Peter Oswald, MM Gruppe
Peter Oswald, CEO der weltweit tätigen Mayr-Melnhof Karton AG (MM Gruppe)
Man hat den Eindruck, dass seit ein paar Jahren eine Krise in die nächste übergeht. Wie schätzen Sie die Wirtschaftslage ein?

Peter Oswald: Ich befürchte, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass wir in den nächsten Jahrzehnten mit viel niedrigerem Wachstum arbeiten müssen. Zum einen wegen der demographischen Entwicklung, zum anderen, weil das Produktivitätswachstum aus zahlreichen Gründen niedriger sein wird als in der Vergangenheit. Als Unternehmen ist MM im Großen und Ganzen gut durch die Krise gekommen. Es war beeindruckend, wie sich die Mitarbeitenden an die Corona-Situation angepasst haben. Auch wenn wir an unseren Produktionsstandorten, die rund um die Uhr gelaufen sind, oft an der Grenze waren, sind wir eigentlich fast immer durchgekommen. Trotz Versorgungsproblemen – Ersatzteile wurden nicht geliefert, Umbauten haben nicht funktioniert – ist es sich letztlich immer ausgegangen. Dafür hat uns die Energiekrise ziemlich getroffen. Unser Energieeinkauf war Gott sei Dank zum Teil abgesichert, und wir konnten mit den Kunden eine Weitergabe der Kosten verhandeln. Wir haben einen eigenen Gasvorrat angelegt, auch wenn wir gewusst haben, dass das nicht billig wird. Aber damit sind wir jetzt auch mittelfristig auf der sicheren Seite.

Die Ursache der Energiekrise liegt in Russland, das für MM kein unbedeutender Markt war. 

Oswald: Wir haben kurz nach Ausbruch des Krieges entschieden, dass wir uns aus Russland zurückziehen. Das hat uns natürlich stark getroffen: Einerseits hatten wir drei große und profitable Werke in Russland, andererseits war Russland für uns auch ein ganz wichtiger Exportmarkt für Karton, und auch dieses Geschäft war von heute auf morgen weg. Die Werke lieferten ungefähr zehn Prozent unseres Gewinns, und zusätzlich erzielten wir im Kartonbereich rund zehn Prozent unseres Absatzvolumens in Russland. Es wird einem bewusst, dass es nicht egal ist, wo man investiert und von wem man sich abhängig macht. Das muss man sich in Zukunft genauer anschauen!

Es wird einem bewusst, dass es nicht egal ist, wo man investiert und von wem man sich abhängig macht. Das muss man sich in Zukunft genauer anschauen!

Wie sehen Sie Österreich als Standort für einen global aufgestellten Konzern? 

Oswald: Wir haben ein hohes Maß an politischer Stabilität, wobei ich etwas zögere, das zu sagen, weil man das ja aufgrund einer zunehmenden Radikalisierung in der Politik durchaus infrage stellen kann. Aber die Rahmenbedingungen sind der restlichen EU sehr ähnlich. Es ist aber jetzt nicht so, dass ich Hurra schreie über den Wirtschaftsstandort Österreich. Nimmt man das Thema Inflation: Kein anderes Unternehmen in unserer Gruppe ist mit derartig hohen Lohnabschlüssen konfrontiert wie wir hier in Österreich.

Inwieweit haben sich Ihre Märkte durch die Krisen der vergangenen Jahre verändert? 

Oswald: Wir haben uns zuletzt mehr in den Westen orientiert, auch mit unseren Zukäufen. So sind wir in größerem Stil in die Pharmaverpackung eingestiegen, und dort sind die Kernmärkte Westeuropa und die USA. In Bezug auf Emerging Markets bewerten wir politische Stabilität sicherlich höher als noch vor ein paar Jahren. Wir werden weiter in Emerging Markets investieren, ich denke da an asiatische Märkte und auch an Südamerika. Und wir haben Nordafrika am Radar. Es kommt letztlich auf die Gelegenheiten an, die sich dort auftun.

Warum wird Wachstum oftmals vor allem kritisch gesehen?

Oswald: Ja, das ist leider so! Österreich ist ja bekanntlich ein eher technologiefeindliches Land, wo man viel Skepsis hat, dass die Wissenschaft Probleme lösen kann. Und man beschwert sich zwar furchtbar, wenn es keinen Wohlstandszuwachs gibt, aber zur gleichen Zeit ist man wachstumsfeindlich.

Wie gehen Wachstum und Nachhaltigkeit bei Mayr-Melnhof zusammen?

