Wie ist Siemens Österreich für die kommenden Jahre aufgestellt?
Neumann: Siemens Österreich ist global vernetzt und agiert aus Österreich heraus in 25 weiteren Ländern. Es ist deutlich zu spüren, dass große globale Megatrends auch auf Österreich einwirken: der demographische Wandel, die Digitalisierung, der Klimawandel oder die Energieversorgung der Zukunft. Diese globalen Fragen betreffen auch unsere Kunden. Denn letztlich geht es uns als Unternehmen so gut, wie es unseren Kunden geht. In den Bereichen Nachhaltigkeit, Elektrifizierung, effiziente Energieversorgung und Mobilität sehen wir Rückenwind, der uns als Siemens unterstützt. Diese Themen prägen unser Produktportfolio und die Richtung, in die wir uns bewegen. In der Industrie hingegen gibt es eine gewisse Zurückhaltung: Nach einem Aufschwung während der COVID-Krise, als die Industrie stark in Automatisierung und Lagerhaltung investierte, beobachten wir nun eine langsamere Entwicklung, als wir uns wünschen würden.
Wie entwickelt sich Österreich als Standort für internationale Unternehmen?
Neumann: Österreich ist seit 145 Jahren ein Siemens-Standort. Wir sind heute für eine Region verantwortlich, und diese wurde mit dem Ukrainekrieg um die fünf zentralasiatischen Länder erweitert. Das zeigt das Vertrauen, das die deutsche Siemens-Zentrale in den österreichischen Standort hat. Diese Erweiterung war eine Bestätigung unserer Kompetenz und unseres Erfolgs in der Region. Durch die starke wirtschaftliche Entwicklung in vielen der 25 Ländern, die wir betreuen, konnten wir als Region stärker wachsen als Österreich allein. Für den Standort Österreich spielen Faktoren wie Digitalisierung, Energiekosten, Arbeitskosten und die Qualität von Forschung und Ausbildung eine wichtige Rolle. Bei Forschung und Ausbildung sind wir in Österreich gut aufgestellt, aber die hohen Lohn- und Energiekosten belasten die Wettbewerbsfähigkeit. 
Wie schätzen Sie die Leistungsbereitschaft in Österreich ein? Sehen Sie Unterschiede zu anderen Regionen?
Neumann: Leistungsbereitschaft ist für mich ein komplexes Thema, das aus mehreren Faktoren besteht. Der „Mindset“, also die innere Haltung, etwas schaffen zu wollen, ist letztlich entscheidend für den Erfolg. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Fokus auf Stärken: Wer es schafft, seine Stärken zu nutzen und zu multiplizieren, kann große Erfolge erzielen. Schließlich geht es um die Bereitschaft zur Veränderung. Veränderungen geschehen immer, doch heutzutage passieren sie schneller und globaler. Diese Offenheit für Veränderungen ist entscheidend, um Leistung zu erbringen. Wir sehen bei unseren Mitarbeitern eine hohe Leistungsbereitschaft. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, unsere rund 100 neuen Auszubildenden persönlich zu begrüßen, und ich war beeindruckt von ihrem Engagement und ihren klaren Zielen. Diese Generation bringt viel Motivation und Leistungsbereitschaft mit, und das motiviert auch mich persönlich. Unterschiede zwischen den Regionen sehe ich nicht beim Thema Leistung, sondern eher in der Flexibilität. In Ländern wie Bulgarien oder Rumänien werden Dinge oft schneller und pragmatischer angegangen, etwa beim Ausbau der Photovoltaik. Dort ist der regulatorische Rahmen möglicherweise flexibler, was zu einer schnelleren Umsetzung führt. Auch das wirtschaftliche Wachstum in diesen Ländern ist aktuell höher als in Österreich, was positiv für die gesamte Region ist.
Wo sehen Sie die größten Wachstumschancen für Siemens Österreich?
Neumann: Unsere Strategie basiert darauf, die analoge Welt mit der digitalen zu verbinden. Alles, was mit Digitalisierung zu tun hat, bietet enormes Potenzial. Siemens kommt traditionell aus den Bereichen Automatisierung, Elektrifizierung und Mobilität, und diese werden zunehmend digitalisiert. Besonders die Idee des Industrial Metaverse und der digitalen Zwillinge sind hier wegweisend. So können wir Produkte und Prozesse virtuell abbilden und optimieren, bevor sie in die reale Produktion gehen. Auch in der Industrie sehen wir großes Potenzial, etwa in der Kreislaufwirtschaft. Wir arbeiten an Lösungen, die es Unternehmen ermöglichen, ihre Produktionsprozesse effizienter und nachhaltiger zu gestalten.
Wie bringt Siemens Wachstum und Nachhaltigkeit in Einklang?
Neumann: Nachhaltigkeit ist für Siemens ein zentraler Bestandteil unserer Unternehmensstrategie. Mit dem DEGREE-Framework wollen wir Nachhaltigkeit in all unseren Geschäften weltweit fördern. Wir setzen klare Ziele in sechs Handlungsfeldern – Decarbonization, Ethics, Governance, Resource Efficiency, Equity und Employability. Heute tragen 90 Prozent unserer Produkte zur Nachhaltigkeit bei. Im Geschäftsjahr 2023 haben unsere Produkte zu einer CO2-Reduktion von 190 Millionen Tonnen geführt. Unser Ziel ist es, bis 2030 CO2-neutral zu sein, und wir sind auf einem guten Weg, dieses Ziel zu erreichen. Die Herausforderungen sind dabei heterogen: Gut funktioniert beispielsweise, die Fahrzeugflotte auf Elektromobilität umzustellen. Bei der Kreislaufwirtschaft, und hier besonders beim Kunststoffrecycling, wo wir derzeit im einstelligen Prozentbereich liegen, sehen wir hingegen noch großes Potenzial. Hier arbeiten wir eng mit der Montanuniversität Leoben und anderen Partnern zusammen, um neue Technologien zu entwickeln, die diese Prozesse effizienter machen. Ein weiteres großes Wachstumsfeld ist die Energie- und Gebäudetechnik. Smarte Infrastrukturen und energieeffiziente Gebäude sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Strategie, rund 50 Prozent unseres Geschäfts entfällt auf diesen Bereich. Wir bieten Lösungen an, die es ermöglichen, den Energieverbrauch von Gebäuden zu optimieren, Energienetze effizient zu steuern und erneuerbare Energien ins Netz einzuspeisen. Hier entstehen viele neue Geschäftsfelder, die für Siemens von großer Bedeutung sind.

