Mehrmals zahlt sich das Tragen eines Schutzhelms beim Besuch des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Nachtigall im deutschen Ruhrgebiet aus, denn die Gänge sind eng und rutschig. Hinzu kommen extreme Temperaturen und eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit.

Doch als Besucher hat man das Glück, nur zum Beobachten da zu sein und nicht stundenlang in gebückter Haltung Kohle aus dem Berg schlagen zu müssen. In der zweiten Hochphase des deutschen Steinkohlebergbaus in den 1950er Jahren arbeiteten mehr als eine halbe Million Menschen im Ruhrgebiet im Kohlebergbau, die durchschnittliche Lebenserwartung eines Bergmanns lag bei Mitte 50. „Tatsächlich waren die meisten Bergleute jedoch schon mit 35 Jahren körperlich kaputt gearbeitet“, erklärt Börje Nolte, Leiter des Besucherbergwerks im Museum Zeche Nachtigall. Dazu kamen allein im Ruhrgebietsbergbau mehr als 500 tödliche Arbeitsunfälle – pro Jahr. „Und dennoch: Die Kohle wird hier immer noch vor allem positiv gesehen, sie brachte Arbeit, Gemeinschaft, Identität“, so Nolte.

Im Ruhrgebiet wurde 2018 die letzte Zeche geschlossen. Weltweit arbeiten laut der NGO Global Energy Monitor derzeit etwa drei Millionen Menschen in Kohlebergwerken. Die von ihnen geförderte Kohle deckt nach Angaben der Internationalen Energieagentur etwa 36 Prozent der globalen Stromerzeugung ab – mehr als jeder andere Energieträger. Gleichzeitig ist Kohle für rund 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich und damit der klimaschädlichste Energieträger, gefolgt von Öl (34 Prozent) und Gas (21 Prozent).

Zwar kam es auf der UN-Klimakonferenz 2021 in Glasgow zu einem Beschluss über den globalen Ausstieg aus der Kohleverstromung, die Umsetzung erweist sich aber als schwierig. Derzeit sind weltweit fast 2.500 Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von über 2.100 Gigawatt in Betrieb. Laut der Internationalen Energieagentur IEA erreichte die Kohlenachfrage im Jahr 2023 mit mehr als 8,5 Milliarden Tonnen sogar ein neues Allzeithoch. Zudem sind Kohlekraftwerke mit einer zusätzlichen Kapazität von fast 580 Gigawatt im Bau oder in Planung.

Interview mit Jan Steckel

Kohle muss raus, aber…

Ökonom Jan Steckel vom Berliner Klimaforschungsinstitut MCC befasst sich mit der Politischen Ökonomie der Kohleverstromung. Er spricht über die größten Hürden des Kohleausstiegs – und warnt vor Versprechungen, die nicht einzuhalten sind.

Asien ist heiß auf Kohle

Heute setzen vor allem Schwellenländer, insbesondere in Asien, weiterhin auf Kohle, der Anteil der Industrieländer – auf die im Jahr 2000 noch fast die Hälfte des weltweiten Kohleverbrauchs fiel – liegt heute bei weniger als 20 Prozent. Sie wurden von China abgelöst, das heute mehr als die Hälfte des globalen Kohleverbrauchs verantwortet. Allein im Jahr 2023 war das Land mit knapp 50 Gigawatt für etwa zwei Drittel des weltweiten Zuwachses an Kohlekraftwerken verantwortlich. Gleichzeitig baut China etwa viermal mehr Kapazitäten für Solar- und Windkraft aus als für Kohle.

Aufgrund des enormen Energiebedarfs und der Sorge vor Versorgungsengpässen verfolgt Peking jedoch eine Strategie des „sowohl als auch“ statt eines klaren „entweder oder“. Und auch in anderen asiatischen Ländern ist Kohle weiterhin ein großes Thema. Infolge der Privatisierung der Kohleindustrie erlebte Indien Mitte der 2000er Jahre einen Boom bei der Genehmigung neuer Kohleprojekte – heute verbraucht das Land mehr Kohle als Europa und Nordamerika zusammen. Bis 2032 will die Regierung 88 Gigawatt an neuen Kohlekapazitäten aufbauen, neben einem rasanten Ausbau erneuerbarer Energien.

