufgestellt sind, weil wir letztlich Grundbedürfnisse der Menschen befriedigen. 
Wie ist Österreich insgesamt wirtschaftlich aufgestellt?
Wolf: Viel besser, als wir es derzeit von der Medienöffentlichkeit vermittelt bekommen. Österreich steht im internationalen Vergleich noch immer gut da. Es ist ein sicheres Land mit sehr hohen sozialen Standards. Trotzdem dürfen wir nicht übersehen, dass wir Schritt halten müssen mit der Entwicklung, die weltweit stattfindet sowohl in der Produktivität als auch in der Forschung und Entwicklung. Da ist es fünf Minuten vor zwölf, dass wir den Anschluss nicht verpassen. Derzeit sind wir noch in der Lage, aus einer Position der Stärke heraus zu agieren. Und das sollten wir tun! 
Wird unternehmerische Leistung hierzulande honoriert? Oder beobachten wir eine Veränderung in der Leistungsbereitschaft?
Wolf: Ich bin geprägt vom Gedankengut der Genossenschaften. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat uns drei wesentliche Elemente mitgegeben: die Solidarität, die Subsidiarität und die Selbstverwaltung der Organisationen. Die Solidarität ist etwas, das uns als Gesellschaft stark macht. Und da sind wir in Österreich über die Jahre gut gefahren mit einem Sozialstaat, der niemanden zurücklässt. Das beruht aber auf der Subsidiarität. Das heißt, jeder ist auch gefordert, seinen Beitrag zu leisten, und die Gesellschaft greift nur dort ein, wo der Einzelne dazu nicht in der Lage ist. Wir müssen den Menschen womöglich in Erinnerung rufen, dass die Gesellschaft nur funktioniert, wenn der Einzelne auch seinen Beitrag leistet. Bei der Selbstverwaltung geht es darum, dass möglichst autonom in kleinen Strukturen von der Familie bis zur Region die Stärken gestärkt und die Schwächen ausgeglichen werden. Diese drei Elemente haben uns stark gemacht, und auf sie sollten wir uns wieder stärker besinnen.
Ist das Genossenschaftsmodell zukunftsfit?
Wolf: Natürlich muss man sich jeden Tag fragen: Ist das zukunftstauglich? Ich stelle fest, dass wir derzeit eine Genossenschaftsgründungswelle wie schon lange nicht mehr haben. Und zwar in einem komplett neuen Metier: im Bereich der Energie. Es bilden sich Bürgergenossenschaften, die gemeinsam Energie erzeugen und verteilen. Menschen haben ein gemeinsames Bedürfnis, sie setzen das solidarisch um, sie machen das subsidiär, vor Ort, und sie verwalten und organisieren sich selber. Da sieht man, dass der Genossenschaftsgedanke nicht nur hochaktuell, sondern auch zukunftsfit ist.

Der Genossenschaftsgedanke ist nicht nur hochaktuell, sondern auch zukunftsfit.