Unsere Strategie basiert darauf, die reale Welt mit der digitalen zu verbinden. Alles, was mit Digitalisierung zu tun hat, bietet enormes Potenzial.

Siemens unterstützt Kunden dabei, Märkte zu transformieren. Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz dabei?
Neumann: Wir stehen hier noch am Anfang einer Revolution, in der Technologie nicht nur die Muskelkraft, sondern auch die Geisteskraft der Menschen unterstützt. Unser Fokus bei Künstlicher Intelligenz ist der industrielle Kontext. Ein Beispiel dafür ist der „industrielle Copilot“, eine Anwendung, die es ermöglicht, Produktionsprozesse zu automatisieren und zu optimieren. KI hilft dabei, Prozesse zu beschleunigen und Ressourcen effizienter einzusetzen. Ein weiteres Beispiel ist unsere Partnerschaft mit Nvidia im Bereich der fotorealistischen Simulationen. Diese Technologie ermöglicht es uns, Produkte virtuell zu testen, bevor sie in die Produktion gehen. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung des erwähnten Industrial Metaverse. Europa hat in diesem Bereich eine starke industrielle Basis, die es zu nutzen gilt. Besonders die Verzahnung von Digitalisierung und Industrie bietet uns einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Regionen. 
Welche gesellschaftlichen Herausforderungen sehen Sie im Umgang mit KI?
Neumann: Eine der größten Herausforderungen besteht darin, Menschen auf die Nutzung von KI vorzubereiten. Bei Siemens investieren wir stark in Schulungen, um unsere Mitarbeiter für die neuen Technologien fit zu machen. Wichtig ist es jedoch auch, die nächste Generation auf die Herausforderungen der digitalen Welt vorzubereiten. Unser Bildungssystem ist hier noch nicht ausreichend aufgestellt. Ein Beispiel, das mir gefallen hat, stammt von einer Deutschlehrerin meiner Kinder: Anstatt eine Zusammenfassung eines Buches zu verlangen, fordert sie die Schüler auf, einen Dialog darüber zu führen. Das ist die Art von Bildung, die wir brauchen – kritisches Denken und den Umgang mit komplexen Themen.
Was macht die Innovationskraft von Siemens aus?
Neumann: Die Innovationskraft von Siemens beruht maßgeblich auf den Menschen. Am Standort Österreich beschäftigen wir 580 Forschende, die täglich an neuen Lösungen arbeiten. Österreich bietet, wie schon gesagt, hervorragende Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung. Wir arbeiten eng mit Universitäten, anderen Unternehmen und Kunden zusammen, um Innovationen voranzutreiben. 
Wie sehen Sie Entwicklungsregionen wie Afrika in Bezug auf Innovation?
Neumann: Als Siemens Österreich haben wir wenig direkte geschäftliche Berührungspunkte. Ein Beispiel sind Meereswasserentsalzungsanlagen, wo die Kompetenzen in Österreich gebündelt sind und weltweit eingesetzt werden. Afrika ist aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums sicherlich ein Zukunftsmarkt. Staaten wie China investieren massiv in Afrika, und ich glaube, es wäre auch eine Aufgabe für Europa, sich intensiver mit den afrikanischen Märkten auseinanderzusetzen. Es ist bei persönlichen Kontakten immer wieder beeindruckend, wieviel Potenzial in dieser Region steckt. Wenn wir heute nicht anfangen uns vorzubereiten, werden wir in einigen Jahren nicht bereit sein.

