Am Wienerberg überragt der Wasserturm Favoriten mit seinen 67 Metern Höhe, seinen roten Ziegeln aus Kaiserstein und seinem gold-grün-roten Dach noch immer unübersehbar seine Umgebung. Doch das Wasser, das hier einst für den zehnten und zwölften Wiener Bezirk in luftigen Höhen gesammelt wurde, ist längst unter die Erde gewandert. Einige Meter vom Wasserturm entfernt wurde mittlerweile ein unterirdischer Speicher angelegt. Durch dicke Stahlrohre rinnt hier das Wasser auf seiner letzten Station nach seiner Reise von Rax und Schneeberg in ein Auffangbecken, das 41,5 Millionen Liter fasst.

In dieser Halle steht auf einer Plattform, von der aus die gesamte Konstruktion überblickbar ist, Markus Werderitsch, der Leiter des Fachbereichs Planung und Bau bei Wiener Wasser, vor einem Übersichtplan, in dem das Wiener Rohrnetz eingezeichnet ist. Umringt ist er von Ingenieuren und Behördenvertretern aus Armenien, Albanien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und der Türkei. Die Experten aus dem Wasserbereich sind für einen Erfahrungsaustausch nach Wien gekommen. Denn in ihren Heimatländern steht die Wasserversorgung teils vor enormen Herausforderungen: veraltete Infrastruktur, hohe Verluste, fehlende Finanzierung, institutionelle Schwächen und die Auswirkungen des Klimawandels.
Dörfer ohne Leitungen
Nun stellen sie Werderitsch jede Menge Fragen, etwa: Wie wird das Wasser nachbehandelt? Es wird einmal gechlort. Wie viel Wasser geht auf dem Weg in die Stadt verloren? Rund zehn Prozent. Wie hoch ist der Druck in den Leitungen? Drei bis sechs bar. Diese Werte geben Auskunft über eine im internationalen Vergleich äußerst effiziente Wasserverteilung mit geringen Verlusten.
Einer der Zuhörer ist der Kirgise Arstanbek Muktarov. In seinem Land leitet er als Direktor ein von der Weltbank finanziertes Programm zum Ausbau der Trinkwasserversorgung und zur Verbesserung des Abwasserwesens. „Zu erfahren, wie in Wien die Wasserversorgung funktioniert, ist sehr nützlich für uns, um in unserem Heimatland Lösungen zu erarbeiten“, erklärt er. „Auch wir haben viele Berge in Kirgisistan und dadurch viel sauberes Wasser. Die große Herausforderung für uns ist die Distribution. Hunderte Dörfer sind noch gar nicht an die Wasserleitungen angeschlossen. Und wo es Leitungen gibt, müssen wir daran arbeiten, das Wasser sauber bis zu den Abnehmern zu transportieren“, erklärt er.
Derartige Herausforderungen sind auch genau der Grund, warum den Gästen die Wiener Wasserversorgung gezeigt wird, erklärt Raimund Mair. Er arbeitet für die Weltbank als Experte für Wasserressourcenmanagement und hat mit seinem Team die Zusammenkunft organisiert. „Wien hat international einen Sonderstatus bei der Wasserversorgung, weil hier Trinkwasser von höchster Qualität ankommt, nachdem es eine vergleichsweise große Distanz zurückgelegt hat. Damit bietet die hiesige Wasserversorgung ein sehr gutes Anschauungsmaterial für Länder, die sich gerade im Kapazitätsaufbau befinden“, sagt Mair.
Einen derartigen Kapazitätsaufbau zu fördern, ist eine der Kernaufgaben des erst kürzlich gegründeten und vom österreichischen Finanzministerium unterstützten Vienna Development Knowledge Center (siehe Kasten) der Weltbank. Deshalb veranstaltet es neben der Expedition zu Wiener Wasser auch ein Seminar, bei dem sich die Gäste aus Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und der Türkei austauschen können und Fachleute aus europäischen Ländern ihr Know-how über Organisations- und Regulierungsstrukturen im Wassersektor weitergeben. „Wir haben als Weltbank ein sehr ausgeprägtes Netzwerk von Experten und Länderbüros, und das nutzen wir bei solchen Seminaren“, betont Mair.

Veraltete Rohre
Die Teilnehmer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und der Türkei kommen aus Regierungsbehörden, sind Vertreter von Wasserversorgern oder arbeiten für örtliche Niederlassungen der Weltbank. Die Lagebeschreibungen der Experten aus dem Kaukasus und Zentralasien offenbaren, dass sich all diese Länder auch mehr als dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit noch nicht vom Erbe der Sowjetunion gelöst haben. Das beginnt schon damit, dass die Transformation der Institutionen noch nicht abgeschlossen ist, also noch immer am praktischen und legistischen Zusammenspiel von zentralen und regionalen Behörden und Wasserversorgern gearbeitet wird.
