von Paul Resetarits
Das Weihnachtsgeschäft ist voll im Gange, die umsatzstärksten Monate des Jahres für E-Commerce sind November und Dezember. Damit rücken auch die stark expandierenden chinesischen Plattformen Temu, Shein und Alibaba verstärkt in den Fokus – sowohl wegen ihres rasanten Wachstums als auch aufgrund zunehmender Kritik.
Mitte November beschlossen die EU-Finanzminister in Brüssel, die umstrittene 150-Euro-Zollfreigrenze deutlich früher abzuschaffen als geplant: Statt 2028 soll sie bereits Anfang 2026 fallen – mit einer Übergangslösung, die die Kommission nun ausarbeiten soll. Die Entscheidung verdeutlicht, wie stark der politische Druck mittlerweile ist, da europäische Händler gegenüber den dominierenden chinesischen Plattformen zunehmend ins Hintertreffen geraten.
Das verdeutlichen aktuelle Zahlen: 91 Prozent aller E-Commerce-Importe mit einem Wert von bis zu 150 Euro kamen 2024 laut Angaben der EU-Kommission aus China. Das Volumen hat sich seit 2023 mehr als verdoppelt – von 1,9 Milliarden auf 4,2 Milliarden Sendungen. Insgesamt wurden im Vorjahr rund 4,6 Milliarden Päckchen in die EU importiert. Das entspricht rund zwölf Millionen täglich. Dabei umgehen außereuropäische Händler oft Abgaben – konkret die Einfuhrumsatzsteuer sowie reguläre Zolltarife und Ausgleichszölle –, indem sie Waren zu niedrig deklarieren oder in Kleinstpakete aufsplitten. Laut Handelsverband entsteht dadurch ein Schaden von 5,4 Milliarden Euro.
Welche Auswirkungen die neue EU-Regelung auf Temu und Co. haben wird, ist bislang unklar. Fakt ist jedoch, dass chinesische E-Commerce-Giganten inzwischen fast zwei Drittel des weltweiten Onlinehandelsvolumens kontrollieren und mit astronomischen Zahlen aufwarten. 2024 verzeichneten sie rund 1.900 Milliarden US-Dollar Umsatz und bedienten über 900 Millionen Online-Shopper. In China wird bereits fast ein Drittel des gesamten Einzelhandelsumsatzes online erzielt, während der EU-Durchschnitt bei weniger, nämlich bei rund 18 Prozent, liegt. In Österreich beträgt der Online-Anteil sogar nur etwa 14 Prozent. Auch in den Wachstumsraten zeigen sich Unterschiede – die Asien-Pazifik-Region legt jährlich um 12 Prozent zu, doppelt so stark wie Europa mit rund 6 Prozent.
China: Logistik-Offensive in Europa ...
Da effiziente Lieferketten entscheidend für den globalen E-Commerce sind, baut China seine logistische Präsenz in Europa strategisch aus. Dahinter steht ein klarer politischer Auftrag: Der Nationale Volkskongress hat das Ziel ausgegeben, den grenzüberschreitenden E-Commerce jedes Jahr um rund zehn Prozent zu steigern.
Staatskonzerne wie COSCO, China Merchants und Hutchison Ports sind inzwischen an mehr als 30 europäischen Containerterminals beteiligt. Parallel dazu baut China auch im europäischen Bahn- und Frachtverkehr seine Präsenz aus, vor allem in Ungarn, das durch neue Kooperationen und direkte Güterzugverbindungen – etwa aus der Provinz Hebei nach Budapest – gezielt zu einem zentralen Knotenpunkt für chinesische Waren in Osteuropa aufgebaut wird. Der Flughafen Lüttich, Belgien, hat sich durch Kooperationen mit chinesischen Logistikdienstleistern zu einem der wichtigsten europäischen Umschlagplätze für E-Commerce- und Expressfracht entwickelt. Das schlägt sich in über 1,16 Millionen Tonnen abgefertigter Fracht im Jahr 2024 und zweistelligen Wachstumsraten nieder.
... Einstieg in Nahost und Südasien
Im Nahen Osten und in Südasien hingegen finden chinesische Plattformen andere Voraussetzungen vor – und wissen auch damit umzugehen. In diesen Ländern dominieren gut etablierte lokale Anbieter mit eingespielten Logistiknetzen, regionalen Händlerstrukturen und kultureller Nähe zu den Konsumenten. Diese lokalen Plattformen eröffnen regionalen Produzenten zudem erhebliche Wachstumsmöglichkeiten, da sie direkten Zugang zu Millionen Konsumenten bieten.
