Autor: Klaus Huhold
Als Biniam Girmay vergangenen Juli sein erstes Rennen der Tour de France gewann, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. „Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich eines Tages an der Tour de France teilnehmen würde“, sagte der emotional überwältigte Radfahrer aus Eritrea in seinem Siegerinterview. „Und heute hier zu gewinnen – das ist einfach unglaublich!“ Der 24-Jährige hatte Historisches erreicht: Er hatte als erster schwarzer Afrikaner bei dem prestigeträchtigen Straßenradrennen eine Etappe gewonnen. Den Erfolg widmete er gleich allen Menschen in Eritrea und Afrika. „Nun sind wir Teil der großen Rennen. Und wir werden noch viele Siege sehen. Unser Moment ist gekommen!“
Für die nächsten Siege sorgte er selbst: Girmay gewann zwei weitere Etappen und sicherte sich so das Grüne Trikot als bester Sprinter der Tour. In seiner Heimat wurde er wie ein Nationalheld gefeiert. Trotz Regens säumten zehntausende jubelnde Menschen mit wehenden Fahnen die Straßen der Hauptstadt Asmara, während Girmay, im grünen Siegertrikot und in einem blumengeschmückten Auto, seinen begeisterten Anhängern zuwinkte. Girmays Erfolg basiert auf dem Schritt vom Breiten- zum Spitzensport. Radfahren ist in Eritrea, einem bergigen Land mit vier Millionen Einwohnern, außerordentlich populär, die Familie Girmay tritt seit Generationen in die Pedale. Um aber die Weltspitze zu erklimmen, benötigte Girmay internationale Unterstützung: Mit 17 Jahren zog er in die Schweiz und trainierte dort im World Cycling Centre, einem vom Internationalen Radsportverband nahe des Genfer Sees eingerichteten Zentrum, das vielversprechende Talente unter besten Bedingungen fördert.
Laufnation Kenia
Wie wichtig eine breite Basis für Spitzenleistungen ist, zeigt auch das Beispiel Kenia. Bei den Olympischen Spielen in Paris war das ostafrikanische Land mit 4 Gold-, 2 Silber- und 5 Bronzemedaillen die erfolgreichste afrikanische Nation. Bemerkenswert ist, dass Kenia alle seine Medaillen in Laufwettbewerben errang.
Die „Masse an Talenten“ sei für Kenia ein entscheidender Erfolgsfaktor, erklärt der ehemalige österreichische Spitzenläufer Thomas Krejci, der mit seinem Verein Run2gether Laufcamps in Kenia organisiert und Athleten trainiert. Weitere Vorteile kämen hinzu: Die Läufer wüchsen auf einer idealen Seehöhe von 2.000 bis 3.000 Metern auf und brächten günstige körperliche Voraussetzungen wie ein optimales Verhältnis von Beinlänge zu Oberkörper mit. „Für mich ist jedoch die größte Stärke die enorme Motivation der Läufer“, betont Krejci. „In Europa hat jeder Spitzensportler die Möglichkeit, eine andere Karriere einzuschlagen, falls der sportliche Erfolg ausbleibt. Für viele Kenianer hingegen ist das Laufen oft die einzige Chance, einen besseren Lebensunterhalt zu verdienen. Dementsprechend hart trainieren sie und bleiben auch nach Rückschlägen langfristig motiviert.“
Dieser Trainingseifer ist auch in anderen afrikanischen Ländern zu finden. Trotzdem sind wohlhabende Länder insgesamt viel erfolgreicher im Spitzensport. Als Beweis genügt ein Blick auf den Medaillenspiegel der heurigen Olympischen Spiele in Paris: Ganze 39 Medaillen hat der Gesamtkontinent Afrika mit all seinen Talenten geholt – das Gastgeberland Frankreich gewann allein 64 Medaillen.
Weniger Geld – weniger Erfolg
Afrika bringt schon heute jede Menge Topathleten hervor: Südafrika ist mit vier Titeln Rekordweltmeister im Rugby, und vom gegenwärtigen Liverpool-Star Mohamed Salah aus Ägypten bis zur ivorischen Stürmerlegende Didier Drogba kommen zahlreiche Fußballstars aus Afrika. Zugleich gelangte erst bei der letzten Fußballweltmeisterschaft in Katar mit Marokko ein afrikanisches Team in ein WM-Halbfinale.
Die Gründe für den überschaubaren Erfolg trotz großem Potenzial und einer sportbegeisterten Jugend sind vielfältig, sind aber vor allem in den hohen Investitionen zu suchen, die der Sport erfordert und für die in wohlhabenderen Ländern mehr Mittel zur Verfügung stehen. „In Europa investieren die Regierungen deutlich mehr in die Sportinfrastruktur“, erklärt Tony Simpson, Partner bei der Strategieberatung Oliver Wyman, der mit Sportverbänden und Investorengruppen zusammenarbeitet. „Deshalb findet man in vielen Nachbarschaften etwa Schwimmbäder oder Badmintonclubs.“ In afrikanischen Ländern ist von solchen Einrichtungen wenig zu sehen.