Wo liegen die Wachstumsmärkte der RWA?
Wolf: Geografisch liegen sie in Südost- und Osteuropa. Diese Region hat noch sehr viel Aufholbedarf im Bereich der Infrastruktur, des Sozialen und eben auch in der Landwirtschaft. Was die Segmente anlangt, ist es nach wie vor das Thema Bau: Man wird anders bauen als ehemals, wir brauchen Wohnraum und wir müssen diesen Wohnraum nachhaltiger machen. Dazu kommt unsere DNA, die Landwirtschaft. Ich sehe auch hier viele Veränderungen, angesichts derer die Landwirte jemanden brauchen, der sie auf diesem Weg begleitet. Ein kleines Beispiel: Vor 25 Jahren wurde in Österreich kaum Soja angebaut. Heute bauen wir 80.000 Hektar Soja an und versorgen uns damit zu einem Stück selbst. Aber dazu braucht es jemanden, der das Saatgut und das entsprechende Know-how zur Verfügung stellt, der die Ernte übernimmt und verarbeitet. Und hier sehe ich für die RWA gute Chancen zu wachsen. 
Wie passen für Sie Nachhaltigkeit und Wachstum zusammen?
Wolf: Die Basis der Genossenschaften ist Nachhaltigkeit. Sie sind so konstruiert, dass sie keinen Gewinn entnehmen, sondern diesen in die weitere Entwicklung des Unternehmens und der Gesellschaft investieren. Das gilt ganz besonders für die Landwirtschaft. Die Landwirte sind die ersten, die spüren, wenn etwas nicht in Ordnung ist mit der Umwelt. Gleichzeitig sehen wir in der Landwirtschaft wie in anderen Wirtschaftsbereichen auch eine rasante technologische Entwicklung, die zu mehr Effizienz und auch zu einem Strukturwandel führt. Dazu haben wir die Verpflichtung, die Bevölkerung mit immer nachhaltiger produzierten, gesunden und leistbaren Lebensmitteln zu versorgen. Das Regime der EU-Agrarpolitik geht ja stark in die Richtung, Subventionen an nachhaltige und ökologische Produktion zu knüpfen. Und wir machen das im Prinzip nicht schlecht, indem der Grundlevel des nachhaltigen Produzierens immer weiter nach oben gefahren wird, und zwar auf eine Weise, dass niemand auf der Strecke bleibt.
Was bedeutet der Klimawandel für die österreichische Landwirtschaft?
Wolf: Ich habe den Eindruck, dass vom Klimawandel weltweit alle ziemlich gleich betroffen sind. Aber die Landwirtschaft ist natürlich der erste Seismograf. Wir bemühen uns, über entsprechendes Know-how die Bewirtschaftung der Felder wasserschonender zu gestalten. Wir beschäftigen uns auch mit der Entwicklung neuer Saatgutsorten, die besonders hitzeresistent sind. Ein Thema, das auf uns massiv zukommt und wo wir zu wenig Antworten haben, ist die Schädlingsbekämpfung. Gerade auch durch den Klimawandel kommen neue Schädlinge auf uns zu, die immer schwieriger zu bekämpfen werden, weil wir im Pflanzenschutz immer mehr Einschränkungen erleben. Und ich bewerte das jetzt nicht, aber wir haben bei den Erdäpfeln, bei der Zuckerrübe oder beim Raps nicht mehr die notwendigen Mittel. Als Konsequenz sind wir beispielsweise bei Kartoffeln nicht mehr Selbstversorger, sondern importieren diese ab März aus Ägypten. Das ist derzeit unser Problem: Niemand verwendet aus Leidenschaft und aus Jux und Tollerei Pflanzenschutzmittel, die kosten sogar ein Schweinegeld. Aber wenn wir so weit sind, dass wir unsere Pflanzen nicht mehr schützen dürfen und deshalb Nahrungsmittel importieren müssen, dann frage ich mich: Ist das nachhaltig?
 
Stichwort Handelsabkommen. Wo sehen Sie die berechtigten Anliegen der Landwirtschaft und wo würde unserer Landwirtschaft mehr Wettbewerb gut tun?  
Wolf: Ich oute mich als Anhänger eines offenen und freien Welthandels. Auch die Landwirte haben per se nichts gegen Handelsabkommen, weil wir alle überzeugt davon sind: Handel ist die Basis, um Wohlstand zu schaffen. Und Wohlstand schafft Frieden. Was wir aber brauchen, sind faire Bedingungen und nicht, dass der eine mit Methoden arbeitet, die der andere nicht einsetzen kann. Ich bin ja kein Gegner des Lieferkettengesetzes. Entschuldigung, welcher vernünftige Mensch ist denn nicht gegen Kinderarbeit? Die Frage ist nur, mit welchen Rahmenbedingungen organisieren wir das? Ich müsste wahrscheinlich mehr als zehn Personen abstellen, um so ein Lieferkettengesetz hier im Haus zu administrieren. Das ist bei Handelsabkommen wie mit Mercosur ähnlich. Ich bin da nicht grundsätzlich dagegen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass importiertes Rindfleisch – und das ist ja der Casus Belli – zu ähnlichen Rahmenbedingungen produziert wird wie in Europa. Aber wenn die Unterschiede so groß sind, wie es derzeit teilweise der Fall ist, dann muss man das in Frage stellen. Grundsätzlich sehe ich Mercosur aber holistischer: Kulturell steht uns Lateinamerika näher als andere Teile der Welt, das spricht schon stark dafür, dass man mehr zusammenarbeite

Wenn wir so weit sind, dass wir unsere Pflanzen nicht mehr schützen dürfen und deshalb Nahrungsmittel importieren müssen, dann frage ich mich: Ist das nachhaltig?