Gleichzeitig gelten strengere Import- und Zollauflagen, die das Direktversandmodell aus China ausbremsen. Die üblichen Wettbewerbsvorteile chinesischer Plattformen greifen daher weniger – weshalb sie ihren Einfluss zunehmend über direkte Investitionen in bereits etablierte E-Commerce-Plattformen stärken.
In den vergangenen Jahren hat sich die Alibaba Group mit einer großflächigen Expansionsstrategie in den dynamisch wachsenden Märkten des Nahen Ostens und Südasiens stark positioniert. 2018 erwarb der Konzern den führenden türkischen Online-Händler Trendyol. Die 2010 in Istanbul gegründete Plattform hat sich auf Mode, Elektronik sowie Home & Living spezialisiert und setzt zunehmend auf internationale Expansion – insbesondere in die Golfstaaten und nach Osteuropa.
Auch in die Infrastruktur wird massiv investiert: In Ankara entsteht ein neues Datenzentrum. Das Bruttowarenvolumen (GMV) lag 2024 bei etwa 12,5 Milliarden US-Dollar, für 2025 wird ein zweistelliges Wachstum erwartet. Laut Unternehmensangaben exportieren bereits über 100.000 türkische Verkäufer über Trendyol in andere Märkte, unter anderem in die Golfregion und nach Europa. Dadurch erhalten lokale Marken internationale Sichtbarkeit.
Ebenfalls 2018 stieg die Alibaba Group mit der Übernahme von Daraz in den südasiatischen Markt ein. Die Plattform war 2012 in Pakistan als Initiative des deutschen Unternehmens Rocket Internet gegründet worden und konnte zu Beginn vor allem durch aggressives Wachstum, lokale Händlerprogramme und die rasch steigende Internetnutzung in der Region stark an Bedeutung gewinnen. Das Unternehmen selbst bezeichnet sich mittlerweile als führende E-Commerce-Plattform in Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Nepal und Myanmar. Ganz offiziell bringt Daraz in Südasien mehr als 100.000 Händler und Produzenten auf einen Marktplatz, der monatlich rund 40 Millionen aktive Nutzer erreicht – plus integrierte Logistik-, Zahlungs- und Werbetools, die kleinen Herstellern den Einstieg in überregionale Märkte ermöglichen.
USA in Indien präsent
In Indien hingegen haben US-Player die Nase vorn. Neben Amazon zählt vor allem Flipkart zu den dominierenden Anbietern. Das 2007 in Bengaluru gegründete Unternehmen gehört heute mehrheitlich Walmart. Es überzeugt mit einem Marktanteil von rund 48 Prozent und jährlichen Wachstumsraten von 20–25 Prozent. Trotz zunehmender Sättigung konnte Flipkart seine Verluste im Geschäftsjahr 2025 auf etwa 180 Millionen US-Dollar senken, während der Umsatz seiner Marktplatzgesellschaft auf rund 2,47 Milliarden US-Dollar stieg.
Gleichzeitig stärkt die Plattform gezielt lokale Produzenten: Über das Programm Flipkart Samarth erhalten mehr als 600.000 Kunsthandwerker und Kleinstbetriebe Zugang zum Onlinehandel, viele von ihnen erzielen in Spitzenzeiten einen 2,5-fachen Verkaufsanstieg. Zudem führte das Unternehmen für Produkte unter 12 US-Dollar ein Null-Provisionsmodell ein, das besonders kleinen Anbietern den Markteintritt erleichtert.
In Südostasien ist die Plattform Shopee der singapurischen Sea Group in Malaysia, Thailand, Vietnam, den Philippinen und Singapur selbst Marktführer. Sie gilt als Paradebeispiel für die Kombination aus mobiler Nutzeroberfläche, integrierten Payment-Lösungen und eigener Logistik. 2025 lag der Jahresumsatz bei rund neun Milliarden US-Dollar, das GMV wuchs um etwa 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im zweiten Quartal 2025 steuerte Shopee mehr als 60 Prozent der Sea-Umsätze bei. Bei Shopee liegt der Schwerpunkt besonders stark auf in der Region hergestellten Produkten.