Laut IEA werden China und Indien im Jahr 2026 für mehr als 70 Prozent des globalen Kohleverbrauchs verantwortlich sein. Für China, Indien, aber etwa auch Indonesien, das im Vorjahr mit fast 500 Millionen Tonnen einen neuen Exportrekord bei Kohle aufgestellt hat, gilt die günstige Kohleverstromung nach wie vor als unverzichtbar für Wirtschaftswachstum, Job- und Energiesicherheit – schließlich verfügen viele Schwellenländer selbst über Kohlevorkommen und können damit die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren.

Ortsbesuch: corporAID-Autor Frederik Schäfer unter Tage im deutschen Ruhrgebiet

Hoffnungsschimmer

Es sind jedoch zumindest Anzeichen einer Verlangsamung des Kohlezuwachses zu erkennen. Laut einem aktuellen Bericht des World Resources Institute machte Kohle im Vorjahr nur noch neun Prozent der weltweit neu hinzugefügten Stromkapazitäten aus, erneuerbare Energien hingegen 83 Prozent. Hintergrund sind fallende Kosten für Photovoltaik- oder Windanlagen sowie die Tatsache, dass internationale Investoren wie die Weltbank die Kohlefinanzierung eingestellt haben.

Rainer Quitzow, Leiter der Forschungsgruppe Geopolitik der Energietransformation am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit in Potsdam, sieht sogar im Kohleland Nummer eins China letztlich ein Commitment, das Pariser Abkommen zu unterstützen. Er erklärt: „Die Regierung hat, um einen ökonomischen Impuls zu geben, die Regelungen für den Bau neuer Kohlekraftwerke temporär gelockert, woraufhin in den vergangenen Jahren viele Provinzen neue Kohleprojekte angestoßen haben.

Aber selbst Deutschland hat wegen des Kriegs in der Ukraine temporär wieder stärker auf Kohleverstromung gesetzt. Deswegen ist aber der deutsche Kohleausstieg nicht ad acta gelegt.“ Vielmehr sei es offensichtlich, dass China etwa die Solarenergie und elektrische Fahrzeuge als große Chance für die eigene wirtschaftliche Entwicklung begriffen habe: „Für China entsteht aus Klima- und Industriepolitik eine starke Synergie. Der Ausbau der klimafreundlichen Energien erfolgt dort wesentlich rascher als in Europa und wird über kurz oder lang auch die Kohle ablösen.“

Um der Kohle wirklich den Garaus zu machen, braucht es laut Quitzow einen starken internationalen Konsens – und Finanzhilfen: „Die westlichen Geberländer sind bislang nicht in der Lage, eine kohärente Politik gegenüber den Kohlestaaten zu zeigen. Es wird über einzelne Projekte hin- und herverhandelt, das ist sehr viel business as usal, es bräuchte aber den großen Wurf in der Klimafinanzierung“, so Quitzow. Laut Weltbank würde ein umfassender Kohleausstieg allein in Asien bis zu 20 Billionen Dollar kosten.

 

Dicke Luft: Kohlekraftwerke emittieren nicht nur viel CO2, sondern auch weitere Schadstoffe wie Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid oder Quecksilber.

Langzeitprojekt

Beim Kohleausstieg geht es allerdings nicht nur um günstigere Alternativen, denn schließlich hängen Millionen Arbeitsplätze und große Industrien in Schwellen- und Entwicklungsländern an der Kohle – allein in Indien sind laut Jan Steckel, Leiter der Arbeitsgruppe Klimaschutz und Entwicklung beim Berliner Klimaforschungsinstitut MCC, bis zu 15 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt mit der Kohle verbunden.

In diesem Kontext lohnt wiederum ein Blick in das deutsche Ruhrgebiet: Die dortige Kohleindustrie erlebte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einen Boom infolge einer Liberalisierung. Heute werden vor allem die ersten Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg als goldenes Zeitfenster betrachtet: Ohne die Kohle aus dem Ruhrgebiet wäre das deutsche Wirtschaftswunder der 1950er Jahre kaum möglich gewesen. Doch bereits ab Ende der 1950er Jahre wurde der Kohlebergbau vielerorts unrentabel, der Import von Kohle aus Nordamerika war wegen der dortigen vorteilhafteren geologischen Gegebenheiten günstiger. Nun folgte ein jahrzehntelanger Prozess des Rückbaus, eine Zeche nach der nächsten wurde geschlossen.