Wie sehen Sie Afrika als Nahrungsmittelproduzenten? 
Wolf: Afrika hat viel Potenzial. Da gibt es extrem fruchtbare Regionen, und ich glaube, Europa sollte sich verstärkt darum kümmern, dass die Landwirtschaft dort ordentlich und effizient aufgebaut wird, und das nicht den Chinesen oder den Arabern überlassen. Gleichzeitig muss ich ehrlich sagen, dass die RWA da nicht nur geographisch schon verdammt weit weg ist. Ich hätte keinen Mitarbeiter, den ich nach Afrika schicken könnte, weil uns letztlich das Know-how fehlt. Ich wüsste auch nicht, mit welchem Saatgut ich dorthin gehen sollte oder wie wir so ein Business organisieren könnten. Aber vielleicht engagiere ich mich hier in meinem zweiten Leben.
Welche Rolle spielen Werte in Ihrem Unternehmen? 
Wolf: Unser Unternehmens-claim lautet: „Werte verbinden uns“, und das kommt nicht von ungefähr. Mir ist es sehr wichtig, wie wir miteinander, mit unserer Umwelt und mit unseren Stakeholdern umgehen. Es ist das Privileg einer Genossenschaft, dass man nicht auf den kurzfristigen Effekt achten muss. Ich verwende gerne ein Zitat: Gemessen wird ein Manager am Ende des Tages nicht am Profit, sondern an der Anzahl der Menschen, aus denen er etwas gemacht hat. Das ist das Wichtige in Unternehmen. Aber um das machen zu können, braucht man wirtschaftlichen Erfolg. 
Worum geht es Ihnen als Manager? 
Wolf: Ich möchte, dass die Menschen, für die ich verantwortlich bin, ob sie hier im Unternehmen beschäftigt oder Mitglied einer Genossenschaft sind, nachhaltig verspüren, dass wir zu ihrem Wohlstand einen wichtigen Beitrag leisten. Und wenn ich das als Manager ein Stück weit orchestrieren kann, dann habe ich einen guten Job gemacht. 
Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Reinhard Wolf64, ist Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor der RWA Raiffeisen Ware Austria AG. Seinen beruflichen Werdegang startete der Agrarökonom 1985 bei der Österreichischen Raiffeisen Warenzentrale in Wien, die später in die RWA integriert wurde. Im Laufe seiner Karriere übernahm der Niederösterreicher verschiedene Führungspositionen im Konzern, bis er im Jahr 2009 zum Vorstandsdirektor der RWA, zuständig für die Bereiche Agrar und Energie, und schließlich im Jahr 2013 zum Vorstandsvorsitzenden ernannt wurde. 

Zum Unternehmen

RWA Campus in Korneuburg

Die RWA Raiffeisen Ware Austria AG mit Sitz in Korneuburg spielt eine zentrale Rolle im agrarwirtschaftlichen Sektor Österreichs. 1993 wurde sie zuerst als Genossenschaft gegründet und übernahm die Aufgaben ihrer Vorgängerorganisationen auf Landes- und Bundesebene. 1998 wurde die gesamte Geschäftstätigkeit auf die neu gegründete RWA Raiffeisen Ware Austria AG übertragen. Diese fungiert als Großhandels- und Dienstleistungsunternehmen und versorgt Lagerhausgenossenschaften in den Bereichen Agrar, Technik, Baustoffe, Bau- und Gartenmarkt, Energie, Dienstleistungen & Services. Die RWA ist außerdem in Kroatien, Serbien, Slowenien, Rumänien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und der Ukraine aktiv. Mit der deutschen BayWa AG bildet der Konzern seit 1999 eine strategische Allianz. Rund 3.000 RWA-Mitarbeiter erwirtschafteten im Jahr 2022 circa vier Mrd. Euro Umsatz.

Fotos: Bernhard Weber