Von Eva Plank

Als der Schweizer Anwalt Jérôme Lapaire 2017 in einem Marktforschungsinstitut in Kenias Hauptstadt Nairobi arbeitete, fiel ihm etwas auf: Viele seiner Kolleginnen und Kollegen hatten Sehprobleme – doch kaum jemand trug eine Brille. Weder die Mitarbeiter, die den ganzen Tag auf den Computer starrten, noch der Fahrer seines Chefs. Auf Nachfrage stellte er fest, dass es nicht am fehlenden Bedarf lag, sondern an einer ganzen Reihe von Hindernissen. Die nächste Augenärztin war oft weit entfernt, die Anfahrt aufwändig, der Besuch teuer – und die Brillen kaum leistbar. Was ihn aber noch mehr schockierte: Den meisten war gar nicht bewusst, dass sie eine Korrektur brauchten – geschweige denn, welche Auswirkungen es haben kann, die Sehschwäche nicht zu behandeln.

 In Afrika südlich der Sahara bleiben laut WHO rund 80 Prozent der Kurzsichtigen unbehandelt, während es beispielsweise in Europa nur zehn Prozent sind. Dabei sind die Folgen laut WHO gravierend: Bei Kleinkindern beeinträchtigen unbehandelte Sehschwächen oft die motorische, sprachliche und soziale Entwicklung – mit Langzeitfolgen. Schulkindern erschweren sie etwa das Lesen an der Tafel, was oft zu geringeren Lernerfolgen führt. Erwachsene mit Sehbehinderungen sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und leiden vermehrt unter psychischen Belastungen wie Depressionen oder Angststörungen. Und im Alter steigt durch eingeschränktes Sehvermögen das Risiko für Verletzungen und die soziale Isolation.

Der Verein EinDollar-Brille passt seine Sehhilfen direkt im Anschluss an die Sehtests an.

Der Verein Ein-Dollar-Brille passt seine Sehhilfen direkt im Anschluss an die Sehtests an. 

Neuer Markt

Für Jérôme Lapaire war klar: Hier gibt es ein Problem – und eine Marktlücke. 2018 gründete er in Kenia eine Firma unter seinem französischen Namen Lapaire – der treffend „ein Paar“ bedeutet. Die Geschäftsidee: auf große Unternehmen zugehen, ihnen kostenlose Sehtests für Mitarbeiter am Arbeitsplatz anbieten und anschließend Brillen verkaufen. Die Kosten sollten die Firmen ganz oder zumindest teilweise übernehmen. Bald ersetzte Lapaire das zeitintensive B2B-Modell durch eigene Stores – zuerst in Kenia, dann auch außerhalb. Inzwischen gibt es mehr als 100 Filialen in Uganda, der Elfenbeinküste, Benin, Togo, Burkina Faso, Mali und seit Juni auch in Senegal und Tansania. Mit rund 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat Lapaire mehr als 600.000 Sehtests durchgeführt und an die 280.000 Menschen mit Brillen versorgt. 

Was sich seit der Gründung nicht verändert hat, ist der Preis: Eine Brille ist noch immer ab umgerechnet knapp 30 Euro zu haben. Die Fassungen – und teilweise auch die Gläser – bezieht Lapaire dabei von internationalen Lieferanten, beispielsweise aus der Türkei und China. Das Zuschneiden der Gläser und das Einsetzen in die Fassungen findet in eigenen und auch externen Werkstätten an den Lapaire-Standorten in den verschiedenen afrikanischen Ländern statt. Durch große Abnahmemengen und den exklusiven Verkauf der eigenen Marke kann das Unternehmen Skaleneffekte nutzen. 

Traditionelle Optiker hingegen importieren häufig teure internationale Markenprodukte in kleineren Mengen – was ihre Preise in die Höhe treibt. Diese beginnen meist ab 200 Euro. Da es an Konkurrenz mangelt, ist es den Anbietern möglich, diese Preise auch aufrecht zu halten. „Die klassischen Optiker waren anfangs sehr verunsichert. Sie dachten, wir würden den Markt mit unseren niedrigen Preisen zerstören“, sagt Josephine Amouroux, Head of Talents & Communications bei Lapaire. Doch sie betont, dass man eine ganz andere Zielgruppe anspreche – Menschen ohne Versicherung, aus der urbanen Mittelschicht, die sich bisher gar keine Brille leisten konnten: „Wir haben niemandem den Umsatz weggenommen. Wir haben einen neuen Markt eröffnet.“

Lokale Lösungen

Das ugandische Unternehmen Wazi Vision hat diesen großen Markt von Menschen, die sich bisher keine Brille leisten konnten, schon 2016 für sich entdeckt. Die Gründerinnen Brenda Katwesigye und Georgette Ochieng Ndabukiye vertreiben lokal entworfene und produzierte Brillen ab zehn US-Dollar. Materialien wie recyceltes Plastik aus selbst gesammelten und eingeschmolzenen Plastikflaschen, alte Jeansstoffe und vor allem Kuhhorn werden zu robusten Fassungen verarbeitet.