Oswald: Wir haben zwei große Nachhaltigkeitsthemen. Das eine Thema ist Kunststoffersatz. Karton ist ein Produkt, das nicht nur in der Theorie rezyklierbar ist, sondern heute in Europa zu 80 Prozent rezykliert wird – und das mehr als 25 Mal ohne Qualitätsverlust. Damit können wir in vielen Fällen Kunststoff ersetzen. Dessen Recyclingquote liegt in Europa heute unter der Hälfte von Papier, und man tut sich augenscheinlich nicht leicht damit, das deutlich zu verbessern. Nur sehen wir mit der Inflationskrise durchaus einen Rückschritt in Österreich. Im Handel sehen Sie mehr Plastikverpackungen als vor einem Jahr – einfach, weil es billiger ist. Unser zweites großes Thema ist die Reduktion unseres CO2-Fußabdrucks. Wir haben eine ganze Reihe an Projekten laufen, von Photovoltaikanlagen bis zur Anpassung von Produktionsprozessen. In unserem größten Werk in Polen liegt der Anteil der aus erneuerbaren Energieträgern selbsterzeugten Energie bei 69 Prozent. Um unsere wissenschaftsbasierten CO2-Ziele zu erreichen, müssen wir diesen Anteil in Richtung 80 Prozent erhöhen – das kostet, aber es geht.

 

Wenn die Eigentümer dahinterstehen, dann ist das Spannungsfeld zwischen langfristiger Nachhaltigkeit und kurzfristigen Kosten etwas weniger gespannt.

Wie sieht es mit Ihrem Rohstoff – Holz – aus?

Oswald: Ich finde es sehr schade, dass die Europäische Union sich in ihrer Entwaldungsrichtlinie nicht auf das Jahr 1995 als Stichtag bezieht, sondern auf 2020. Das heißt, ich darf auch Holz beziehen, wenn die Urwälder erst in den vergangenen 20 Jahren gerodet wurden. Das ist jetzt sozusagen legalisiert worden. 

Wo liegen die Megatrends in der Verpackungsindustrie?

Oswald: Ganz klar in der Digitalisierung. Wir sammeln heute von der Kartonmaschine bis zur Verarbeitung Daten, um daraus zu lernen und damit Effizienz und Produktqualität zu erhöhen. Auf der Marktseite trägt Digitalisierung dazu bei, dass wir mit den Kunden vernetzt sind. Wir haben im Verpackungsbereich sehr viele sich wiederholende Bestellungen, die heute automatisch eingehen und produziert werden. Wir versuchen, in unserer Branche zu den Fortschrittlichsten zu gehören. Und ich glaube, das sind wir auch, insbesondere was die Einbindung unserer Kunden betrifft.

MM ist weltweit tätig – wo findet Innovation statt?

Oswald: Vor allem in Europa. Wir sind hier einfach größer, und die Verzahnung zwischen Packaging und Karton ist enger. Und Innovation ist zumeist auch durch den Karton getrieben, den wir nur in Europa produzieren. Wir haben aber durchaus in allen Regionen Produktentwickler, wo es dann mitunter weniger um Zusatzfeatures geht als um die Frage: Wie kann ich mit weniger das Gleiche erreichen?

Wie sieht es mit alternativen Rohstoffen wie zum Beispiel Algen aus?

Oswald: Wir haben uns mit Stroh beschäftigt, aber Karton aus Stroh ist noch kein verkaufsfähiges Produkt. Mit Algen experimentieren wir nicht. Aber auch das muss man sich anschauen, es wäre ein Fehler, das nicht zu machen.

MM ist letztlich ein Familienunternehmen. Ist es dort leichter, Nachhaltigkeit voranzutreiben?

Oswald: Ja, es ist definitiv leichter in einem Familienunternehmen. Wenn die Eigentümer dahinterstehen, dann ist das Spannungsfeld zwischen langfristiger Nachhaltigkeit und kurzfristigen Kosten etwas weniger gespannt. Gleichzeitig ist Nachhaltigkeit heute zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir haben heute dafür eine größere Abteilung, was vielleicht vor ein paar Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, aber das Thema ist sehr operativ und faktenbezogen geworden. Heuer mussten erstmals alle Werke Vorschläge zur CO2-Reduktion erarbeiten. Wir haben rund 70 Werke, es gibt jetzt also ebensoviele Konzepte. Das ist schon ein enormer Aufwand.

Rechnet sich das? Oder leisten sich die Eigentümer das?

Oswald: Sagen wir so: Wir könnten mit Nachhaltigkeit gar nicht aufhören, weil unsere Kunden das nicht akzeptieren würden. Ich weiß nicht, wie viel Geschäft wir verlieren würden. Es geht nicht um Kosten-Nutzen-Analyse, es ist unsere Positionierung. 

Wir könnten mit Nachhaltigkeit gar nicht aufhören, weil unsere Kunden das nicht akzeptieren würden. Ich weiß nicht, wie viel Geschäft wir verlieren würden.

Wie haben sich Verantwortung und Nachhaltigkeit in den vergangenen zehn Jahren entwickelt? 