Die mangelnden Mittel wirken sich direkt auf die Organisation des Sports aus. Nur die größten Talente finden einen Verein oder einen Manager. Und dann werden sie vor allem als Investition angesehen, die Ertrag bringen soll, sagt Simpson. Dies führt zu einem enorm harten Wettbewerb und einer gnadenlosen Auslese. Verletzt sich etwa ein junger Sportler, bedeutet dies zumeist das Ende seiner Ambitionen. Denn Manager und Vereine konzentrieren sich eher auf das nächste Talent, als Geld für eine Behandlung aufzubringen.
Doch selbst für die vielversprechendsten Talente fehlt oft die notwendige Förderung, die in Industrieländern häufig mit staatlicher Hilfe ermöglicht wird: von der Unterstützung der Trainings durch wissenschaftliche Belastungstests über die Ernährungsberatung und medizinische Betreuung bis zur psychologischen Unterstützung.
In Afrika erhalten selbst in einem erfolgreichen Land wie Kenia nur die absoluten Topathleten staatliche Förderung – und das meist nur in Form von Anstellungen beim Militär oder bei der Polizei, um ihnen zu ermöglichen, sich intensiver auf ihr Training zu konzentrieren. Diese begrenzte Förderung wird durch andere Vorteile und internationale Kooperationen teilweise ausgeglichen. Vielen afrikanischen Athleten aber bleibt der Zugang zu solcher Unterstützung verwehrt. Somit können sie ihr Leistungsmaximum nicht erreichen.
Sport ist Business
Mit Talentschmieden allein ist es aber nicht getan, es braucht den gesamten Rahmen des Profisports: Organisation, Infrastruktur, Wettbewerbe, Publikum und Sponsoren. Laut einer Analyse von Tony Simpson und Oliver Wyman – „Game on: How Africa’s sporting appetite could spark economic growth“ – liegt der Wert des afrikanischen Sportmarkts derzeit bei 12 Mrd. Dollar – er könnte bis 2035 20 Mrd. Dollar erreichen.
Denn es tut sich was. So wurde kürzlich die kontinentale African Football League gegründet, bei der der Hauptsponsor Visit Saudi angeblich 200 Millionen Dollar investiert hat. Das Turnier startete mit acht Mannschaften, den ersten Turniersieg trugen die Mamelodi Sundowns aus Südafrika davon. Daneben hat der nordamerikanische Basketballverband NBA die Basketball Africa League ins Leben gerufen, die 12 Teams aus ganz Afrika umfasst und in der auch Firmen wie Nike sowie private Investoren engagiert sind. Beim diesjährigen Turnier erreichte der Club Petro de Luanda aus Angola den ersten Platz.
Darüber hinaus bemühen sich afrikanische Staaten zunehmend um die Ausrichtung großer Sportveranstaltungen. Allein im Jahr 2023 war Südafrika Gastgeber der Cricket-Weltmeisterschaft der Frauen und der Netball-Weltmeisterschaft, während Kapstadt als erste afrikanische Stadt einen Formel-E-Prix ausrichtete. Im kommenden Jahr wird Ruanda erstmals Gastgeber der Rad-Weltmeisterschaft sein, und Marokko wird zusammen mit Spanien und Portugal die Fußball-Weltmeisterschaft 2030 ausrichten.
Welchen Nutzen solche Investitionen bringen und wie sie sich auf den Breitensport auswirken, hängt von mehreren Faktoren ab. Eine Rad-WM kann sicherlich Begeisterung für den Sport wecken, was zu einer höheren Teilnahme und zur Gründung neuer Vereine führen könnte. In jedem Fall bringen Großveranstaltungen internationale Aufmerksamkeit und können zusätzliche Investitionen in Infrastruktur wie Straßen, Hotels und den öffentlichen Verkehr mobilisieren, was auch anderen Sektoren wie dem Tourismus zugute kommt.