Grace Kansiime, Managing Director bei Wazi Vision, erzählt, dass ihr Unternehmen zunächst auf Skepsis stieß. Viele Leute zweifelten daran, dass eine ugandische Firma – noch dazu von zwei Frauen geführt – erfolgreich Brillen fertigen könne. Und auch heute seien viele Ortsansässige davon überzeugt, dass lokal produzierte Brillen weniger qualitativ sind als importierte aus Europa oder den USA. „Manche können es noch immer nicht glauben. Aber ja, auch in Uganda können wir etwas Schönes herstellen“, sagt Kansiime.

Das siebenköpfige Team produziert und verkauft seine Brillen im Flagshipstore in Ugandas Hauptstadt Kampala. Seit kurzem setzt das Unternehmen auch auf neue Vertriebswege: etwa auf seinen Onlineshop, mit dem auch der Export nach Europa gestärkt werden soll. Außerdem wird ein B2B-Geschäft aufgebaut, um Brillen über andere Optikgeschäfte vertreiben zu können. Zusätzlich kooperiert Wazi Vision mit einem Krankenhaus außerhalb der Stadt, um so auch Menschen zu erreichen, die sonst keinen Zugang zu Sehhilfen hätten.

Kansiime stellt jedoch klar: „Uns fehlen die Ressourcen, um tatsächlich die ‚last mile‘ zu gehen.“ Damit meint sie die Versorgung von entlegenen Gegenden mit Brillen. Mobile Einsätze in diesen Gebieten sind teuer und nur durch Partner realisierbar. Für eine mobile Sehtestaktion in Slums außerhalb Kampalas fand Wazi Vision beispielsweise eine Bank, die die Logistik finanzierte, während das Unternehmen das Untersuchungsteam stellte. Grace Kansiime weist auf die zentrale Rolle von Organisationen hin, die dort ansetzen, wo mangels Rentabilität noch kein Anbieter einen Markt für sich erschlossen hat. Eine solche Organisation ist der deutsche Verein EinDollarBrille. Gegründet wurde er vom Physiklehrer Martin Aufmuth mit dem Ziel, Menschen in armen und entlegenen Regionen mit robusten und erschwinglichen Brillen zu versorgen.

Sehtest in einer Filiale von Lapaire. Mit dem Angebot trägt die von einem Schweizer gegründete Firma dazu bei, eine Lücke in der Gesundheitsversorgung zu schließen.

Fertigung ohne Strom

Die Fassungen bestehen aus Federstahl und werden mit Hilfe von Biegemaschinen, ganz ohne Strom, gefertigt. Verkauft wird die Brille zu einem Preis in Höhe von zwei bis drei Tageslöhnen, was etwa in Malawi rund vier Euro sind. „Würden wir sie verschenken, würde sie jeder nehmen, ob er sie braucht oder nicht“, erklärt Aufmuth. Die reinen Materialkosten betragen weniger als einen Dollar – daher auch der Name des Vereins. Die tatsächlichen Gesamtkosten liegen jedoch bei rund zehn Euro pro Brille. Die Differenz wird durch Spenden ausgeglichen.

EinDollarBrille ist derzeit in elf Ländern weltweit aktiv. Insgesamt zählt der Verein rund 550 bezahlte Mitarbeitende in den Programmländern und zu Spitzenzeiten bis zu 300 Ehrenamtliche in Deutschland. In Subsahara-Afrika – wo der Verein in Kenia, Malawi, Burkina Faso und Liberia tätig ist – liegt der Fokus auf der mobilen Versorgung: Teams fahren in entlegene Dörfer, führen Sehtests durch und passen die Brillen im Anschluss daran an. 