Oswald: Es ist zum Mainstream geworden. Vor zehn Jahren ging es vor allem um Basisarbeit, um die Frage, ob man diese Themen überhaupt braucht oder ob die wieder verschwinden. Oder um die Frage: Okay, das ist etwas für die Großen, aber wie sieht es mit kleinen Unternehmen aus? Das waren die Diskussionen. Heute sind Verantwortung und Nachhaltigkeit fest verankert, wobei es bei manchen kleinen Unternehmen sicherlich noch Luft nach oben gibt. Aber auch hier sind das ganz klar Businessthemen. 

Wie sehr ist Nachhaltigkeit ein Lobbying-Thema? 

Oswald: Leider entwickelt sich Europa immer mehr in Richtung USA, wo es einen teilweise unerträglichen Lobbyismus gibt. Allerdings ist es hier etwas anders, weil Lobbying nicht nur unternehmensgetrieben, sondern auch staaten- und NGO-getrieben ist. Im Endeffekt bekommt man dann Gesetze, die nicht nur dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Die europäische Plastikabgabe ist dafür ein schönes Beispiel – pro Tonne Kunststoff sind das 800 Euro. Deutschland hat es dann im Interesse seiner Chemieindustrie geschafft, dass diese Abgabe nicht von den Herstellern bezahlt werden muss, sondern von den Staaten getragen werden kann. Auch in Österreich zahlt das die Allgemeinheit. Das ist nicht die ideale Welt, die zum Schluss rauskommt. Oder nehmen Sie die Packaging and Packaging Waste Regulation, die jetzt in Ausarbeitung ist, und die vereinfacht sagt: Re-use ist immer besser als recyceln. Das hat einen wahren Kern, aber Re-use führt in vielen Fällen zu mehr Transport, höheren CO2-Emissionen und höherem Frischwasserverbrauch zur Reinigung und wenn man das einberechnet, ist es nicht immer die beste Lösung. Das ist für mich ein typisches Beispiel, wo es ein politisches Mindset für eine Lösung gibt – unabhängig davon, ob diese im Einzelfall zu einem guten oder zu einem absurden Ergebnis führt.

Was macht ein Unternehmen zukunftsfähig?

Oswald: Das ist zum einen die richtige Einschätzung der Zukunft. Dazu braucht es Bescheidenheit und Offenheit, um Megatrends zu erkennen und zu interpretieren. Wir müssen uns beispielsweise in Europa auf eine Wirtschaft einstellen, die in vielen Bereichen schrumpfen wird, einfach weil es aufgrund des demografischen Wandels weniger Menschen geben wird. Das ist ein Paradigmenwechsel, der im Management noch nicht angekommen ist: Wie kann ein Unternehmen ohne quantitatives Wachstum funktionieren? Und zum anderen ist es der Fokus. MM ist ein Ein-Produkt-Unternehmen: Wir machen Karton und Kartonverpackungen und sonst nichts. Da wollen wir Weltmeister sein, und mitunter gelingt uns das auch.

Was treibt Sie als Manager an?

Oswald: Es ist die Gestaltung: Wo investieren wir zu viel, wo zu wenig, wie vermeidet man Fehler und wo nützt man Chancen? Das Ziel ist, das Unternehmen langfristig sicher und attraktiv aufzustellen, mit innovativen und nachhaltigen Produkten, mit zufriedenen Kunden und Mitarbeitern. Und nicht zuletzt stellt man sich immer die Frage, ob man nicht ein wichtiges Thema übersieht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Peter Oswald, 60, ist seit 2020 CEO der Mayr-Melnhof Karton AG mit Sitz in Wien. Der gebürtige Oberösterreicher war zuvor CEO des Verpackungs- und Papierunternehmens Mondi Gruppe, bei dem er ab 1992 bis 2020 tätig war. Oswald absolvierte Studien der Rechtswissenschaften und der Betriebswirtschaftslehre. 

Zum Unternehmen: Kartonmacher von Weltformat 

Kartonmaschine in einem der sechs Karton- und Papierwerke

Die Mayr-Melnhof Karton AG (MM Gruppe) mit Hauptsitz in Wien ist ein weltweit führender Hersteller von Karton und Faltschachteln für Konsumgüter sowie Produzent von Kraft- und Feinpapieren. Die Geschichte des Unternehmens reicht bis ins Jahr 1888 zurück, als es als Holzschleiferei und Wickelpappen-erzeuger in Frohnleiten gegründet wurde. Im Laufe der Zeit hat sich die MM Gruppe zu einem Global Player entwickelt und ist heute in zwei Hauptdivisionen organisiert: MM Board & Paper und MM Packaging. Der Konzern unterhält sechs Karton- und Papierwerke, ein Holzstoffwerk sowie 64 Verpackungsstandorte in Europa, Asien und Amerika. Die Produkte der MM Gruppe finden ihren Weg zu Kunden in über 140 Ländern weltweit. Das börsennotierte Unternehmen befindet sich mehrheitlich im Familienbesitz und erzielte im Jahr 2022 mit rund 15.600 Mitarbeitern einen Umsatz von etwa 4,7 Mrd. Euro.

Fotos: Christoph Eder, MM Gruppe