Zugleich flossen hohe Milliardenbeträge vom deutschen Staatshaushalt in einen Sozialplan, um die Region und die Arbeiter zu unterstützen. Das letzte Steinkohlebergwerk schloss im Jahr 2018 in Bottrop, nach wie vor werden in Deutschland jährlich jedoch etwa 100 Millionen Tonnen Braunkohle abgebaut. Heute kommt noch rund ein Drittel des in Deutschland erzeugten und ins Netz eingespeisten Stroms aus Kohlekraftwerken. Im Jahr 2020 beschloss die deutsche Bundesregierung ein Gesetz zum Ausstieg aus der Kohleverstromung bis zum Jahr 2038 – dieses beinhaltet Ausgleichszahlungen an die Kohleregionen und Stromversorger in Höhe von rund 40 Mrd. Euro.

Der Ausstieg aus der Kohle erweist sich also als schwieriges Unterfangen – selbst in einem finanzkräftigen Industrieland wie Deutschland. Für Schwellen- und Entwicklungsländer liegen die Hürden noch viel höher.

Das rasant wachsende Indien braucht viel Energie und viele Arbeitsplätze. Beides bietet vorerst weiterhin die Kohleindustrie – auch wenn die Alternativen bereits bekannt und im Einsatz sind.

Neues Instrument

Flankierende Hilfen werden jedoch geboten. So arbeitet auf internationaler Ebene unter anderem die Powering Past Coal Alliance PPCA, die von Kanada und Großbritannien im Rahmen der Weltklimakonferenz 2017 in Bonn ins Leben gerufen wurde, an einem sozialverträglichen Kohleausstieg. Die Allianz, der unter anderem 60 Nationalstaaten angehören (vor allem aus Nord- und Südamerika, Europa und Afrika, jedoch nicht aus Asien), engagiert sich dafür, dass die Industrieländer bis 2030 und die Entwicklungsländer bis 2050 die Kohleverstromung beenden.

Sie gilt als Wegbereiterin für die sogenannten Just Energy Transition Partnerships oder auch JETPs. Diese fußen auf der Überzeugung, dass eine ökologische Wende der Weltwirtschaft nur im Einklang mit einer umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Erfolg haben kann. Im Zentrum der Forderungen stehen alternative Arbeitsplätze, soziale Sicherung, regionale Strukturpolitik – und eine bedeutende internationale Kooperation.

Seit der Klimakonferenz in Glasgow 2021 wurden von den internationalen Gebern (G7-Staaten plus EU und Norwegen sowie internationale Finanzinstitutionen) JETPs mit Südafrika, Indonesien, dem Senegal und Vietnam vereinbart – allesamt Kohleländer, so werden heute in Südafrika 85 Prozent und in Indonesien 62 Prozent des Stroms aus Kohle erzeugt. Die Staaten erhalten für den Ausbau erneuerbarer Energien und die Förderung von Energieeffizienz Mittel in der Höhe von 2,5 bis 20 Mrd. Dollar. Laut einem Plan, den Südafrika, das für die eigene JETP 8,5 Mrd. Dollar Unterstützung erhält, vorlegte, bräuchte es jedoch 98 Mrd. Dollar an internationaler Hilfe über die nächsten fünf Jahre, um eine umfassende Energiewende zu bewerkstelligen – also mehr als das Zehnfache.

Daten und Fakten

Made in Asia

Die fünf Länder mit den größten Zuwächsen an Kohlekraftwerkskapazitäten im Jahr 2023 stammen ausschließlich aus Asien – mit einem eindeutigen Spitzenreiter.

Vietnamesische Ambivalenz

Ein-Partnerland, das im internationalen Kontext regelmäßig als Best Practice für den Kohleausstieg behandelt wird, ist Vietnam. Noch im Jahr 2015 baute Vietnam voll und ganz auf Kohle, um den rasant steigenden Strombedarf zu decken: Damals befanden sich in Vietnam genügend Kohlekraftwerke in der Entwicklung, um die Kohlekapazität von 13 GW auf 69 GW zu verfünffachen. Letztlich kam es bis 2023 aber nur zu einer Verdopplung auf 27 GW, und zeitgleich zu einem enormen Ausbau der erneuerbaren Energien.