Mit dabei haben sie eine Box voller Brillengläser jeder Sehstärke, die sie schnell in die Fassungen einsetzen können. Die Brillen sind nahezu unzerstörbar, staub- und wetterfest, was insbesondere in ländlichen Gegenden wichtig ist, wo eine Brille nicht so schnell repariert werden kann. 

Die Menschen, die EinDollarBrille anspricht, bleiben für Anbieter wie Lapaire und Wazi unerreichbar. „Sie können weder in die Stadt fahren noch sich eine Lapaire-Brille leisten“, sagt Aufmuth. Dem widerspricht auch die Lapaire-Vertreterin nicht: „Wir können den großen Teil der städtischen und stadtnahen Bevölkerung ansprechen.“ Gleichzeitig brauche man die Unterstützung von Non-Profit-Organisationen, die in entlegene Gebiete gehen.

Kurz erklärt

Prävalenz nimmt zu

In Afrika leiden Millionen Menschen an Kurz- und Weitsichtigkeit. Doch im Vergleich zu anderen Erdteilen ist der Anteil bisher noch relativ gering. So sind etwa 4 bis 7 Prozent der Schulkinder in Afrika kurzsichtig, sehen also schlecht in die Ferne. Das ergab eine im Jahr 2022 groß angelegte medizinische Studie, die auf Untersuchungen von mehr als 35.000 afrikanischen Schulkindern zurückgriff. Weitsichtigkeit, bei der man vor allem in der Nähe schlecht sieht, betrifft laut Untersuchungen etwa 2 bis 5 Prozent der afrikanischen Kinder. 

Zum Vergleich: In Europa oder Nordamerika ist etwa jedes zehnte Kind kurzsichtig. In Ostasien – zum Beispiel Südkorea – betrifft Kurzsichtigkeit 20 bis 30 Prozent der Kinder. Allerdings ist die Prävalenz von Kurz- und Weitsichtigkeit global im Steigen – und Afrika bildet dabei keine Ausnahme. Experten führen dies auf verschiedene Faktoren zurück, die oft mit einem veränderten Lebensstil vor allem in den Städten zusammenhängen, darunter erhöhte Bildschirmzeit und mangelnder Kontakt mit natürlichem Licht.

Leistbar und Schick: Wazi Vision vertreibt in Uganda lokal entworfene und produzierte Brillen ab zehn Dollar.

Teure Ausbildung

Natürlich erschwert auch der Mangel an medizinischem Fachpersonal die Versorgung. In Österreich kommen auf einen Augenarzt rund 9.000 Personen – in Subsahara-Afrika sind es laut WHO im Schnitt 500.000. Auch weiterhin werden zu wenige Augenfachleute ausgebildet, Optiker und geschultes Gesundheitspersonal eingeschlossen, wie Amouroux von Lapaire sagt. Ohne Fachkräfte gibt es aber weder Sehtests noch Brillenanpassungen, was wiederum das Wachstum der Anbieter limitiert.

Die Ausbildungen sind oft teuer und lang. Das schreckt viele potenzielle Interessenten ab. EinDollarBrille bietet deswegen Kurzschulungen an. In Burkina Faso wurde ein solches Schulungsprogramm sogar staatlich anerkannt. Dennoch bleibt der ländliche Raum unterversorgt. Ausgebildete Fachkräfte gehen nicht freiwillig aufs Land. „Es ist heiß, staubig, anstrengend – und man verdient dort nichts“, sagt Aufmuth.

Politische Hindernisse

Ein weiteres Hindernis sind politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. „In vielen Ländern sind die Regulierungen starr und wenig unterstützend gegenüber neuen Anbietern“, sagt Amouroux. Etablierte Player, die politisch gut vernetzt sind, wehren sich gegen neue, günstigere Konkurrenten – aus Angst um Marktanteile. Auch die öffentliche Finanzierung der Augenheilkunde ist fern von bedarfsorientiertem Denken. In Malawi etwa beträgt das jährliche Budget dafür gerade einmal 50.000 Euro.

Und das, obwohl Investitionen in diesem Bereich aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht eine immens positive Wirkung hätten. Der weltweite Produktivitätsverlust durch Sehschwächen liegt laut WHO bei rund 411 Milliarden US-Dollar, während nur 25 Milliarden notwendig wären, um die Versorgungslücke zu schließen. Staaten, die beim Zugang zu Sehhilfen sparen, zahlen also einen hohen Preis. Kurzsichtigkeit hat Folgen.

 
Fotos: Lapaire (2), EinDollarBrille/Martin Aufmuth