Die richtige Kalkulation von Investitionen erweist sich allerdings immer wieder als schwierig. So errichtete Kamerun laut dem African Sports and Creative Institute, einer auf Sportförderung spezialisierten Denkfabrik, für die Ausrichtung des Afrika-Cups 2022 das Paul-Biya-Stadion in Yaoundé um rund 260 Millionen Euro. Der Komplex umfasst ein olympisches Schwimmbecken, ein 5-Sterne-Hotel und ein Einkaufszentrum. Demgegenüber nahm das Land von angereisten Gästen lediglich rund 200 Millionen Dollar ein. Dazu kommt, dass das Stadion mit 60.000 Plätzen heute nur mehr für die Spiele der Nationalmannschaft nutzbar ist – für die heimische Meisterschaft ist es zu groß. Was den Profit und die Sichtbarkeit anlangt, steht der Fußballsport in Subsahara-Afrika vor einer besonderen Herausforderung, nämlich einem Schattendasein im Vergleich zur englischen Premier League. Viele der besten afrikanischen Spieler kicken in England, hunderte Millionen Afrikaner verfolgen die Premier League im Fernsehen und auf Social Media – und verhelfen damit der – auch in Asien enorm populären – Liga zu ihrer Reichweite und dem Umsatz von rund sieben Milliarden Euro in einer Saison.
Vorbild Uganda
Allerdings ist auch für afrikanische Ligen eine Koexistenz neben der Premier League möglich, sagt der Politökonom Jörg Wiegratz von der Universität Leeds, der zu afrikanischem Sport forscht. Er hat die Fußball-Liga in Uganda untersucht, die bis vor zehn Jahren in einer schweren Krise war – viele Vereine konnten sich nicht mehr erhalten –, nun aber einen erstaunlichen Grad an Professionalisierung an den Tag legt. Laut Wiegratz hat die Stablilisierung und Verbesserung der Organisation des ugandischen Fußballverbands mit dem Eintritt von Moses Magogo Hassim als neuem Verbandspräsidenten 2013 begonnen. In der Folge fand – teilweise auch mit der Unterstützung des Weltfußballverbandes Fifa – ein Kapazitätsaufbau statt. „Kunstrasenplätze wurden errichtet, technische Zentren aufgebaut, mehr Trainer ausgebildet, und es gab Kurse für das Vereinsmanagement“, sagt Wiegratz, der selbst seit vielen Jahren Forschung in Uganda betreibt.
Die größten und stärksten Vereine kommen dabei aus der Hauptstadt Kampala – wie der amtierende Meister Villa SC oder die Vipers, die im Frühjahr 2023 in der afrikanischen Champions League durch ein Unentschieden gegen das marokkanische Spitzenteam Raya Casablanca einen Achtungserfolg erzielten. Mit dem Bul FC errang aber in der vergangenen Saison auch ein Verein aus einer kleineren Stadt, nämlich aus Jinja, den zweiten Rang. Die größeren Vereine haben ihr Marketing professionalisiert – und sich dabei an der Premier League orientiert. „Die Fans bekommen Bilder, Videos und Memes nun so, wie sie es auch von ihren englischen Vereinen lieben, und man verbindet das dann mit einer lokalen, ugandischen Charakteristik“, erklärt Wiegratz.
Er spricht von „sich selbst verstärkenden Dynamiken“. Die verbesserte Organisation von Liga und Vereinen zog in der Folge Sponsoren und das Fernsehen an, deren Gelder eine weitere Professionalisierung ermöglichten. Einige Stadien wurden ausgebaut und verbessert oder neugebaut. Dies schlägt auch auf andere Ebenen durch: Der Frauenfußball wächst, es gibt immer mehr Amateurturniere und viele Schulen fördern den Fußballsport, berichtet der Forscher. „Es sind überall Stabilisierungs- und Wachstumstendenzen vorhanden.“ Noch sind nicht alle Probleme gelöst. Manche Erstligavereine haben signifikante Finanzsorgen, Probleme Spielern und Trainern regelmäßige Gehälter zu zahlen oder Fans anzuziehen. Eine effektive Gesundheitsversicherung für Spieler (die etwa bei Verletzungen greift) fehlte lange, ist nun aber im Aufbau, auch dank der Initiative des Verbandes und einiger Vereine. Die großen, erfolgreichen und gut geführten Vereine sind oft Vorreiter in Sachen Spielerbehandlung und -bezahlung. Insgesamt zeigen der ugandische Fußballsektor und sein Verband, wie ein lokaler Sportkreislauf entstehen, den Breitensport voranbringen und Chancen für sportliche Talente schaffen kann.
Denn Geld ist nicht alles. Das zeigte auch das belgische Team Intermarché-Wanty, für das Biniam Girmay die drei Etappensiege und das Grüne Trikot bei der Tour de France geholt hat. Es hatte das zweitkleinste Budget von den 22 teilnehmenden Teams. Das Team mit dem größten, und im Vergleich fünffachen Budget, die britischen Ineos Grenadiers, verbuchte nicht einen einzigen Tagessieg.
Sie wollen mehr über kenianische Trainingscamps erfahren? Zum Interview mit dem 13-fachen österreichischen Staatsmeister im Orientierungslauf Thomas Krejci, Gründer der Run2gether-Camps, geht es hier.