Dabei ist die Stärkung der institutionellen Basis für Mair der grundlegende Schritt für eine nachhaltige Wasserversorgung. Konkret bedeutet das: Regulierungslücken zu schließen, klare Zuständigkeiten für die einzelnen Institutionen festzulegen, die auch – da das Wasser nicht an der Grenze zu fließen aufhört – über die Landesgrenzen eng zusammenarbeiten sollen. Deshalb drängt die Weltbank bei von ihr finanzierten Projekten auch auf derartige Reformen. „Es reicht nicht, Infrastruktur zu errichten. Sie muss zudem gut gemanagt und – das ist im Wassersektor ganz wichtig – auch erhalten werden“, betont Mair.
Die Kanäle, Rohre und Bewässerungssysteme in den ehemaligen Sowjetrepubliken stammen großteils noch aus den 1960er und 70er Jahren und wurden seither nur stellenweise erneuert. Durch den Verschleiß sind Löcher und Risse entstanden, Dichtungen haben sich verformt, und der Druck in den Leitungen ist oft schwer zu regulieren. Die Folge ist ein immenser Wasserverlust, der in Zentralasien und im Kaukasus je nach Region von 30 bis hin zu 70 Prozent reichen kann.
Gleichzeitig muss teilweise auch noch grundlegende Infrastruktur errichtet werden: In Tadschikistan etwa sind derzeit nur 25 Prozent der Landbevölkerung an eine Leitung mit sauberem Wasser angeschlossen, auch in Kirgisistan sind es erst die Hälfte der Dörfer. Derartige Daten hat die Weltbank erst in der kürzlich veröffentlichten Studie “A Blueprint for Resilience: Charting a Course for Water Security in Europe and Central Asia”, von der Mair Mitautor ist, eruiert.
Kurz erklärt
Vienna Development Knowledge Center

Das Vienna Development Knowledge Center ist eine neue Plattform der Weltbank in Wien, das im März 2025 sein Programm aufgenommen hat. Es dient als Forum für politische Entscheidungsträger und Praktiker aus Entwicklungsländern in Europa und Zentralasien, sowie Vertreter von Universitäten oder dem Privatsektor, um Fachwissen auszutauschen und innovative Lösungen für dringende Entwicklungsherausforderungen zu erarbeiten. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten zählen neben der Wasserversorgung auch Urbanisierung, wirtschaftliche Governance und die Entwicklung des Humankapitals.
„Das Zentrum baut auf der starken Partnerschaft zwischen Österreich und der Weltbankgruppe auf“, betont Xiaoqing Yu, Leiterin des Büros der Weltbankgruppe in Wien. Zusätzlich zum Austausch von ‚Best Practices‘ und Entwicklungserfahrungen aus Österreich in relevanten Bereichen, greift das Zentrum auch auf die Ressourcen und das Wissen der Partner der Weltbankgruppe zurück, insbesondere der europäischen Kommission und anderer europäischer Institutionen.
Internationale Geber
Die Erneuerung der Infrastruktur wird dabei von einem Geflecht von internationalen Gebern unterstützt. Zu nennen sind hier neben der Weltbank etwa die Asian Development Bank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBRD oder nationale Entwicklungsagenturen. Verteilt auf Dutzende Projekte sanieren so die Länder über Förderungen und Kredite ihre Wasserversorgungssysteme.
Das bietet Chancen für internationale Firmen, deren Know-how bei der Implementierung der Projekte gefragt ist. So sieht sich etwa das österreichische Beratungs- und Ingenieur-Unternehmen Hydrophil als Vermittler zwischen den internationalen Gebern, die ihre Rahmenbedingungen definieren, und den lokalen Behörden vor Ort, mit denen die Projekte umgesetzt werden müssen.
Seit 20 Jahren ist die Wiener Firma in der Projektarbeit in Zentralasien tätig – bei ihren jüngsten Programmen in der Region implementiert sie etwa in Kirgisistan Infrastrukturprojekte in sieben Kleinstädten. Diese Projekte konzentrieren sich auf die Sanierung von städtischen Wasserversorgungs- und Abwassersystemen für mehr als 300.000 Einwohner und umfassen Investitionen in der Höhe von 36 Millionen Euro. Die Finanzierung erfolgt durch die Europäische Union im Rahmen der Investment Facility for Central Asia sowie die EBRD.