So stammen in Vietnam über 90 Prozent der auf Shopee verkauften Produkte aus lokaler Fertigung, und mehr als 350.000 vietnamesische KMU wurden bereits beim regionalen Verkauf über die internationale Shopee-Plattform unterstützt. In Singapur zeigt ein grenzüberschreitendes Förderprogramm, wie schnell lokale Händler ins Ausland expandieren können: Seit 2024 haben rund 8.000 Verkäufer in Nachbarländer exportiert und ihre Bestellzahlen deutlich gesteigert.
Brücke von Asien nach Europa
Schließlich tritt mit Joom ein Player an, der in Europa sitzt, aber stark mit asiatischen Lieferanten vernetzt ist. Die 2016 in Riga gegründete und in Lissabon ansässige Gruppe ist auf grenzüberschreitenden Handel ausgerichtet und ermöglicht Produzenten aus Schwellenländern den Zugang zu Kunden in Europa, da die Plattform Lieferungen in bis zu 196 Länder unterstützt und dafür eine eigene Cross-Border-Logistik bereitstellt. Zuletzt verzeichnete joom.com rund 25 Millionen aktive Nutzer im Monat und ein GMV von rund 500 Millionen Euro im Jahr 2024. Das Wachstum hat sich zwar verlangsamt, doch Joom zeigt, dass auch europäisch verankerte Strukturen vom globalen Cross-Border-Boom profitieren können – und zugleich achtsam sein müssen, um bei Produktsicherheit oder Deklaration EU-Standards einzuhalten.
EU: Dringender Handlungsbedarf
Während chinesische und andere asiatische Plattformen mit zweistelligen Wachstumsraten und datengetriebenen Modellen arbeiten, müssen europäische Händler einen erheblichen Teil ihrer Fixkosten in Compliance und Bürokratie investieren. Hinzu kommt, „dass viele dieser Gesetze noch im Erarbeitungs- oder Änderungsprozess und inhaltlich somit unklar sind, sich teilweise mit bestehenden Rechtsvorgaben überlagern“, berichtet Wirtschafts-
kammer-Referentin Jutta Rasel. „Das sorgt für Unsicherheiten und eine enorme Schere zwischen Unternehmen, die schon vorbereitet sind, und jenen, die noch Grundlagen schaffen müssen.“
Rainer Will, Geschäftsführer des Österreichischen Handelsverband, hat alarmierende Statistiken dazu. „Ein europäischer Onlinehändler muss heute im Schnitt 20 bis 25 Prozent seiner Fixkosten in regulatorische Compliance investieren, ein chinesischer Händler weniger als 5 Prozent. Diese Rahmenbedingungen bremsen insbesondere heimische KMU, die nicht die Ressourcen großer Konzerne haben.“ Aus Sicht des Handelsverband-CEO ist es dringend geboten, dass die EU schnell handelt. „Europa braucht dringend eine gemeinsame Digitalstrategie und einheitliche Logistikregeln, um seine Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen – inklusive fairer Zollabwicklung, Datenzugang und Investitionen in europäische Plattformen, Payment- und Fulfillmentlösungen”, betont er.
Den Wettlauf Aufnehmen
Dennoch können europäische Produzenten in mehrfacher Hinsicht vom schnell wachsenden E-Commerce in Schwellenländern profitieren: Laut Euromonitor entfalten diese Märkte bis 2027 rund 64 Prozent des globalen Onlinehandelswachstums und bieten damit Zugang zu enormen, bisher wenig erschlossenen Kundengruppen. In vielen Regionen liegt die E-Commerce-Durchdringung noch unter 20 Prozent, was europäischen Marken große Expansionspotenziale eröffnet. Gleichzeitig zeigt der Digital Economy Report der Vereinten Nationen, dass die Online-Verkäufe in 43 untersuchten Ländern seit 2016 um fast 60 Prozent gestiegen sind – das zeigt, wie sehr digitale Absatzkanäle an Bedeutung gewinnen.
Durch diesen Trend können europäische Hersteller ihre Produkte direkter, kosteneffizienter und mit weniger Zwischenhändlern in globalen Wachstumsmärkten platzieren und so ihre internationale Reichweite erheblich ausbauen. Diese Chance muss aber sehr schnell genutzt werden ‑ sonst können europäische Player nur weiter zuschauen, wie chinesische Konkurrenten davoneilen.
Fotos: World Bank (3), Thomas Hackl/Flickr, EIB/ European Delegation to BiH