Wir stehen am Anfang einer Revolution, in der Technologie nicht nur die Muskelkraft, sondern auch die Geisteskraft der Menschen unterstützt.

Was macht ein Unternehmen zukunftsfähig?
Neumann: Resilienz ist für mich der Schlüssel. Die Fähigkeit, trotz globaler Veränderungen standhaft und innovativ zu bleiben. Siemens steht stark für Innovation – nicht um ihrer selbst willen, sondern mit dem Ziel, Technologien zu entwickeln, die echten Nutzen stiften und unsere Kunden weiterbringen. Und wir setzen auf den Faktor Mensch. Egal wie weit die Automatisierung und künstliche Intelligenz voranschreiten, am Ende sind es immer die Menschen – sei es das Führungsteam, die Mitarbeiter oder die Spezialisten –, die den Erfolg eines Unternehmens bestimmen. Ohne diese Säule funktioniert nichts.
Das Unternehmen Siemens gibt es seit mehr als 175 Jahren. Welche Rolle spielen Werte?
Neumann: Was mich beim Eintritt in Siemens beeindruckt hat, ist der Leitsatz: „In Deutschland geboren, in Europa groß geworden und in der Welt zu Hause.“ Dies spiegelt perfekt unsere Werte wider. Wir streben danach, exzellent in dem zu sein, was wir tun, innovativ zu bleiben und verantwortungsbewusst zu handeln. Diese Werte sind seit vielen Jahren unverändert und bilden eine solide Grundlage für unser Handeln.
Was macht eine Unternehmerin erfolgreich?
Neumann: Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist der richtige „Mindset“. Es geht darum, die eigenen Stärken zu erkennen und darauf aufzubauen. Gleichzeitig muss man offen für Veränderungen sein und sie aktiv mitgestalten. Der Mensch steht dabei immer im Mittelpunkt. Ein erfolgreiches Unternehmen muss Talente anziehen und die Mitarbeiter motivieren. 

Meine größte Motivation ist der Glaube an die Kraft der Technologie.

Was treibt Sie persönlich an?
Neumann: Meine größte Motivation ist der Glaube an die Kraft der Technologie. Ich bin überzeugt, dass sie uns hilft, die großen globalen Herausforderungen – von der Digitalisierung bis hin zur Klimakrise – zu bewältigen. Gleichzeitig motivieren mich die Menschen um mich herum. Ob es unsere Kunden, Mitarbeiter oder Partner sind – zu sehen, wie unsere Technologie echten Mehrwert schafft, inspiriert mich täglich.
Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Patricia Neumann53, ist seit dem 1. Mai 2023 Vorstandsvorsitzende der Siemens AG Österreich. Zuvor hatte sie in ihren über 25 Jahren beim IT-Konzern IBM verschiedene Führungspositionen inne, unter anderem in London, Mailand und Deutschland. Zuletzt verantwortete sie den Softwarevertrieb für Daten, Künstliche Intelligenz und Automatisierung in Europa, dem Mittleren Osten und Afrika. Neumann studierte an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Zum Unternehmen

Österreich-Zentrale in Wien

Siemens hat seine Ursprünge in der 1847 in Berlin gegründeten Tele-graphen-Bauanstalt Siemens & Halske. Im vergangenen Jahr erzielte der Technologiekonzern mit Hauptsitz in München einen weltweiten Umsatz von knapp 78 Mrd. Euro und beschäftigte rund 320.000 Mitarbeiter. Die Siemens AG Österreich koordiniert die Aktivitäten in 26 Märkten – in Mittel-, Ost-, Südosteuropa, Zentralasien sowie Israel. In Österreich arbeiten etwa 9.300 Menschen für Siemens – einschließlich der Tochtergesellschaften Siemens Healthineers und Siemens Mobility. Der Umsatz lag 2023 bei 3,2 Mrd. Euro, davon erwirtschaftete die Siemens AG Österreich 1,4 Mrd. Euro.

Fotos: Stefan Karisch