Ein weiterer österreichischer Player in Zentralasien ist das Innsbrucker Ingenieursbüro Posch & Partners, das aktuell in Usbekistan in der Region Siradryo den Bau und die Sanierung von Wasserversorgungssystemen begleitet. Die Durchführungsmaßnahmen umfassen 117 Brunnen, 121 Wassertürme und rund 474 Kilometer an Wasserleitungen. Zu den Leistungen von Posch & Partners zählen dabei unter anderem die Überprüfung einer bereits vorab durchgeführten Machbarkeitsstudie, die Ausführungsplanung sowie die Bauüberwachung.

Enorme Gelder notwendig
Schritt für Schritt, von Projekt zu Projekt soll so die Wasserversorgung verbessert werden: Die notwendigen Aufwendungen bleiben enorm und gehen in die Milliardenhöhe. Laut Weltbank müssten in den Ländern Zentralasiens (Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan) und des Südkaukasus (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) die Investitionen verdoppelt werden, sollen sie die UN-Nachhaltigkeitsziele zur Wasserversorgung – also die Sicherstellung der Verfügbarkeit und nachhaltigen Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für sämtliche Bürger – erreichen.
Absehbar ist, dass der finanzielle Druck auf die Länder steigen wird: Internationale Geber fahren ihre Mittel zurück – der Kurswechsel von US-Präsident Donald Trump wird sich auch auf Entwicklungsbanken niederschlagen, und auch zahlreiche europäische Staaten fahren ihre Entwicklungsbudgets zurück. Dies durch private Geber auszugleichen, ist schwer bis unmöglich, denn diese agieren zurückhaltend: Die veraltete Infrastruktur, die zersplitterte Tariflandschaft, die sich eine Vielzahl oft kleinräumig agierende Versorger aufteilen, schrumpfende Städte sowie unabsehbare Risiken wie Überschwemmungen – all das trübt die Aussicht von Investoren, ihre Kosten gewinnbringend einzuspielen.
Zumal auch die Tarife die Kosten für die Wasserversorgung nicht decken, wie die Manager aus Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan und Armenien bei dem Seminar in Wien klarmachten. „Weil die Tarife so niedrig sind, haben viele Betreiber entsprechend wenig in die Infrastruktur investiert“, berichtet etwa bei ihrem Vortrag Makka Shingaziyewa aus Kasachstan. In ihrem Land können deshalb die Betreiber in einzelnen Pilotprojekten die Tarife erhöhen, wenn sie gleichzeitig die Infrastruktur erneuern. Solche Maßnahmen sind aber nicht nur in Kasachstan oft unpopulär, weshalb die Politik oft versucht ist, Erhöhungen rückgängig zu machen.
Darüber hinaus gilt es, einen Ausgleich zu finden, der die Tarife einerseits sozial verträglich und andererseits hoch genug sein lässt, um technischen Fortschritt zu ermöglichen. Gleichzeitig zeigt sich aber auch: Sind die Tarife zu niedrig und bleiben gleichzeitig Subventionen aus, leidet die Endversorgung der Verbraucher (siehe Interview).
Interview mit Maria Salvetti, Weltbank
Haupteinnahmequelle sollten Tarife sein
Effizienzsteigerung
Das übergeordnete Ziel all der Maßnahmen ist Effizienzsteigerung. Diese ist auch wegen des Klimawandels dringend notwendig, erklärt Mair. Denn die sich verändernden Bedingungen sorgen dafür, dass auch in Zentralasien „die generelle Wasserverfügbarkeit abnimmt und die Saisonalität zunimmt“ erklärt Mair. „In manchen Regionen werden die Winter eher feuchter und die Sommer trockener. Aber gerade in diesen Monaten ist der Wasserbedarf besonders hoch, besonders in der Landwirtschaft.“
Generell kann kein Sektor – sei es die Industrie, die Landwirtschaft oder der Tourismus – ohne funktionierende Wasserversorgung gedeihen. Deshalb können sich Staaten hohe Wasserverluste aufgrund mangelnder Infrastruktur immer weniger leisten. Und „deshalb zahlen sich Investitionen in diesem Bereich langfristig aus“, betont Mair.
Kurz erklärt
Wiener Wasserwissen
In Wien fördert nicht nur die Weltbank das Wissen rund um Wasser, auch andere Institutionen widmen sich diesem Thema. So ist hier die 1948 gegründete internationale Donau-Kommission angesiedelt, die die Nutzung des Flusses durch die verschiedenen Staaten koordiniert. In den 1990er Jahren bildete sich dann – auch auf Betreiben der Stadt Wien – die International Association of Water Service Companies in the Danube Region (IAWD). Diese veranstaltet regelmäßig die Danube Water Conference und arbeitet ebenfalls eng mit der Weltbank zusammen, um ihre Expertise auch über die Donauregion hinaus weiterzugeben.