Direkt zurückzuführen ist das auf eine Entscheidung der vietnamesischen Regierung, den Ausbau der Erneuerbaren mit hohen Einspeisetarifen zu attraktiveren. Und während etwa China, Japan und Südkorea ihre Kohlefinanzierung in Vietnam deutlich zurückfuhren, standen internationale Investoren für Solar- und Windanlagen Schlange. Im Jahr 2022 folgte die JETP, durch die dem Land 15,5 Mrd. Dollar an öffentlichem und privatem Kapital zur Unterstützung der Energiewende zugesagt wurden.

„Der Grund für den Kurswechsel ist ganz einfach: Die Kohle hat nicht das geleistet, was sich Vietnam von ihr erhofft hatte. Die jahrelange Blockadehaltung gegenüber Erneuerbaren wurde nur überwunden, weil festgestellt wurde, dass andernfalls die Stromnachfrage nicht mehr befriedigt werden könnte“, berichtet Steckel. 

Aber auch Vietnam steht beim Kohleausstieg weiterhin vor immensen Herausforderungen: Der Netzausbau hinkt dem raschen Bau von Solar- und Windparks massiv hinterher, auch an Batteriespeichern mangelt es. Und es fehlen weiterhin beträchtliche finanzielle Mittel, auch weil die Regierung an den gedeckelten sehr niedrigen Strompreisen festhalten will, was zu hohen Verlusten und mangelnden Investitionsmöglichkeiten für den staatlichen Stromversorger EVN führt.

Das heißt: Auch in Vietnam wird der Kohleausstieg noch viele Jahre dauern, im nationalen Energieplan findet er sich unter dem verklausulierten Stichwort „zusätzliche Prioritäten“ erst in der zweiten Reihe der angestrebten Maßnahmen. „Ein groß angelegter Ausstieg aus der Kohleverstromung ist in Vietnam in naher Zukunft nicht möglich, aber einige ältere Kohleverstromungsanlagen könnten auf alternative Energiequellen umgestellt werden“, heißt es in dem Strategiepapier.

Neue Perspektiven

Jan Steckel warnt beim Kohleausstieg vor one-size-fits-all-Ansätzen. „Was es braucht, sind ausdifferenzierte Maßnahmen, die sich jeweils an die regionalen Gegebenheiten anpassen“, ist er überzeugt. Dabei seien die Schwellen- und Entwicklungsländer auf Know-how-Transfer sowie finanzielle Unterstützung für erneuerbare Energien, Netzkapazitäten, Speicheranlagen und die Dekarbonisierung energieintensiver Industrien angewiesen. Und gerade in Ländern, die vom Kohleexport abhängig seien wie Indonesien oder Kolumbien, müsse der Kohleausstieg Teil einer breiteren wirtschaftlichen Diversifizierung sein.

Im deutschen Ruhrgebiet dienen einige stillgelegte Kohlebergwerke mittlerweile als Touristenmagneten. Allein die als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnete Zeche Zollverein in Essen zählt jährlich etwa 1,5 Millionen Besucher. Und zwölf Kilometer entfernt, an der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum, setzen sich Studenten aus aller Welt mit dem Nachbergbau auseinander, also mit den Herausforderungen, die mit der Schließung von Bergwerken verbunden sind – sie sind auch regelmäßige Gäste in den ehemaligen Kohlebergwerken.

„Über einen langen Zeitraum gab es hier eine fast schicksalhafte Verbindung zur Kohle. Nun helfen wir anderen Regionen bei der Suche nach neuen Perspektiven“, sagt Börje Nolte zum Abschluss des Besuches im Steinkohlebergwerk.

Fotos: Bramanyuro, Nolte, CATF

Kommentar von corporAID-Autor Frederik Schäfer

Frederik Schäfer, corporAID

Kohleausstieg ohne Illusionen

Heute gilt Kohle als das Schmuddelkind unter den Energieträgern. Der dringend notwendige Ausstieg aus der Kohle gestaltet sich jedoch vielerorts schwierig: Länder wie Indien, Indonesien oder Südafrika verfügen nicht über die Voraussetzungen, um viele Milliarden für einen regionalen Strukturwandel bereitzustellen.